
Rezensionen #3
Düsseldorf, Essen, Weimar

Minna Wündrich. Foto: Thomas Rabsch
Düsseldorf: Shakespeare «Der Kaufmann von Venedig»
Am 16., 30. und 31. März, 05., 12. April, Schauspielhaus im Central
Die Frage, ob Shylock gut oder böse ist, ist erledigt. Shakespeares «Kaufmann von Venedig» kann im deutschen Theater nur ein Stück über Antisemitismus sein, kein antisemitisches Stück. Also kann Shylock heute nur beides sein: gut und böse. So will es auch Roger Vontobels Düsseldorfer Inszenierung. Mehrdeutig will sie sein, eine «Gesellschaftsüberprüfung», so Dramaturg Robert Koall im Programmheft. Leider ist sie eindeutig.
Denn die Gegenseite ist zu schwach, um ein differenziertes Gesellschaftsbild zu bieten. Belmont ist zu sehr eine billig prunkende Glitzerwelt, ein utopisches Yuppieland mit einer alle überragenden Beautyqueen aka Portia. Shylock dagegen wird in seiner Widersprüchlichkeit gezeigt. Ein Geschäftsmann, kühl, sachlich, wenn nötig mit jovialem Humor und verbindlichen Umgangsformen. Und ein gefühlloser Vater, herzlos, streng und bitter, wo man ihn weich und nachgiebig erwartet hätte. Burghard Klaußner wird ein tanzendes Rumpelstilzchen, das vor Freude die Schuhe zusammenschlägt wie ein Kind, als er die Chance sieht, sich an Antonio für alle Beleidigungen und Benachteiligungen zu rächen, die er bisher nonchalant hingenommen hat. Seinen Monolog «Hat nicht ein Jude Augen … ?» beginnt er in gewohnter Zurückhaltung mit hängenden Händen. Aber dann kommt doch der lange Zeigefinger und schneidet durch die Luft. Er endet mit einem Kortnerschen «Raachee»-Gebrüll.
Auf der Gegenseite strahlt Minna Wündrich als Portia. Sie wechselt die funkelnden Kleider je nach Farbe der Kästchen und trifft auf Bassanio (Sebastian Tessenow) schließlich im tief ausgeschnittenen schwarzen Einteiler. Gegen diese machtbewusste Schönheit sind alle Männer nur kleine dumme Jungs. Sie ist viel zu klug für die dummdreiste Macho-Clique der venezianischen Rassisten und viel zu nett für die fiesen Tricks, mit denen sie dann Shylock erledigt. Vontobels so texttreue Inszenierung (in der Übersetzung von Elisabeth Plessen) bestätigt die These, ein sympathischer Shylock mache das Stück unzusammenhängend.
An Unterhaltungsmechanismen fehlt es nicht. Laufende Leuchtschriftzeilen über dem Bühnenquadrat (Bühne: Muriel Gerstner) geben mit englischen Originalzitaten Übertitel für jede Szene. Ein Gitarrist und ein Kontrabassist zupfen melodramatische Untermalung bei emotionalen Stellen. Es wird gesunden und getanzt, melancholisch oder aggressiv. Eine echte Überraschung aber ist dabei Jessica (Lou Strenger). Zunächst eine steife Jungfer im hochgeschlossenen Kinderkleid, befreit sie sich nach ihrer Flucht mit Lorenzo mit einem jiddischen Lied über «aundzer heylik libe» und steigert sich in einen wirbelnden Derwischtanz hinein. In Belmont passt sie sich dann im glitzernden Bustier der hier herrschenden Kitschmode an.
Antonio und Jessica wären die beiden Figuren, die die Belmont-Utopie in Frage stellen könnten. Jessica hat keine Freude an der süßen Belmont-Musik, und Antonio (Andreas Grothgar) muss – zwar gerettet vor Shylock – nun seinen Liebhaber Bassanio an Portia abgeben. Für Antonios Einsamkeit am Schluss findet die Inszenierung gar kein Bild, für Jessicas Desillusionierung immerhin ein schwaches. Ganz am Ende, als Portia, Bassanio und ihre Entourage schon mit einer albernen Polonaise abgerauscht sind, bleibt sie alleine, nun wieder zugeknöpft, auf der Bühne. Shylock steht, nachdem Portia ihm die Kippa als Zeichen der Zwangstaufe abgenommen hat, vor der schwarzen Wand am Bühnenrand, die Hände über dem Kopf zusammengelegt, um sein Haupt zu bedecken, Gesicht zur Wand, wie auf das Erschießungskommando wartend. Auf dieses auf den Holocaust voraus- und zurückdeutende Vaterbild geht Jessica zu, zögerlich, bevor das Licht erlischt.
Gerhard Preußer
Essen: Eisa Jocson «Princess»
Am 17., 18. März in der Zeche Zollverein, Halle 5
Zwei Figuren wiegen sich in den Hüften, ihre Hände sind erhoben, die Finger gespreizt. Sie tragen sonnengelbe Röcke und Schnallenschuhe zum schwarzen Pagenkopf. Sie lächeln kokett, flirten mit den Zuschauern, tippeln federleichten Schritts auf sie zu und brechen plötzlich in kieksende Munterkeit aus. Mit ihren grazilen Gesten, ihrer demonstrativen Großäugigkeit und ihrem bilderbuchhaften Kostüm erscheinen sie wie von einer anderen Welt. Was haarscharf zutrifft, denn sie sind Schneewittchen. Genauer: Walt Disneys Schneewittchen.
Die philippinische Tänzerin und Choreografin Eisa Jocson zerlegt in «Princess» lustvoll und unerbittlich jene Mythologie, die ihr Aufwachsen prägte: Schneewittchen steht für die Geschichten so schöner wie hilfloser Disney-Prinzessinnen, die unverschuldet in Schwierigkeiten geraten und auf einen Prinz warten, der sie errettet. Gemeinsam mit dem Performer Joshua Serafin hat Jocson sich Schneewittchens Bewegungsvokabular angeeignet, hat Gesten, Schritte und Mimik aus den Filmen kopiert, aber auch die Interaktion von Schneewittchen-Darstellerinnen in Disney-Land Hong Kong mit Besuchern beobachtet. So verdoppeln und loopen die zwei Schneewittchen auf der Bühne all die Zauberhaftigkeit und Zartheit und überzeichnen die Performance unschuldiger Mädchenhaftigkeit ins Groteske – bis das allzu Bekannte zum Unheimlichen wird.
In ihren künstlerischen Arbeiten eignet sich Jocson häufig popkulturelle Mythen und Phänomene an, sie studiert akribisch ihr Bewegungsvokabular und schafft daraus eigene Choreografien. Im Theater aufgeführt, verschiebt sich der Kontext und setzt Sehgewohnheiten aufs Spiel. Ihre Performances lösen das binäre Verhältnis von Subjekt und Objekt auf, von Schauendem und Angeschauten. Jocsons Performer bieten ihre Körper an und dar – doch sie sind auch diejenigen, die die Regeln des Spiels kennen. Der irritierte Zuschauer findet sich im Arm einer Prinzessin wieder. Die Performance rückt uns auf die Haut.
Esther Boldt

Foto: Anke Neugebauer
Weimar: C. P. E. Bach «Johannes-Passion»
Am 18. März im Großen Haus
«Johannes-Passion» von Carl Philipp Emanuel Bach – ein Druckfehler? Nein. Denn wie der Vater, so der Sohn. Dessen Passion geriet indes deutlich kleiner und kommt nicht nur aus eigener Herstellung: Sie ist auch Konglomerat von Werken unterschiedlicher Komponisten der Zeit. Von welchen genau, das ist, wenngleich der große JSB durchklingt, nicht aufgeklärt. Das Pasticcio war wohl dem enormen Pensum geschuldet, welches sein Schöpfer als Musikdirektor und Kantor am Johanneum in Hamburg abarbeiten musste. Lange wusste niemand von der Existenz der Partitur. Bis Kirill Karabits, GMD in Weimar, sie im Archiv des Berliner Singvereins wiederentdeckte.
Das gut einstündige Sakralwerk kam im Mai 2017 erstmals auf die Bühne des Deutschen Nationaltheaters. Ein ungewöhnlicher Zeitpunkt für eine Passion, doch der Kirchentag war auf dem Wege, auch in Weimar, der Geburtsstadt Carl Philipp Emanuel Bachs. Ebenfalls ungewöhnlich: die Leidensgeschichte Jesu im Theater. Regisseur Philipp Harnoncourt hebt ihre Dramatik hervor, bringt sie direkt vor unsere Augen. Welches Potenzial in diesem Werk steckt, wurde erst während der knappen Probenphase klar; ursprünglich war eine halbszenische Aufführung geplant.
Mit dem Zuschauerraum füllt sich zu Beginn auch die weit nach vorn reichende Bühne. Der Graben ist abgedeckt, die klein besetzte Staatskapelle sitzt etwas erhöht hinter dem Geschehen. Die Choristen, in Alltagskleidung, nehmen an einer langen Tafel mit brennenden Kerzen und Blumenvasen Platz. Dann wird es dunkel. Doch es ist nicht der erste Choral zu hören. Stattdessen beschreiben einige Chorsänger ihr ganz persönliches Glück: Für den einen ist das, wenn die Familie beisammensitzt, für den anderen ein Stück Schokolade, das im Munde schmilzt. Adressat ist das Publikum: Was bedeutet für mich Glück? Was ist meine Passion? Harnoncourt greift später erneut in das Stück ein, nach Jesu Tod am Kreuz, wenn die Choristen von individuellem Leid erzählen, vom Verlust wichtiger Menschen. Die Passion, sie hat zwei Gesichter.
Doch auch ohne diese Ansprachen gelingt es dem Regisseur, Intensität herzustellen, die Menschen im Saal schaudern zu lassen über (un-)menschliches Verhalten. Wenn etwa der homogen klingende, beredt phrasierende Chor Pilatus gierig-gaffend gleichsam anschreit, Jesus ans Kreuz zu nageln, kann einem schon anders werden, wird die Stärke einer szenischen Aufführung von Passionen offenkundig: Aus dem kirchlich Göttlichen entsteht theatral Menschliches.
Das trifft, wiewohl man dieser Produktion das Provisorische anmerkt, auch deswegen, weil das gesamte Ensemble schauspielerisch stark ist und Emotionen überträgt. Thaisen Rusch führt als Evangelist mit hell-stabilem Tenor sowie deutlicher Artikulation und bezwingender Darstellung durch die Geschichte, Daeyoung Kim gestaltet seine Arien projektionsstark, wenngleich ihn manchmal die Gefühle zu übermannen scheinen, das Forte ins Brachiale kippt. Die Staatskapelle hat es mitunter schwer durchzukommen. Ihr großer Moment entsteht am Ende des Werkes, wenn auf dunkler Bühne nurmehr die Kerzen brennen: Da erklingt das Orchester allein, die Musik fließt, vibratoarm, schlicht. Es bleiben Ergriffenheit und Stille. Zumindest für einen Augenblick.
Nora Sophie Kienast