Rezensionen 15. Februar
Foto: Rolf Arnold
Leipzig: Wolfram Höll «Disko»
Am 16. und 26. Februar im Schauspielhaus
Im Anfang war das Wort, und das Wort war beim Lied. Aber da blieb es nicht lange kleben, sondern flutschte weg, verwandelte sich, wurde wieder Melodie, eine andere Melodie, Theatermelodie, Sprachmelodiesprechwerk. So fließt es oder besser flowed in Wolfram Hölls neuem Text «Disko», der sich im Anhang ausdrücklich bei Größen des Elektro- und Plastikpop bedankt: bei Daft Punk, Animal Collective, Kylie Minogue und einigen anderen. Von ihnen hat sich Höll melodische und eben auch lyrische Inspiration geholt, Wortwogen also: «Ich / krieg / dich / einfach / nicht aus / meinem / Kopf», heißt es, wenn bei Höll eine Frau losspricht und ihr dabei in herrlich spröder Übersetzung Verse aus Kylie Minogues «Can’t get you out of my head» aus dem Mund purzeln. Der Diskopop hat allen hier die Hirne weich gemacht. Die Knie sowieso.
«Disko» ist ein Auftragswerk für das Schauspiel Leipzig und seine auch überregional hochgeachtete Spielstätte für neue Dramatik, die Diskothek. Hölls beide beim Mülheimer Dramatikerpreis 2014 bzw. 2016 prämierten Werke «Und dann» und «Drei sind wir» kamen hier zur Uraufführung (und «Disko» ist jetzt ebenfalls zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen). «Disko» für die Diskothek – mehr Heimspielgefühl geht nicht. Und um die Schraube noch etwas weiter zu drehen, geht es auch im übertragenen Sinne ums Heimspiel oder genauer ums Heimatspiel. Die Disko, die Höll zeigt, ist zugleich ein breiter allegorischer Raum, Sinnbild für das Deutschland in Zeiten der abebbenden Willkommenskultur. Die Deutschlanddisko gibt sich als ziemlich geschlossene Gesellschaft zu erkennen, wo man «auf der Liste» stehen muss, um am Türsteher vorbeizukommen. Wer eintritt und hier eine neue Bleibe sucht, wie der Musiker Mohammed Ali alias Momo, dessen «Zuhause zerbombt» ist, der stößt schnell auf den Argwohn von Leuten wie dem Besorgten Bürger, der sich nebst Flüchtlingshelferin, Single-Mann und anderen hier in der Disko tummelt.
«Dein Fall ist / hoffnungslos / also lass / alle Hoffnung los», sagt der Türsteher schon am Eingang mit deutlichen Anklängen an Dantes Höllentour der «Göttlichen Komödie» («abandon all hope ye who enter here»). Das ist der Gewinn dieser auf maximale narrative Abspeckung angelegten Dramenkunst: Je spärlicher die Worte, desto breiter der Assoziationsraum. Wie immer bei Wolfram Höll zeichnen sich inhaltliche Vorgänge eher schemenhaft ab, zielt das Interesse stärker auf das Klangkunsterlebnis denn auf den Referenzgehalt der Darstellung. Mit äußerster Sorgsamkeit ist hier eine horizontal wie vertikal lesbare, parallel zu performende Textur erstellt, die auf Lautmalerei und Rhythmik abhebt und das Diskogefühl flächiger Elektrotracks adäquat in eine luftig gesetzte Partitur gießt (das Typographiewunder, das «Disko» auch ist, war in Theater heute 2/2019 zu bestaunen).
Das Lyrische des Textes verhindert, dass der zwar rudimentäre, aber eben doch bedeutungsvoll raunende Plot zu viel Gewicht erhält. Der ist bei näherer Betrachtung reinste Kolportage: die Geschichte eines Messermordes in der Disko, der dem am Vorfall unschuldigen Flüchtling Momo in die Schuhe geschoben wird, tatsächlich aber von einem begangen wurde, der eingangs an der Tür abgewiesen wurde, weil «hässlich / männlich / ärmlich» (also, so muss man im Kopf zusammensetzen, irgendwie Teil des AfD-nahen, desintegrierten «White Trash»). Höll weiß wohl, dass das mächtig fett aufgetragen ist, und packt darob gleich noch ein paar Kilo Splatter zum Finale hinzu und rundet seine semantische Kalorienbombe mit einer dieser köstlichen Songnachdichtungen ab: «Da liegt ein / Mörder / auf dem / Tanzflor», heißt es in schräger Übersetzung des Synthie-Klassikers «Murder on the Dancefloor» von Sophie Ellis-Baxtor.
Da Hölls Kunst sich im Andeutungsvollen und Klangkünstlerischen entfaltet, kommt es ihr zugute, wenn sie Regisseur*innen aufführen, die starke Bildwelten entwerfen und also die fehlende Plastizität inszenatorisch auffüllen. Wie etwa Claudia Bauer in dem eindringlichen surrealen Burattino-Gespensterhausspiel, das sie 2013 mit «Und dann» veranstaltete. Ivan Panteleev, der für die Uraufführung von «Disko» gewonnen wurde, ist dagegen als Regisseur ein Meister des Minimalismus, der Dramentexten ihre leisen Basslinien abzulauschen weiß, ihre Rhythmik, ihre Klanggestaltung. Ein Regisseur, bei dem Welt eher als Kopftheater denn als konkreter Außenraum entsteht. In gewisser Weise verdoppelt sich mit dieser Regiebesetzung etwas, das womöglich besser auf Reibung angelegt gewesen wäre.
Als musikalisches Erlebnis lässt Panteleevs Leipziger Uraufführung gleichwohl keine Wünsche offen. Vor einem poppigen Flittervorhang radeln sich die Geflüchteten den Wolf, während hinter einer Rahmung drinnen in der Disko das Establishment auf Home-Trainern joggt und Andreas Herrmann in weißem Anzug den Türsteher und Conferencier gibt. «Bums-Tschick-Bums-Tschick» peitscht sich das Ensemble ein. Tretmühlenpoesie hebt an. Die Stimmen werden verzerrt, es weht wie der experimentelle Atari-Synthiepop der frühen 1980er Jahre. Kalauer kullern: «du musst / nicht / wissen wie ich / heiße / um zu / wissen / wie heiß / ich bin», lässt Anna Keil als Flüchtling in der Aufmachung einer Dancehall-Diva mit blonder Perücke hören, und die Stimme quietscht wie von Minnie Mouse. Mit Gartenzwergpudelmütze malt sich Daniela Keckeis als «Besorgter Bürger» den Untergang aus: «Ich sehs / kommen / alle werden / kommen.» Und ewig stampft die Beatmaschine.
Im Finale erlaubt sich Ivan Panteleev einige Freiheiten. Eine längere didaktische Passage, in der der Autor die «Wir sind das Volk»-Rufe anno 1989 gegen den heutigen Rechtsprotest auf sächsischen Straßen stark macht, ist gestrichen. Höll selbst hat diese Weglassung in einer entsprechenden Regieanweisung bereits nahegelegt. Der Mörder wiederum wird mit der Figur des Türstehers assoziiert. Das Problem rückt also hinüber zum Gatekeeping, zum Akt des Aussperrens, weg vom Ausgesperrten. Mord gibt’s, «weil zu mir / keiner sagt: / Hinbe- / kommen / wir werden / das / hinbe- / kommen / oder / Was ist deine Geschichte / oder einfach nur / Willkommen». Wer unliebsame Geschichten ausblendet, kriegt Konflikt auf des Messers Schneide.
Dabei belässt es Panteleev. Ähnlich wie Höll zieht er sich auf die Andeutung zurück. Und tauscht die politische Geste gegen die humane. Mit einem der intensivsten Momente lässt er den Abend enden: Roman Kanonik hockt sich als Flüchtling Momo zum Publikum hin und rappt leise seine Verzweiflung, von fern her, es ist die Message eines Voice Recorders, die sein Sprechgesang abspult: «Ich würde am liebsten durch ein Vakuum laufen.» Für Momente schwillt diese Figur an, in ihrer Verlorenheit, ihrem leisen Zorn, ihrer Poesie. Ehe sie ins Reich der Töne und Klänge zurücksinkt.
Christian Rakow