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Rezensionen #2

Berlin, Düsseldorf, Osnabrück, Wien

Berlin: Strauss «Salome»

Am 10., 14. und 17. März in der Staatsoper

Ein Bild. Nicht aber eins für die Götter. Eher für Skeptiker der heiligen Institution Familie. Links der Stiefvater. Ein Tetrarch mit schmierig-gierigem Kindergesicht, der, sehr zum Leidwesen seiner schier versteinerten Glitzerkleidgattin, die ganze Zeit deren Tochter angafft (und dafür von ihr beharrlich eins auf die Pfoten bekommt, der Widerling). Sie, die objektgewordene Prinzessin, noch im schwarzen Reifrock und mit Glitzerkrönchen auf dem gelgescheitelten Charleston-Haar, gibt jenen «grimmigen Gletscher», als den Stéphane Mallarmé sie 1896 in seiner «Hérodiade» bedichtete. Das blumige Poem gibt uns gleich einen wichtigen Hinweis an die Hand, umkreist es doch thematisch jene Panik, von der die Jungfrau ergriffen wird, sobald sie des (sie begehrenden) Mannes ansichtig wird. Von Freiheit, zumal in ihrer vielleicht schönsten, sprich sexuellen Form, keine Spur.

Allein, zum Stück passt es. Salome ist keine Komödie über erotische Vergiftung aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit, sondern ein von Hitzewallungen übermanntes Fin-de-Siècle-Drama über Obsessionen. Dass es nebenbei auch noch ein Drama über religiöses Eiferertum ist, tut hier wenig zur Sache, weil Regisseur Hans Neuenfels sich dafür entschieden hat, diesen Aspekt auszublenden. Er versteht das Stück als eine moralfreie Parabel. Und als einen «aufbegehrenden Zustand».

Schon die Bühne ist ein Aufbegehren. Und zwar eines gegen jede Form von Ästhetik (weswegen jene Geister, die hier leicht angewidert Geschmacklosigkeit attestierten, auf der ersten Ebene Recht haben, aber eben nur auf der ersten). Reinhard von der Thannen hat seinem langjährigen Verbündeten Neuenfels eine Halle auf die Bretter gesetzt, die man mit etwas Fantasie als den ausgeschlachteten Rumpf eines riesigen Schiffes deuten kann. Mit scharf-steilen Bögen, die ins Dunkel führen, mit einem glatten, schwarz-weiß gemusterten Parkett und mit einigen unbequemen Stühlen; aber irgendwo müssen sie ja sitzen, die Protagonisten dieses Weltentwurfs, so sie nicht die ganze Zeit stehen sollen. Also hocken sie da, wachsfigurengleich, wie schockgefroren, und können (oder wollen) aus ihrer steifen Haut nicht heraus.

Was in gewissem Sinne auch für den armen Jochanaan gilt. Seine Behausung aber entwächst eher der Sphäre der Raumfahrt. Eine Kapsel ist es, Neuenfels nennt sie, nicht ohne literarische Doppelbödigkeit, die «Rakete der Empörung». Was auch immer das meinen will, wo doch das Ganze moralfrei sein soll. Aber egal. Es hat vor, während und nach der Premiere erstaunlicherweise viel pharisäerhaftes Gerede um dieses etwas hässliche, als-ob-metallene Ungetüm gegeben; dies sei aus akustischen Gründen (?) sogar Anlass für die Abreise des Dirigenten Christoph von Dohnányi gewesen.

Nur fragt man sich, wenn man es sieht: warum eigentlich diese Aufregung? Es ist eine Kapsel, in der ein Prophet steckt, dessen Philippiken und (wahre) Weissagungen insbesondere Herodias nicht hören will, weil sie darin heftig als babylonische Hure beschimpft wird. Eine Kapsel, wir wissen es, dichtet ab. Verengt die Perspektive. Kreiert Ruhebereiche (wie in den Waggons der Deutschen Bahn, nur ohne Mobiltelefone). Schafft ein Vakuum. Dass eine solche Kapsel, Rakete hin, Empörung her, phallische Qualitäten aufweist, nun ja, wer wollte sich darüber ernsthaft noch aufregen! Außerdem stimmt das Bild, wenn man es als Allusion, als Anklang sieht – und ein bisschen auch als hübsch-heitere, eine Spur zynische Einlassung seitens des Ausstatters.

Zurück zum Eigentlichen. Nicht zum ersten Mal vermeidet Neuenfels durch das Bühnenbild, das er sich bauen lässt, Atmosphäre, Stimmung, gar Wärme. Er sucht nach den (nackten, abstrakten) Wahrheiten dahinter. Das mag im Fall der «Salome» hier und da etwas verkrampft über die Rampe kommen, vor allem im Schleiertanz, aber es führt uns, die Zuschauer, hin zum Kern der Idee, die hier doch einigermaßen konsequent verfolgt wird. Und die zeigt uns eine Prinzessin, die ihren Status nach der oben beschriebenen Eröffnungsszene längst aufgegeben hat. Wir erleben ein hochgradig neurotisches, androgynes Wesen, das sich der gegen sie ausgeübten Grausamkeiten erwehrt, indem es in den Modus einer (bürgerlichen) Existenz auf Störung und Störrischsein schaltet. Eine Widerspenstige, die nicht zu zähmen ist.

Kaum eine Sängerin wäre für diese Partie geeigneter als die begnadete Darstellerin Ausrine Stundyte. Die Litauerin ist als Salome gewissermaßen das Gegenmodell zur üppigen Wohlklangschönheit Jessye Normans: Der Klang ihrer Stimme gleicht einem kalten Messer, die Linien sind hart gezeichnet, in der Höhe tendiert ihr Sopran ins Kalt-Schrille. Doch genau das korreliert mit der Figur, die sie an diesem Abend sein soll – und die sie mit großem Können spielt. Neuenfels' Salome ist keine verwöhnte Lolita, kein dämonisch-diabolisches Weib, kein Flittchen. Sie ist ein (ins Autistische tendierender) Mensch, der aus der Zelle hinauswill, in die ihn die Konventionen eingesperrt haben; ob Frau oder Mann, spielt absolut keine Rolle, hier ist Grundsätzlicheres gemeint.

Doch Salomes Aufstand ist nicht offensiv. Er ist obstruktiv. Was ein beträchtlicher Unterschied auch für diejenigen ist, die ihm ausgesetzt werden. Herodes, das Glotzgesicht mit den dick-verquollenen Augen, weiß sich dieser Form von Widerstand nicht zu erwehren. Er fällt vor falscher Begierde in sich zusammen wie ein Souffle, er wird zum Säugling, der nach Muttis Brust schreit, die er aber von der einen Frau (Salome) nicht kriegt und von der anderen Frau (Herodias) nicht will. Vokal gesehen ist das, was Gerhard Siegel hier vollbringt, eine Wucht. Sein Tenor besitzt zementenen Halt, eine kräftige Mittellage und kernige Höhen. Chapeau!

Nicht minder exzellent der Jochanaan von Thomas J. Mayer. Er singt zwar auf der Bühne, sein Bariton aber scheint der Zisterne, die hier nicht zu sehen ist, zu entströmen, so gehaltvoll und tiefgründig klingt diese Stimme. Ebenfalls. Chapeau! Das dritte Chapeau auf Seiten der Männergesangsriege gebührt dem jungen Nikolai Schukoff als Syrer-Hauptmann. Zum Glück für uns alle verzichtet Neuenfels auf jedwede blanke Aktualisierung. Sein Narraboth ist der (mit einem roten Turban bewehrte) Schwärmer, der er auch im Stück von Oscar Wilde (dort allerdings namenlos) und im Musikdrama von Strauss ist.

Womit wir langsam, aber sicher bei den Problemfällen angelangt wären. Einer davon geht klar auf das Konto des Regisseurs. Die arme Marina Prudenskaya sieht sich die meiste Zeit dazu verdonnert, nicht mehr zu tun, als auf dem Parkett zu stehen und sich hilflos an einen der Stühle zu klammern. Mit ihr kann Neuenfels – sieht man von den Patschehändchen am Anfang und dem hyperpathetischen Zusammenbruch am Ende ab – scheinbar gar nichts anfangen. Leider weiß auch die Sängerin wenig mit ihrer Partie anzufangen. Ihr Mezzo wirkt künstlich aufgebläht, ist nicht eben textverständlich und – so hart es klingen mag – letztlich konturlos.

Es wird sie nicht trösten, dass es einer Figur, die im Stück eigentlich gar nicht vorkommt, weder bei Oscar Wilde noch bei Strauss, kaum besser ergeht. Was auch immer Neuenfels bewogen haben mag, den britischen Dichter höchstselbst als einen silberhodenbehängten Advocatus Diaboli auf die Szene zu beordern, dem Verständnis hilft es – trotz eifrigen Bemühens seitens des Teams, das Ganze für die artigen Programmheftleser zu erklären – wenig weiter. Oscar Wilde stört. Nicht der Dichter. Sondern die Figur, die er in der Lindenoper ist. Er stört, wenn er an Salomes Seite deren Disput mit dem Propheten kommentiert; er stört, wenn er, einen gelb-giftigen Stachel auf dem Rücken, den Schleiertanz als Pas de deux de la mort mit ihr tanzt; er stört, wenn sie mit den 42 abgeschlagenen Köpfen des Jochanaan sich ins Benehmen setzt (will sagen: den Mund des Propheten zu küssen versucht), die auf einem Friedhofsacker-Geviert hereingefahren kommen zur finalen Szene. Mit einem Wort: Er stört als theatrale Erfindung. Das Stück braucht ihn nicht, und wir brauchen ihn auch nicht.

Was die Produktion nach der plötzlichen Abreise des Dirigenten Christoph von Dohnányi brauchte, war ein Dirigent, der das Wagnis eingehen würde, ihn zu ersetzen (als Grund für die vorzeitige Demission wurden, man glaubt es kaum, «künstlerische Differenzen» mit Neuenfels angegeben). Thomas Guggeis, Barenboims Noch-Assistent, der die «Salome»-Proben begleitet hatte, tat es. Und dies mit einigem Gewinn. Zwar neigt seine in sich schlüssig-couragierte Lesart hier und da zu einem dynamischen Chiaroscuro-Denken (was seltsamerweise zum Bühnenbild passt), das die verwundeten Enden dieser Nervenkontrapunktik zu wenig in den Blick nimmt, und geraten einige orchestrale Massierungen allzu ungeschlacht. Dennoch beweist der 24-Jährige, den sich die Staatsoper Stuttgart ab der kommenden Saison als Kapellmeister geschnappt hat, ein Talent für Spannungsbögen und vor allem für die Modernität dieser Partitur am Rande der Tonalität und der Hysterie.

Und bedenkt man es bei Lichte, geht der alte Meister Strauss dann doch wieder als Sieger vom Platz. Die Musik ist einfach stärker als das Konzept, das Neuenfels ihr einschreibt. Weil sie ursprünglicher ist. Weil ihre narrativen Energien größer sind. Und weil sie auf theoretische, dramaturgische, psychoanalytische Module schlichtweg verzichtet. Diese «entfesselte Arabeske» (Adorno) ist, und diese Gewissheit nehmen wir mit ins Dunkel, mehr als andere Musikdramen, selbst schon Theater.

Jürgen Otten 

https://www.staatsoper-berlin.de/de/veranstaltungen/salome.96/

Berlin: Susanne Kennedy nach Jeffrey Eugenides «Die Selbstmord-Schwestern»

Am 15. , 17. und 18. März an der Volksbühne

Der Wunsch zu sterben kann aus einer kaputten Liebe herrühren oder aus verlorener Hoffnung auf Liebe, nur selten kommt er der Liebe und der Hoffnung zuvor, wie bei den fünf Teenager-Töchtern einer puritanischen Bilderbuchfamilie in Jeffrey Eugenides’ tiefschwarzem Romandebüt aus dem Jahr 1993 «Die Selbstmord-Schwestern», die allesamt in der Blüte ihrer Pubertät aus einer rätselhaften Schwärmerei heraus den Freitod wählen.

An dieser in den 1970ern angesiedelten und zwischen puritanischer Depression und morbiden Pubertätsfantasien oszillierenden Vorstadt-Teenager-Tragödie interessiert Susanne Kennedy erwartungsgemäß nicht das klaustrophobische Familienidyll oder die Kritik an religiöser Erziehungspraxis in amerikanischen Kleinstädten, sondern viel eher die eigensinnige Neugier, mit der die Schwestern ihr Todesprojekt vorantreiben. Mag bei Eugenides die bigotte Bunkermentalität der Eltern zur Weltflucht der Töchter beigetragen haben, als ausweglos stellt sich ihre Lage auch im Roman keineswegs dar, zumal eine Gruppe gleichaltriger Nachbarsjungen, zu ritterlichem Rettungseinsatz allzeit bereit, nur darauf wartet, jedem Lockruf der Angebeteten unverzüglich Folge zu leisten. Umso traumatischer, fast als narzisstische Kränkung erscheint da den inzwischen erwachsenen Männern noch immer der schlichte Egoismus, mit dem die Mädchen sich damals über das Werben ihrer Verehrer hinwegsetzten, sie als Verbündete nie ernsthaft in Betracht zogen, ja geradezu übersahen.

Aus der Erinnerungsperspektive der ratlos Zurückgelassenen, die Relikte der Verstorbenen wie verfilzte Haarbürsten, Schminksachen und Wäschestücke noch immer reliquienhaft verehren, beschwört der Roman die Aura der Selbstmord-Schwestern als unwiederbringliche, vom späteren Leben nie eingelöste erotische Verheißung. Hier setzt auch Kennedy an, indem sie die Erotik allerdings nur beiläufig mitschwingen lässt, dafür aber die kamikazehafte Entschlossenheit der Mädchen und die naive Schwärmerei der Jungen zu einer menschlichen Grunddisposition der Neugier gegenüber der Ungeheuerlichkeit des Todes zusammenführt. Dafür schließt sie Triviales mit Mystischem, Heiliges mit Groteskem unmittelbar kurz und setzt Theater als insgesamt wohltuend säkulares Forschungsinstrument ein.

Bühnenbildnerin Lena Newton hat ihr dazu einen hybriden Heiligenschrein mit wuchernden Plastikpflanzenarrangements, zerstückelten Votivtafeln und vielen blinkenden Monitoren gezimmert. Von einem davon lädt der als kahlköpfige Avatarin reinkarnierte Drogenguru Timothy Leary mit verrauschter Computerstimme zu einer Reise «out of your mind» ein und empfiehlt dazu als Grundhaltung «an attitude of joyous acceptance», denn «the goal of this trip is ecstasy!», was mangels mitgereichter Substanzen im Theater nicht so wörtlich genommen werden darf.

Trotzdem ist der unideologische Umgang mit gesampelten Erlösungskonzepten von inspirierendem Charme. In anderen Fächern des Schreins kauern lebensgroße Puppenwesen mit weißen Nachthemden und großen Kugelköpfen, die aufgemalten Kulleraugen weit aufgerissen und mit Blumenketten und drolligen Wollpuscheln bekränzt. Kostüm wäre ein zu schwacher Begriff für das, was Teresa Vergho da aus einer Mischung fernöstlich-südamerikanischer Volks- und Subkultur-Zitate geschaffen hat, so etwas wie sanfte Transitgeister, die den Bardo, jenen Übergangsraum zwischen Tod und Wiedergeburt, bevölkern, von dem das ebenfalls intensiv mit eingeflossene Tibetische Totenbuch so ausführlich spricht, als könne man sich mit einem versierten Reiseführer darin bewegen wie durch eine abenteuerliche Landschaft.

Während im Hintergrund aufgebahrt eine nackte Mädchenleiche mit seltsam alt wirkendem Gesicht Schauer und Schönheit des vergänglichen Körpers zelebriert, ist bei den Spielern diesmal kein Zentimeter Haut oder Haar mehr sichtbar. Dass in den Puppen Männer – die Schauspieler Hassan Akkouch, Walter Hess, Christian Löber und Damian Rebgetz – stecken, merkt man erst beim Applaus, denn auch die ohnehin elektronisch verfremdeten Stimmen, mit denen sie sich Zeilen aus dem Roman oder Trivia über Kirsten Dunst, Filmidol und Hauptdarstellerin aus Sofia Coppolas Verfilmung, zuwerfen, wechseln ständig die geschlechtliche Konnotation.

Nur Ingmar Thilo darf zum Schluss als mädchenhaft-erleuchtet in sich hinein grinsender Greis Gesicht und graue Locken zeigen, was zu diesem Zeitpunkt auf den Betrachter fast indezent wirkt. Zuvor haben die fünf Zwischenwesen bei ihren Sterbevorbereitungen sich schon mal probeweise aufgebahrt oder wie Sufi-Mönche in eine Trance gekreiselt, aus der eines sich richtiggehend wieder herauskotzen darf. Echte Mädchen gibt es in diesem quietschbunten Totenkult-Medley sogar auch – die auf den eingespielten Youtube-Filmchen allerdings besonders zombiehaft erscheinen, wenn sie in ihren rosa Kinderzimmern altkluge Schminktipps für ihre Follower produzieren und dabei hemmungslos um Aufmerksamkeit betteln.

In vielem macht sich Kennedy diese seltsame Mischung aus Ernst, Albernheit und tabuloser Neugier zu eigen, mit der Kinder versuchen, sich einen Zugriff auf die Welt zu verschaffen, wenn noch nicht alle Koordinaten des Bewusstseinsbildungsapparats fest programmiert sind. Und da zeigt sie sich auch diesmal wieder als genuine Theaterkünstlerin, die ihr Medium nicht zur Bebilderung oder Erläuterung sogenannter «Verhältnisse», sondern zur Komposition eigener hybrider Visionen einsetzt, die das gewohnte Wirklichkeitserleben durchaus befreiend erschüttern können – wobei hilfreich ist, dass die gerade grassierende Immersionspraxis hier mal wieder durchbrochen wird, sodass jeder Zuschauer in entspannter Beobachterposition und übersichtlicher Distanz zum Guckkasten dem Spiel vom Sterben beiwohnen kann, ohne befürchten zu müssen, bei einer fingierten Guru-Gehirnwäsche dem Schauspieler positives Feedback geben zu müssen.

Ob die Inszenierung jetzt an der Berliner Volksbühne, wo die Koproduktion mit den Kammerspielen fast ein Jahr nach der Münchner Premiere zu sehen ist, als Einladung zum lustvollen Loslassen – «die consciously!» – oder als Affront aufgenommen wird, ist schwer abzusehen. Als spielerisches Übergangsritual könnte sie durchaus über das Schlimmste hinweghelfen.

Silvia Stammen

https://www.volksbuehne.berlin/de/programm/792/die-selbstmord-schwestern

Düsseldorf: Wagner: «Die Walküre»

Am 11., 25., 31. März im Opernhaus

Die Vorgeschichte dieses Abends liegt neun Jahre zurück. Im Mai 2009 hatte am Aalto-Theater in Essen Richard Wagners «Walküre» Premiere – Dietrich W. Hilsdorfs zweite Wagner-Regie. Teil eines von vier Regisseuren übernommenen «Ring des Nibelungen». Das schmeckte natürlich nach einem Wiederaufguss des «Stuttgarter Modells» von 2002/03, der in Essen (mit Ausnahme von Tilman Knabes bitterbösem «Rheingold») leider nicht annähernd die Originalität und darstellerische Grandezza des Vorbilds erreichte. Für den neuen «Ring» an der Deutschen Oper am Rhein kehrte man denn auch zum Ein-Mann-Regietheater zurück und engagierte Hilsdorf als Spielmacher – einen Mann, der seit Jahrzehnten an Rhein und Ruhr inszeniert und einmal zu den Protagonisten eines sozialkritisch-provokanten, schauspielerisch durchgefeilten Musiktheaters gehörte.

Dem eher spielerischen «Rheingold»-Vorabend, von dem ein Varietéportal mit bunten Glühbirnchen als sentimentale Erinnerung übrigblieb, folgte jetzt das nachtschwarze Untergangs-Panorama der «Walküre» – im Großen ein Déjà-vu der Essener Version, die Hilsdorf aber zusammen mit seinen vertrauten Mitarbeitern Dieter Richter (Bühne) und Renate Schmitzer (Kostüme) in Details verändert hat. Diesmal zeigt der Einheitsraum nicht mehr einen kriegsversehrten Führerpalast vom Typ Neue Reichskanzlei, sondern eher Wotans letzte Rückzugsgebiete vor einer Welt, die er gerade selbst in den Abgrund reitet. Dabei gibt der historische Bunkerkomplex «Wolfsschanze» in den masurischen Wäldern Anlass für mancherlei Assoziationen an Adolf Hitlers Spitznamen «Wolf» oder Wotans Decknamen «Wolfe», unter dem er, fern der Ehefrau Fricka, das Wälsungenpaar Sieglinde und Siegmund gezeugt hat.

Die arg lädierte Halle, in der ein verkohlter Baumstamm samt Zauberschwert aufragt, ist mit Relikten großbürgerlicher Gemütlichkeit eingerichtet, Stühle und Plüschsofa umgeben eine Tafel mit Kristallgläsern, aus denen, vorzugsweise in Stressmomenten, reichlich Rotwein gekippt wird. Hier verfällt sich im ersten Aufzug das Wälsungenpaar und tauscht auf dem Höhepunkt geschwisterlicher Vereinigungssehnsucht die Kleider (ein eher komischer als magischer Moment). Hier wird der Ehebrecher Wotan von Fricka vor versammelter Kinderschar – auch Siegmund und Sieglinde sind zugegen – zusammengestaucht. Und hier stürzt im Schlussakt nach höllisch knatterndem Rotorenlärm im Zuschauersaal ein amerikanischer Hubschrauber ab, dem zum Walkürenritt tote Soldaten entsteigen – eine verkrampfte Anspielung auf Coppolas Vietnamkriegsfilm «Apocalypse Now».

Die Welt als irgendwie faschistischer Unrechtsstaat mit Gruselfaktor, Wotan als panischer Diktator im Militärmantel, sein Clan als todgeweihte Lemuren im Bunker – ist im Jahr 2018 wirklich nicht mehr drin als diese abgegriffene Wagner-Zeichen-Welt? Zwar hat Hilsdorf sein Handwerk nicht vergessen. Und wenn der von Simon Neal nuanciert und wunderbar textverständlich gesungene Wotan im dritten Aufzug seiner Tochter Brünnhilde die patriarchalischen Leviten liest, dann entfaltet sich ein packendes Spiel aus Demut und Dominanz, Ratio und Rebellion. Den folgenden Theatercoup aber, mit dem Wotan die verstoßene Walküre durch schützende Flammen umgeben soll, verbannt die Regie harmlos in den Hintergrund. So wie hier köcheln viele Szenen nur auf halber Flamme – von der dramatisch verschenkten Dreierkonstellation der Wälsungen mit Hunding (Sami Luttinen) über die kraftlose Schwertgewinnung bis zur verzettelten Choreografie des Walkürenritts.

Derweil forschte Axel Kober, Musikchef an der Rheinoper in Düsseldorf, zusammen mit den brillant aufgelegten Düsseldorfer Symphonikern nach den Feinheiten der Partitur. Kobers Wagner will nicht überwältigen, sondern vor allem plastisch sein, Linien herausarbeiten, dem Orchester Raum zum Musizieren geben. Dass er dabei die grandiose Fallhöhe zwischen dem intimen Kammerspiel am Beginn und der Grand opéra im Finale verringert, ist hinnehmbar – zumal von den Sängern, die mit Gefühl begleitet und nur selten übertönt werden.

Eine Überraschung war sicher Corby Welch, der sich als Ensemblemitglied kontinuierlich vom Mozart-Tenor zum Siegmund entwickelt hat: Das einnehmende, blumige Timbre ist geblieben, die Kraft hinzugekommen, auch wenn die «Wälse»-Rufe in der Premiere etwas unentschlossen tönten. Ähnlich rollenspezifisch die Sieglinde von Elisabet Strid: intensiv und tonschön, rund und fest in der Tongebung, leuchtkräftig in der Höhe. Zusammen mit der verlässlichen, konditionsstarken Brünnhilde von Linda Watson und einer gut abgestimmten Walkürentruppe hat Düsseldorf ein sehr hörenswertes Wagner-Ensemble auf die Beine gestellt.

Michael Struck-Schloen

https://www.operamrhein.de/de_DE/repertoire/die-walkuere.1123477

Osnabrück: de Candia «Unter einem Himmel»

Am 14., 16., 22., 27. März, 12. April im Theater am Domhof

Die Macht der Klänge unterschiedlicher Stile und Kulturen hat den Osnabrücker Tanzchef Mauro de Candia zu seinem neuesten Werk inspiriert. «Unter einem Himmel» heißt der dreiteilige Tanzabend, der als Reise zu verschiedenen Stationen angelegt ist. Der Fokus liegt auf Kontrasten – musikalisch wie choreografisch. Das Ganze ist ebenso unterhaltsam wie dramaturgisch geschickt arrangiert. Eine «Reisende» (Saskia de Vries) sorgt pantomimisch, wortreich und immer ein wenig skurril für die Überbrückung der Umbaupausen. Zudem führt sie das Publikum von einer Etappe zur nächsten und knüpft so die Verbindung zwischen der Welt des Zuschauers und der Welt des Theaters.

«Branco» heißt die erste Station, das italienische Wort für Herde. Und wie eine Herde agieren die Tänzer auf der leeren Bühne. In uniformes Blau gekleidet, finden sie zusammen und stieben wieder auseinander. Alles ist ununterbrochen in Bewegung, mal ekstatisch schnell, mal zeitlupenartig, aber immer getrieben von den aufwühlenden Geigenklängen des serbischen Komponisten Félix Lajkó, die zwischen jagend und klagend das Tempo extrem variieren.

In krassem Gegensatz dazu steht anschließend «In Transit», das Keith Jarretts berühmtes «Köln Concert» von 1975 aufgreift. Dieses Meisterwerk spontaner Improvisation spiegelt sich in einer Choreografie, in der jeder seinen eigenen Tanz zu tanzen, seinen eigenen Zugang zu der virtuosen Klaviermusik zu suchen scheint. So individuell wie die Bewegungen sind die Kostüme, Shirts und Hosen, die sich farblich voneinander absetzen. Keiner gleicht hier dem anderen. Mitunter ist Bewegung indes kaum auszumachen. Fast quälend langsam und wie zufällig entwickeln sich minimalistische Regungen – da kommen einzelne Tänzer minutenlang zum Stillstand, dort verändern andere beinahe unmerklich ihre Position.

Die dritte Station wird in urigen Propellerhüten und gelben Socken angesteuert, was signalisiert: Jetzt wird es schräg. «Pachuco» spielt auf Jugendbanden aus den Südstaaten der USA an und macht die Eigenwilligkeit zum Programm. Zum Evergreen-Sammelsurium von Benny Goodman bis Mikis Theodorakis nimmt de Candia alle kulturellen Klischees genüsslich aufs Korn. Den neapolitanischen Schmachtfetzen «O sole mio» setzt der gebürtige Italiener mit Sinn fürs Absurde um. Das Groteske dominiert – in akkurater tänzerischer Perfektion, die dem zehnköpfigen Ensemble ein Höchstmaß an körperlichem Einsatz abverlangt. Die Posen sind überraschend, ironisch, bisweilen albern, aber immer stimmig. An diesem Reise-Finale haben Choreograf und Kompanie sichtlich Spaß gehabt.

Kirsten Pötzke

http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?stid=338&auid

Wien: Ferdinand Schmalz «jedermann (stirbt)»

Am 17. und 21. März, 19., 21. und 29. April im Burgtheater

Ferdinand Schmalz hat es in seiner Überschreibung von Hugo von Hofmannsthals heiliger Salzburger Cashcow in unseren modernen Zeiten einfacher und zugleich schwerer, die alte Geschichte vom Leben und Sterben des reichen Mannes neu zu erzählen. Einfacher, weil sich die Karrierephase eines erfolgreichen Geschäftsmanns in Olaf Altmanns monumentaler Metaphern-Bühne in einen Zwei-Minuten-Clip fassen lässt: eine bühnenbreite und hohe, goldglänzende glatte Wand – Fassade und Mauer – mit einem großen, runden, schwarzen Loch in der Mitte, etwa zweieinhalb Meter über dem festen Boden. Darin steht gerade noch einigermaßen selbstherrlich Markus Herings energisch-blasser Jedermann, als sich das Loch langsam zu drehen beginnt. Das neuzeitliche Erfolgsindividuum, eben noch dürerhaft gespreizt, muss erste kleine Schritte machen, um nicht über den Haufen geworfen zu werden. Leider kennt so eine Leistungswaschtrommel keine Drehzahlbegrenzung. Es folgt der Übergang von Schritt in Trab und dann der kleine Euphorieschub, den jeder Läufer kennt, wenn das Adrenalin übernimmt. Aber bald darauf steigt die Panik, die Maschine legt noch ein bisschen zu, und der arme Mensch hat keine Chance: Jedermann klappt jämmerlich zusammen.

Schwieriger wird es in modernen Zeiten mit dem mittelalterlichen Erbauungsklassiker, wenn es an den Glauben geht. Welcher Gott soll im neoliberalen Diesseitstaumel eine Seele retten, und was ist an einem Teufel noch Besonderes dran? Der «arme Nachbar», ein abgerockter Penner mit langem Bart, übernimmt die Götterrolle unter Verzicht auf jegliche spirituelle Ausstrahlung: Oliver Stokowski ist ein störrischer Depressionsheiland in Zeiten der Kirchenaustritte. Das satanische Element wiederum wird Jedermanns Festgesellschaft zugeschlagen: eine konsumorientierte gute Gesellschaft, die sich bei Bedarf zum Chor zusammenschließt oder szeneweise die spielnotwendigen Individuen absondert. Der Teufelspakt fällt entsprechend bescheidener aus. Es müsse ein «Umdenken zum Besseren» einsetzen im Angesicht des Todes. Darauf kann der liebe Gott allerdings lange warten. Geglaubt und erlöst wird heute nicht mehr.

Ferdinand Schmalz’ «jedermann (stirbt)» (der vollständige Stückabdruck erscheint im April-Heft von «Theater heute») folgt locker Hofmannsthals Szenenstrang und hat es in säkularen Verhältnissen über weite Strecken erstaunlich leicht. Die Parallelen überschlagen sich: Die «Guten Werke» sind eine Charity-Lady, die von den steuerhinterzogenen Gewinnen noch ihre eigenen Honorare abzieht; Jedermanns Frau beweist sich als eiserne Ehedaumenschraube, die vor allem nach dem Bankkonto schielt; die armen Vettern glänzen als schmierige Politlobbyisten im Vetternwirtschaftshandel. Die Buhlschaft übernimmt als finaler Stressfaktor den Todesbotenjob.

Verzichten muss Schmalz allerdings auf das übersinnliche Happy End. Da winkt keine Erlösung, sondern nur ein trister Sündenbock-Mechanismus. Alle sind froh, dass der Tod sie nicht erwischt hat, und freuen sich übers Erbe. Das Spiel geht weiter – nur eben ohne Jedermann. Aber was soll dann das Leben im strahlenden Licht der transzendentalen Obdachlosigkeit? Schmalz’ ernüchternde letzten Worte spricht der durchgestrichene Jedermann, ein toter Niemand: «wir sterben ewig, leben nicht.»

Die Hauptrolle in Stefan Bachmanns Wiener Uraufführung hat «die (teuflisch) gute gesellschaft»: das achtköpfige Ensemble als Chorformation, in die auch Jedermann zwischendurch eingemeindet wird. Sie kuscheln sich zu Beginn in hellen Spermien-Trikots ins schwarze Loch, spreizen sich lang in goldglänzend prunkdummen Trachtenoutfits und marschieren am Ende in dunkler Trauertrachtenmode mechanisch im irdischen Vergänglichkeitstakt. Sven Kaisers minimalistische Klaviertracks begleiten sparsam diese Chorpassagen, und die Kostüme von Esther Geremus variieren sich spöttisch durch den Besonderheitswahn der ewiggleichen Prätentionsartisten.

Übertriebene Sympathien kommen auch in den Solonummern nicht auf: Barbara Petritsch düstert eine mortale Buhlschaft an die Goldwand, Mavie Hörbiger zickt als Mammon und Charity eine übersteuerte Geldwurfmaschine vors Parkett. Die Vettern Markus Meyer und Sebastian Wendelin schlottern souveräne Schleimspuren querab. Dazwischen gelingt Markus Hering die Quadratur des Kreises: ein leuchtend blasser Jedermann, ein hohles Zentrum, dem sich doch niemand entziehen kann und um das alle kreisen. Auf dem schmalen Steg zwischen Altmanns Goldwand und der nicht weniger respektablen Wiener Premierenparkettgesellschaft mündet das neualte Spiel von den wohlsituierten Zeitgenossen in einen Leichentrauermarsch der lebendigen Toten: flach, grell und leider wahr. Jedermann eben.

Franz Wille

https://www.burgtheater.at/de/spielplan/produktionen/jedermann-stirbt/termine/2018-03-02/973740890/