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Rezensionen 10. Mai

Foto: Ronny Ristok

Gera: Weinberg «Die Passagierin»

Am 17. und 19. Mai im Großen Haus

Zwei Jahre, 1960 und 1943, zwei Welten: Ozeandampfer und Konzentrationslager. Was unvereinbar scheint, verwebt Mieczysław  Weinberg in seiner Oper «Die Passagierin»: Die ehemalige SS-Aufseherin Lisa reist mit ihrem Ehemann Walter nach Südamerika, wo er eine Diplomaten-Stelle antreten soll. Sie traut ihren Augen nicht. Ist die Passagierin dort wirklich Martha? Für die Ermordung der KZ-Insassin hatte sie doch gesorgt. Die Vergangenheit holt Lisa ein.

In Gera hatte das 1968 komponierte Werk nun Premiere; es ist die vierte Inszenierung hierzulande. Passend dazu ist Theater & Philharmonie Thüringen kürzlich für ihr besonderes Programm von den deutschen Theaterverlagen ausgezeichnet worden. Regisseur Kay Kuntze und sein Bühnenbildner Martin Fischer erschaffen die beiden Welten mit einer doppelten Drehbühne. Die Schiffszenen finden an der Reling vor einer grellweißen Wand statt. Dreht sich diese, verliert sich die Helligkeit in schauderhaftem Zwielicht. Ein krasser Bruch: weiße Anzüge, Hochsteckfrisuren und Heiterkeit hier, dreckige Lumpen, kahlgeschorene Köpfe und größtes Leid dort. Durch Geländer und Reling verbinden sich die Paradoxe; Lisa, Gattin und machtbewusste Aufseherin, ist so, wie ihr Mann, stets präsent. Gegenüber Walter rechtfertigt sie ihre SS-Arbeit: Es waren Befehle damals, sie habe als ehrliche Deutsche nur ihre Pflicht getan, die Insassinnen hätten sie dafür gehasst. Selbst Martha – zu der sie so großzügig war – habe keine Dankbarkeit gezeigt. Lisas Selbstmitleid ist schwer zu ertragen. Annette Schönmüller lässt trotz oder gerade wegen ihrer Aufgebrachtheit und der Hochspannung ihrer Stimme Schuldgefühle in Lisa erkennen. János Ocsovai als Walter wirkt mit präsentem Tenor etwas unterspannt, ist eher artiger Ehemann als eigensinniger Karrierist, der in Lisas Vergangenheit vor allem seine Zukunft gefährdet sieht.

Einen tiefen Eindruck hinterlassen die Szenen in der Frauen-Baracke, für die Lisa zuständig ist. Es herrscht Solidarität, Mitgefühl. Tische dienen mal als Gefängnisbetten, mal als Proklamationsbühnen, auf denen die Frauen ihre Träume für die ihnen geraubte Zukunft ausrufen. Das trifft sehr, auch weil die Sängerinnen ihre Not so glaubhaft verkörpern, allen voran Anne Preuß als Martha. Stimmlich durchlebt sie die Emotionen mit ihrem substanzreichen, in allen Lagen und Lautstärken eindrücklich beherrschten Sopran.

Den Geiger Tadeusz, Marthas Geliebten, den sie nach zwei Jahren im Lager wiedertrifft, gibt Alejandro Lárraga Schleske als gebrochenen Mann; sein reich timbrierter Bariton fließt weich. Tadeusz muss dem Lagerkommandanten unter dem Blick der SS-Schergen dessen Lieblingswalzer vorspielen. Er setzt die Geige an. Doch dann musiziert er in der Stille Bachs Chaconne. Ein tiefer Moment des Innehaltens, eine Antwort auf die Unmenschlichkeit. Das Instrument wird ihm aus der Hand gerissen, er wird abgeführt, es ist klar, was kommt. Das Orchester übernimmt für ihn die Melodiestimme – bis sie zerfällt.

Weinberg schafft einen ganz eigenen, rhythmusbetonten Klangraum: verzahnte atonale Klangflächen, Jazzklänge, Folkloristisches – auch bis zum Verstummen zurückgenommen, intuitiv an der Szene. Die Musik als Gefühlsspiegel, Vorankünderin, Allwissende. Weinberg hat hier größte Kunst erschaffen. Über weite Strecken gelingt es der Philharmonie unter Laurent Wagner, das Besondere der Partitur auszugestalten. An mancher Stelle sollte es jedoch weniger ein Buchstabieren, ein Mehr an Extroversion sein. Die Brutalität, die Qualen sind der Partitur eben auch eingeschrieben.

Martha hat Auschwitz überlebt. Im Epilog spricht sie: «Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.» Eine Leinwand senkt sich, ein Abspann: Namen der in Auschwitz Ermordeten. Die Oper wird zur Realität. Ein Ende in stiller Trauer. Dieses Werk sollte auf jedem Spielplan stehen.   

Nora Sophie Kienast

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