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Filme und Serien

«Das schweigende Klassenzimmer», «Der Förster im Silberwald»

Lars Kraume «Das schweigende Klassenzimmer»

In seiner beindruckenden filmischen Deutsch- und Geschichtsstunde «Der Staat gegen Fritz Bauer» (2015) gelang es Regisseur Lars Kraume, eine Periode der BRD-Historie gleichermaßen lehrreich und unterhaltsam zu beschreiben: die ausgehenden Fünfziger und frühen Sechziger, jene bleierne Adenauer-Spätzeit, in der die überfällige Aufarbeitung der Nazivergangenheit zugunsten einer florierenden Wirtschaftswunderwelt aufgeschoben wurde, jedenfalls werden sollte.

Bevor die Studentenbewegung die muffigen Talare lüftete und die elterlichen Lebenslügen anprangerte, gelang es bereits Bauer – einem Sozialdemokraten jüdischer Herkunft, der im dänischen Exil das Tausendjährige Reich überlebt hatte – in seiner Funktion als hessischer Generalstaatsanwalt den ersten Auschwitzprozess 1963 am Frankfurter Landgericht auf den Weg zu bringen. Dass er zudem dem Mossad dabei half, Adolf Eichmann in Argentinien aufzuspüren, der dann in Jerusalem vor Gericht kam, ist ein weiterer Meilenstein in Bauers zerrissener Biographie.

Fritz Bauer spielte grandios Burkhardt Klausner. In «Das schweigende Klassenzimmer» steht er zwar nicht vergleichbar im Zentrum der Handlung, ist aber doch eine Dreh- und Angel-Person des tragischen Geschehens; als DDR-Volksbildungsminister Lange – ein Widerständler, KZ-Insasse und Zuchthaus-Überlebender – hat er es im «ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauern-Staat auf deutschem Boden» zur Machtgestalt gebracht, ist dabei allerdings ein fühlloser Erfüllungsgehilfe der Partei geworden, dem es 1956 oblag, an einem Gymnasium die «konterrevolutionäre Haltung» einer Abiturklasse mit allen Mitteln (s)eines Unrechtsstaates zu unterdrücken.

Im Geschichtsunterricht hatten die Schüler eine Schweigeminute für den Ungarnaufstand eingelegt, politisch motiviert und bestärkt durch den –vom amerikanischen Klassenfeind-Sender RIAS fälschlich gemeldeten – Tod ihres Fußball-Idols Ferenc Puskás. Der Meldung darüber gelangte vom Lehrer über die Schulleitung, den Stasi-Beauftragten und die Bezirks-Schulrätin bis zum Ministerium. Die Angst vor Kontrollverlust war nach dem Arbeiteraufstand von 1953 in der DDR-Führung so groß und während der ungarischen Unruhezeit 1956 noch größer, dass altersgemäß renitente Spätpubertierende als ernste Gefahr gelten konnten...

Klausner zeigt Lange als kalt-mienigen Apparatschik, der seine Herkunft und seine eigene Leidensgeschichte vergessen hat und nur noch brutaler Bulldozer im Sinne des Systems ist. Wieder ein Zerrissener – wenn auch ganz anders. In dieser «umgekehrten» Deutschstunde stehen nicht die Großen im Zentrum, sondern die Kleinen – die Abiturienten.

«Die schweigende Klasse» ist zuallererst aber eine atmosphärisch dichte Coming-of-Age-Geschichte, ein Schüler-Film voll Unordnung und frühem Leiden, voll Eifersüchtelei und kleinen Intrigen. In all das mischt sich, weil es die Zeitgeschichte nun mal so will, auch die Weltgeschichte mit ein. Aus einer DDR-Variante von Peter Weirs «Der Club der toten Dichter» wird, weil alles nun mal im geteilten Deutschland der Fünfziger passiert, ein Doppelspiel mit Diktaturen – denn die Nazis sind noch unter uns und überschatten die Gegenwart; und die Stalinisten haben im Moment die Macht.

Der Plot des «Schweigende Klassenzimmers» basiert auf einer realen Geschichte, die einer der Abiturienten, Dietrich Garstka, in seinem 2006 erschienenen Buch aufgeschrieben hat. Es geschah damals im märkischen Storkow. Kraume aber verlegt das aus film-dramaturgischen Gründen nach Stalinstadt, jetzt Eisenhüttenstadt, 1950 als «Planstadt» rund um Hochhöfen gebaut und die Zukunft des sozialistischen Gesellschafts-Ideals repräsentierend: eine Agglomeration voll Spitzengardinenwohnungen – mit eigenem Bad.

Das vergleichsweise komfortable Stahlarbeiter-Idyll ist luftabschnürend und beengend und somit perfekt geeignet für einen dramatischen Dampfkochtopf. Die gelegentliche Flucht der Schüler über die noch halbwegs offene innerstädtische Grenze in Berlins Westen ist so einleuchtend wie unpolitisch. Denn da gibt es Kinos mit tollen Filmen (nicht nur, siehe unten, «Der Förster vom Silberwald») samt nackerten Mädels und natürlich auch die viel bessere, die rockende Ami-Musik...

Vor allem die beiden besten Freunde Theo und Kurt unternehmen regelmäßig Ausflüge in Richtung Kudamm. Und als sie dann im Kino die West-Wochenschau (auch nicht gerade «objektive» Nachrichten) sehen, öffnen sich ihre Augen für eine Weltsicht jenseits der Partei- und FDJ-Propaganda. Das gesamte Filmgeschehen wird durch diese Augen gesehen: Politik und Weltgeschichte als Entwicklungsroman – Theo/Kurts Lehr- und Wanderjahre.

Die Abiturienten probieren ihren kleinen Aufstand. Und die Staatsmacht schlägt so zurück, dass daraus tatsächlich eine Tragödie wird. Am Ende sind alle der Schule verwiesen und «republikweit» nirgendwo mehr zum Abitur zugelassen. Aber sie haben sich zugleich als Kollektiv bewiesen, wenn auch in ganz anderer Weise als von der Obrigkeit erwartet: (fast) niemand hat verraten, wer die Idee zur Schweigeminute hatte; und fast alle machen sich irgendwann auf gen Westen, um zumindest die Freiheit zu haben, das Abitur zu absolvieren...

Auch der Film lebt vom Kollektiv, von dem der jungen Schauspieler – allen voran das Freundespaar im Zentrum, Leonard Schleicher als charmant-scharwenzelnder und lange lächelnd anpassungsfähige Theo Lemke, ein Arbeitersohn, der als erster in der Familie Abitur machen soll; und Tom Gramenz als ernsthafter, bohrend fragender und etwas siegfriedhaft selbstgewisser Kurt Wächter, der Anstifter der Schweigeminute. Sie beide grundieren ihre Figuren wie in einem ddr-anischen «Frühlings Erwachen» als gleichermaßen handelnde wie getriebene zart-harte Jungs im Weltenwind, deren Freundschaft auch über dem Balz-Kampf um eine Mitschülerin nicht zerbricht.

Die anderen Schülerdarsteller sind ebenfalls großartig – Lena Klenke als intellektuelle und dennoch instinktsichere Lena, die sich zwischen Theo und Kurt nicht entscheiden möchte, weil es für beide gute Gründe gibt; Isaiah Michalski als harry-potterig tollpatschiger Paul, der alle Mitschüler zum RIAS-Hören beim Großonkel Edgar lotst und wie ein Goldfisch im Karpfenteich elegant manövriert; und Jonas Dassler als Erik Babinski, der mit den Mitschülern widerwillig solidarische FDJ-Aktivist, der aus dem Tod seines Widerstandskämpfervater seine Kraft bezieht und Amok läuft, nachdem dieser als gehenkter Kapo enttarnt wird.

Auch die Elterngeneration ist toll besetzt: Roland Zehrfeld als Theo Lemkes Vater Hermann, der beim Aufstand am 17. Juni 53 dabei war, dann zwecks Überleben Selbstkritik übte, in die Produktion und in Stasi-Fänge geriet und doch ein Arbeiterdenkmal par excellence abgibt; Max Hopp und Judith Engel als Ehepaar Wächter – er ein spurgenauer Parteisoldat, sie ein flirrendes Neurosengerippe, das den Mitläufer-Gatten und ihren SS-Vater zäh übersteht; Florian Lukas als Schulrektor Schwarz, auch er ein Mann des Systems, der sich dennoch kleinteiligen Widerstand gegen Unrecht leistet, solange er es (sich) leisten kann – ein grauer Maulwurf mit Herz; Jördis Triebel als Schulrätin mit klarem Machtbewusstsein und ebenso klarem Unterwerfungswillen, Karrieristin mit guter Nase für das jeweilige Momentum; Götz Schubert als Pfarrer Melzer, Stiefvater des kanteköpfigen Erik, zerknirrscht-nachdenkliche Vorahmung aller gutmenschlichen DDR-Pastoren.

Michael Gwisdek aber verkörpert die Apotheose dessen, was ein Film, der in der DDR vor 50 Jahren spielt, an glaubwürdigem Personal braucht: Er ist Edgar, Einsiedler auf dem von den Russen beim Befreiungseinmarsch abgefackelten elterlichen Gehöft, ein Widerständler der eigenwilligen Art, Nacktschwimmer, RIAS-Hörer, homosexueller Freidenker, Schrat – einer, der mit seinem lakonisch-skeptischen Denken zugleich Vorbild für die Jugend und Inbild fürs Überleben in dunklen Zeiten ist. Gwisdek, der in manchen seiner letzten Filme zum manieristischen Verwalter seiner großartigen darstellerischen Mittel geworden war, gibt sich hier klug-bescheiden seiner Figur hin und wächst dabei wie über sich und sie hinaus: ein Ereignis. Best supporting actor!

«Das schweigende Klassenzimmer»: nicht nur für alle Abiturklassen lehrreich in Sachen «Anpassung und Widerstand».

Michael Merschmeier

«Der Förster vom Silberwald»

Einer der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten ist «Der Förster vom Silberwald» (1954, Regie Alfons Stummer), den ich keineswegs zu meinen Favoriten zähle, der aber in der Geschichte der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielt. Dabei ist es nicht einmal ein deutscher Film, sondern ein österreichischer und heißt «Echo der Berge»; der «Förster» des deutschen Titels ist eine Verfälschung, denn er ist eigentlich ein «Jager», wie er im Film auch durchgehend tituliert wird. Ob das zu sehr an Jagdbomber und Jagdpanzer erinnerte, an Krieg und Schießen und Töten? Hier jedenfalls geht es gerade darum, den Krieg vergessen zu machen und gleichzeitig das Schießen und Töten zu rechtfertigen.

Hubert Gerold (Rudolf Lenz) erklärt das Problem milde der jagdkritischen Liesl (Anita Gutwell), vor einer Berghütte sitzend und gemütlich ein Pfeifchen schmauchend: «Heute muss der Jäger das kranke Wild abschießen», sonst könne sich das gesunde ja nicht fortpflanzen!, und da will ihm die Liesl nicht lange widersprechen: «Eigentlich wunderbar, so habe ich das noch nie betrachtet.»

Die Handlung ist läppisch bzw. klassisch: Liesl, die Enkelin des Hofrats, besucht diesen zum Jägerball in Hochmoos, verliebt sich in den «Jager» Hubert Gerold, entzweit sich mit ihm aufgrund einer Intrige ihres eifersüchtigen Bildhauerkollegen (Liesl ist angehende Künstlerin in Wien), aber dann finden sie glücklicherweise doch wieder zusammen, ausgerechnet am Hubertustag, vor einem Bergkirchlein! Die steirischen Lederhosenträger mit erlegtem Zwölfender und unter Führung des österreichischen Bundesjägermeisters Franz von Mayr-Melnhof sind auch da, er hat den Film finanziert und dafür gesorgt, dass ein SEHR frömmelnder Priester das letzte Wort hat, wenn er vor der «durch die fortschreitende Zivilisation entstandenen Bedrängnis» warnt und auch gleich das Gegenmittel nennt: «Der Jäger hat das heilige Erbe übernommen, die Schöpfung zu bewahren. Waidmannsheil!» Das hört der Bundesjägermeister naturgemäß gern, also großes Hörnergeschmetter, die Kamera zieht nach oben, der BERG, der HIMMEL, Ende.

Heute ist das zum Lachen, aber damals war es der authentische Ausdruck der Sehnsucht des Publikums nach einer heilen Welt, und nicht nur des österreichischen, das es sich bereits gemütlich gemacht hatte mit der Idee, Österreich sei das erste Opfer Hitlers gewesen. Sondern ganz besonders der Sehnsucht des deutschen Publikums, das von Nationalsozialismus und Krieg nichts mehr hören wollte – auch wenn man wusste, dass das Monster die ganze Zeit im Zimmer ist.

Einmal verwundert sich die Liesl sehr darüber, dass Hubert so wunderbar im Dorfkirchlein Orgel spielt (es ist übrigens Bachs Fantasie in g-Moll, wie er auf Nachfrage angibt), wo er das denn gelernt habe? Da sagt er, sehr schwermütig und den Blick senkend: «Auf unserem Gut, in meiner verlorenen Heimat.» Kein Wort von Revanche und so, nein, stille Ergebenheit ins Unrecht. Und einmal antwortet Liesls intriganter Ex-Freund, der «abstrakte Bildhauer», auf die Frage, ob er überhaupt mit einem Gewehr umgehen und schießen könne: «Das haben wir alle einmal lernen müssen!», und dann lacht er so komisch, irgendwie wehmütig und rebellisch zugleich, als sei er eigentlich schon DAMALS dagegen gewesen. Deutlicher tritt die Vergangenheit, die nicht vergehen will, nie auf in diesem Film.

Aber die Handlung ist nur Nebensache, die Stars sind die Tiere: Die Rehe und Hirsche (insgesamt ist der Film etwas rotwildlastig), die Murmeltiere, süß! Dort, Kolkraben im Paarflug! Zwei Dachse, Meister Isegrimm, und viele Füchse. Als Höhepunkt der majestätische Adler, wenn er Tiere schlägt und durch die Luft davonträgt! Ein Bär! Zum Schluss Steinböcke und Gemsen, da wird auf einer Treibjagd dann endlich einmal nicht nur gejodelt, sondern ordentlich herumgeballert und abgeschossen, da purzelt die Gams den Felsen herab, plumpsti!, und der Waidmann erscheint nicht mehr gar so hegerisch und pazifistisch.

Doch bei aller Liebe und Pflege, den wildernden Hund, sagt Hubert, muss man abschießen, selbst wenn er der Liesl gehört (er war ein Danaergeschenk des fiesen Ex-Freundes!), und als er es tut, ist die Liesl natürlich bös und fährt nach Wien zurück, ins Atelier, da ist gerade Budenzauber, der Abstrakte (einmal sieht man so eine spitzige «Skulptur» von ihm, ganz abscheulich) trägt ein schwarzes Hemd und einen weißen Schlips, wie ein Chicago-Gangster, und als eine Bach-Kantate im Radio angekündigt wird, suchen die Möchtegernkünstler gleich einen neuen Sender, sie wollen lieber Jazz und Swing hören, praktisch Negermusik. Da aber weiß die Liesl endgültig, dass sie doch nach Hochmoos gehört, zum Großpapa-Hofrat, zu Hubert, in Gottes freie und schöne Natur, nicht in die sündige Großstadt mit ihren entarteten Künstlern (da hat er, dessen Name nicht genannt werden darf, doch wirklich einmal recht gehabt, denkt das Publikum; nur das mit den Juden, wenn’s denn stimmt, hätte er nicht machen dürfen).

Das Schlimmste aber ist die Musik (Viktor Hruby), fast permanent ertönt sie, dräut und sehnt, Streicherklang satt und Harfengeklimper, immer geht sozusagen die Sonne auf oder unter, anschwellend-abschwellend, perlendes Tongehüpfe, wie ein Bächlein, aber auch drohende Gewitterwolken mit Blechbläsern und großem Bumm; es ist ein sehr, sehr runtergekommener Wagner, zuckersüß oder erhaben romantisierende Musikwellen wogen und wallen, praktisch die Majestät der Berge und der Schöpfung in Gischt gemeißelt.

Man könnte fast Mitleid bekommen mit einem Publikum, das sich in den fünfziger Jahren mit Begeisterung solchem zusammengestoppelten Natur- und Frömmelkitsch hingeben wollte. Aber die Verlogenheit und Niedertracht, mit der die Moderne, die Zivilisation, die gerade eben noch das Böse besiegt hatte, hier verantwortlich gemacht wird für die aktuelle «Bedrängnis», wie der Pfaffe orakelt, das ist dann doch etwas zu empörend. «Der Förster vom Silberwald» ist ein postfaschistischer Auswurf der Reichsfilmkammer, und dass er so sehr der deutschen Wunschwelt entsprach, eine realistische Abbildung ihrer Träume bot, lässt einen noch im Nachhinein erschrecken. Als historisches Zeugnis steht dem Film ein prominenter Platz im Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu, vielleicht mit einem kleinen Hinweis darauf, dass es sich AUCH HIER um ein ursprünglich österreichisches Produkt handelt.

Kurt Scheel

Zu sehen auf https://archive.org/details/DerForsterVomSilberwaldEchoDerBerge1954