Der Weltversteher
Thomas Köck schreibt Dramen
Hat man schon mal einen Dramatiker erlebt, der die Sprache einen «Horror» nennt und dabei mit Wittgenstein argumentiert, dem Logikfreak und Sprachphilosophen? Österreicher, meint der Österreicher Thomas Köck, würden der Sprache so fremd gegenüberstehen, dass sie ihr nur auf der Ebene des Horrors begegnen, sonst würden sie gleich gar nicht reden. Und das könne man eben beim späten Wittgenstein besonders gut beobachten: Der drehe ein Wort nach dem anderen um wie in einem tiefen Dunkel: «Er begegnet der Sprache als etwas grotesk Unheimlichem, Horrormäßigem.» Und der frühe Wittgenstein, sei das keine vernunftoptimistische Verstehenslogik? Doch, aber mit der sei er ja bekanntlich gescheitert. «Das Optimistische beim späten Wittgenstein ist höchstens die Feststellung, es gibt keine Logik hinter der Sprache. Das ist dann das Befreiende. Der Optimismus im Scheitern.» Ein Satz, der schon ziemlich viel über Thomas Köck und seine Texte verrät.
Wenn man ihn in Berlin zum Kaffee trifft, wo er derzeit lebt, muss man erstens sehr genau hinhören, weil er so leise spricht, dass das Aufnahmegerät fast nur noch Eigenrauschen produziert, und zweitens lange warten, bis ihm ein österreichischer Tonfall unterläuft. Auch dann ist es nur ein knappes, synkopisch resümierendes «genau» oder zwei, drei Mal das eher unübersetzbare «ja, eh», ein einsichtsvoll alles umspannender Ausdruck, kurz-lang gesprochen, der die Welt ohne große Worte zusammenfasst, wo sie nicht zu ändern ist. Was aber keineswegs in Thomas Köcks Sinn wäre, der die Welt für erheblich veränderungsbedürftig hält im Großen wie im Kleinen. Und ihr dabei ziemlich systematisch auf den Grund zu gehen versucht.
Worüber schreibt man, wenn man in einem Dorf aufgewachsen ist, zum Beispiel in der 2000-Seelen-Gemeinde Wolfern bei Steyr, südlich von Linz? Übers Dorf? Über die weite Welt? Thomas Köck hat sich fürs globale Dorf entschieden, und das hat Gründe, auch sprachliche. Die drei Stückteile von Thomas Köcks jüngstem Text «paradies spielen» handeln in einer Klinik für schwerverletzte Brandopfer, einem ICE und einem toskanischen Gewerbegebiet für chinesische Fremdarbeiter, jeweils thematisch wie geografisch zusammengehalten durch das nach wie vor zuverlässige, wenn auch wenig pünktliche Verkehrsmittel Bahn. Ein weiterer kurzzeitiger Spielort ist Henan in der chinesischen Provinz Zhengzhou und dessen zerstörte Umwelt, welche die dortigen Landarbeiter in die deprimierenden Arbeitsbedingungen von Lithiumbatterie-Fabriken zwingt, von wo sie mit Hilfe von Schleusern und wochenlangen Bahnfahrten nach – beispielsweise – Italien fliehen. Womit wir zwar noch nicht beim übergreifenden Thema, aber wenigstens beim Untertitel des Dreiteilers wären, der wiederum nur Teil drei von etwas viel Größerem, nämlich einer «Klimatrilogie» ist.
Thomas Köck, geboren 1986, denkt gerne in größeren Zusammenhängen. Schon in seinem Erstling «Jenseits von Fukuyama» über das absurde Betriebsklima einer neoliberalen Firma lässt er «die Geschichte» persönlich auftreten, und auch die noch hoffnungsvollen «90er Jahre» dürfen ein paar Sätze sagen. Im ersten Stück der Klimatrilogie, «paradies fluten», geht es in einem Parforceritt durch 100 Jahre Kapitalismuskritik, angefangen vom größenwahnsinnigen europäischen Kolonialismus im Amazonasgebiet, wo die Indios für den Kautschukanbau ausgebeutet wurden, während nebenan ein Opernhaus entsteht, über die Gründung einer vom Wettbewerb dem Untergang geweihten kleinen Autowerkstatt in den 90ern bis in die Gegenwart einer selbstausbeuterisch-autonomen Künstlerin. In seinem vorletzten Stück «die zukunft reicht uns nicht» (s. TH 1/18) lamentiert ein Chor der Kinder, unterstützt von der blinden Unheilsseherin Kassandra, was für fatale politische, ökologische und kulturelle Erblasten die gegenwärtige Generation ihren Nachkommen hinterlässt, von Donald Trump bis zur eigenen Mutter. Man darf Thomas Köck ohne jede Übertreibung einen profunden Apokalyptiker nennen. Aber keinen – und das ist wichtig –, der sich am Untergang erfreut. Optimismus im Scheitern.
Eigentlich wollte Thomas Köck nach dem Abitur in London Sinologie studieren, aber auf Sinologie müsse man sein ganzes Leben ausrichten, die Kultur studieren, und in den Anfängerkursen ginge es ohnehin immer um asiatische Philosophie, meint er. Da könne man doch gleich Philosophie studieren. Es sind dann noch Literaturwissenschaften und Psychologie und einiges andere dazugekommen in seinem Wiener Bachelor-Studium. Und über Ökonomie muss man mit dem diplomierten Handelskaufmann erst gar nicht reden – das hat er ohnehin drauf. BWL, Marketing, Controlling – alles gründlich gelernt auf der Steyrer Handelsakademie, was seinen kapitalismuskritischen Einsichten ein durchaus solides Fundament einzieht.
Der entscheidende Dreh zum Theater war dann mindestens ein halber Zufall. Die Regisseurin Claudia Bosse suchte für ihr Wiener Theaterkombinat gerade einen neuen Regieassistenten, Thomas Köck einen Job. Das missing link war eine Freundin, Bosses vorherige Regieassistentin. Seine erste Produktion war «Bambiland», eine Stadtbeschallung mit Jelinek-Text. Durch die Arbeit mit der nachhaltig Schleef-begeisterten Claudia Bosse ging seine Theatersozialisation früh in Richtung Chorarbeit und – trotz oder gerade wegen des Wiener Kontextes – weniger zur feinziselierten Figurenpsychologie. Über Schleefs Theorie vom Ursprung des Theaters aus dem konzertant Chorischen kann er lange reden: der Chor, von dem sich das Individuum trennt, der Grundkonflikt zwischen Chorkollektiv und Individuum, die spätere Verdrängung des Chors von der Bühne als moderne Disziplinierung des Theaters. Und überhaupt: «Mein großes Faszinosum am Chor ist, dass er ein ureigenes Theatermittel darstellt, das in keinem anderen Erzählmedium Platz hat.»
Da fand dann plötzlich einiges zusammen: Theater, Theorie, Sprache und Rhythmus. Denn die andere Künstlerspur im Weltverstehenwollen von Thomas Köck war schon im Steyrer Dorf die eigene Band, für die er die Songs schrieb und sich auch noch andere später wichtige Skills holte. Dort habe er – durchaus theaternah – gelernt, wie man in einer Gruppe zusammenarbeitet, sich etwas aufbaut, auch wie man «mit dem Schlagzeuger, den man nicht mag, aber trotzdem für einen guten Musiker hält, eine Probensituation herstellt, in der man sich gegenseitig ertragen kann». Vor allem aber, wie man komponiert und arrangiert, Musik und Sprache zusammenführt: «Dieses Schreiben für Theater ist für mich wie für ein Konzert.» An der laut gesprochenen Sprache arbeite sich ein Körper anders ab. Da erscheine Sprache eben nicht als immer unzulängliches Erzählvehikel, sondern als widerständige Form, als Sound. Da wird dann, siehe Wittgenstein, der Horror zur Schleef-Musik. In einem Gepräch mit dem Wiener Dramaturgen Tobias Schuster meinte Köck noch vor einem Jahr nicht ohne Selbstironie: «Im Prinzip schreibe ich immer noch Songtexte, nur sind sie jetzt länger und oft chorisch.»
Anfang des Jahrzehnts hat Thomas Köck dann seinen Lebensmittelpunkt Richtung Berlin erweitert und sein schon begonnenes Philosophie-Masterstudium an der Freien Universität gegen den Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste eingetauscht. Beworben hatte er sich dort mit einem Text, der noch in einer Schreibwerkstatt an Andreas Becks Wiener Schauspielhaus entstanden war. Und auch das große übergreifende Thema, das ihn beim Schreiben umtreibt, kristallisiert sich in der folgenden Zeit heraus. Es fügt eine Natur, die wieder zum Horror wird, die bedrohten sozialen Gemeinschaften und chorische Erzählformen zusammen. Der indische Autor Amitav Ghosh («Die große Verblendung») habe gerade wieder darauf hingewiesen, dass der Klimawandel das beherrschende Problem des 21. Jahrhunderts werde und gleichzeitig in der Literatur, wenn überhaupt, dann nur als gruselige Fantasy Fiction vorkäme. Nach 100 Jahren industrieller Umweltzerstörung schlage die Natur zurück. Da räche sich die ökonomische Theorie von Kapitalismus und Freihandel, auf der angeblich der Wohlstand der Nationen beruhe, und bringe das globale Fortschrittsweltbild zum Einsturz. Und mit ihr eben auch die Idee der individuellen Freiheit, das vielleicht wichtigste politische Konzept der Neuzeit. Wenn Einar Schleef, der sich daran zeitlebens abgearbeitet hat, das noch mitbekommen hätte, wäre sein nächstes Großprojekt wahrscheinlich eine dreitägige dionysische – ja, eh – Klimatrilogie. Besser: Klimatragödientrilogie. Womit auch schon die Theatermittel geklärt wären: chorische Strukturen, die monologische Widerparts und dialogische Wechselreden umschließen.
Im Gegensatz allerdings zu dem anderen geistesverwandten dramatischen Untergeher mit geschichtsphilosophischem Anspruch, Heiner Müller nämlich, hadert Köck nicht mehr mit den gescheiterten Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts oder zündelt mit ideologischen Feuerwerkern des mittleren 20. Jahrhunderts wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger herum, sondern argumentiert auf der Höhe spätmoderner Politik- und Gesellschaftstheorie. Und das heißt, er denkt eben nicht in raunenden historischen Aperçus, sondern strikt genealogisch: Wie Geschichte, von Menschen gemacht, zu dem geworden ist, was jetzt Sache ist. Und im weiteren Gegensatz zu Heiner Müller, der in seinen letzten Jahren nur noch im Gespräch gesprächig war und im Schreiben skrupulös bis zum fast vollständigen Verstummen, greift Thomas Köck auch gerne mit beiden Händen in die Songtextorgel ohne große Scheu vor fetten Zeilen.
Was im ersten Teil der Klimatrilogie, «paradies fluten», zwischendurch noch etwas großsprecherisch klingt, erscheint im letzten Teil, «paradies spielen», als komplexe Komposition. Die wiederum dreiteilige Collage seines beschleunigten Globalisierungsdesasters ist nicht nur durch Bahngleise und Motivketten verlinkt, sondern auch durch je eigene Sprech- und Texthaltungen akzentuiert. Auf den hochrhythmisierten, in kurzen Versen dahinrauschenden Verzweiflungsmonolog eines Sohnes am Krankenbett seines nach einem Burnout-Suizidversuch bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Vaters folgen zunächst eher alltagshumorige Dialoge im ICE, bis diese Komödienharmlosigkeit der beweglichen ökonomischen Mittelklasse in nackte Panik kippt, als der Zug immer schneller durch einen Bahnhof nach dem anderen saust. Die beiden chinesischen Wanderarbeiter hingegen, die sich von Henan auf den Weg nach Prato machen, wo sie leider nicht im erhofften europäischen Paradies, sondern in einem üblen Textil-Sweatshop landen, der sie erbarmungslos ausbeutet, diese beiden sprechen von sich in dritter Person als jene erzählte Vergangenheit, die ihre Schicksale schon dem zurechnet, wo sie enden: dem Tod durch Ersticken in einem Fabrikunfall, beziehungsweise Selbstmord auf den Schienen in einem Traumzustand zwischen Wahn und Flucht.
Die drei miteinander unverbundenen Todesteams – der von den Anforderungen überforderte Selbstmörder, die zunächst noch ahnungslose ICE-Besatzung und die chinesischen Klimaflüchtlinge – sind nicht nur durch weltumspannende Kapitalismusbeschleunigungen und Schienenstränge miteinander verbunden, sondern durch eingeschobene Verlängerungen des Krankenbett-Monologs, in denen das lyrische Sohnes-Ich über die im Gleisschotter sedimentierte Geschichte und mehr reflektiert: «zehn zentimeter voll mit / güter waffen schreien sondermüll die / knochen drin daneben zehn zentimeter / menschliche naturgesetzlichkeit der / mensch am ende zehn zentimeter zwischen / bierflaschen gummi kondomen und kredit ...» Ob der Mensch wohl der Fehler der Natur sei oder vielleicht ihre Vollendung in geplanter Selbstauslöschung? Wo die Welt wohl die falsche Abbiegung genommen hat in die zerstörerische Unterscheidung von «draußen die verbrannten drinnen / die ausgebrannten»?
Außerdem bekommt auch der Kondukteur des Todes-ICE noch einen schönen Hass- und Mordtext auf die verachteten Fahrgäste seiner Berufslaufbahn, die er nach vollendetem Crash einen nach dem anderen abknallt. Und auch der Sohn feuert einen letzten Monolog vor Vaters Krankenzimmer, in dem er das persönliche Schicksal ins Alleuropäische hochrechnet vom «viehwaggon europa»: «die grenzen sind jetzt wieder zu / die wunden sind noch offen / narbengelände die schützende hand / europas prometheus die / das feuer bringt sich klammert an den bauzaun ans / metallgestrüpp narbengelände auf stufe drei / das jetzt hier wächst und gedeiht verband / eines ausgebrannten körpers.»
Marie Bues hat im Studio Werkhaus des Mannheimer Schauspiels die hochschäumende Mischung aus Farce, Verzweiflung und Untergangshumor in eindringliche Gesänge, schrille Komik und konzentriertes Kammerspiel aufgelöst. David Müllers «Sohn» beginnt im leeren dunklen Raum, brennt ein Streichholz nach dem anderen vor seinem Gesicht ab und findet einen ruhigen Ton, der das hilflose Grauen der schockierten Familie einfängt. Im «ewigen ice der spätmoderne» dann spreizen sich fünf selbstgewisse Provinzler in plüschigen Tierkostümen auf einem Bühnenwagen, der – Referenz an die gute alteuropäische griechische Tragödie – wie ein Ekkyklema langsam ans Publikum fährt. Sobald die niedlichen Plüschköpfe abgelegt sind, verwandeln sich die Restkörper allerdings in einen präzise angstverschreckten Chor, dem der buchstäblich rasende Stillstand, Paul Virilios inzwischen sprichwörtliche Gegenwartsdiagnose, plötzlich dann doch viel zu schnell geht. Hinter einer Papierwand kauern währenddessen die beiden Wanderarbeiter (Sven Prietz, Katharina Hauer) auf Liegewagen-Papierdecken überlebensgroß im Videobild. Am Ende wird die Papierwand (Ausstattung Pia Maria Mackert) eingerissen, und die isolierten Angsträume werden zur nackten, nur von Zuschauertribünen umstellten Jetztzeit.
Das gute alte Abendland ist, entsprechend dem Untertitel von «paradies spielen» und 100 Jahre nach Oswald Spenglers Bestseller, wieder mal in sehr bedenklichem Zustand. Da lauert noch viel Stoff für Thomas Köck. Denn Wittgensteins Horror – das weiß schließlich jeder Dramatiker – kommt man nur mit Sprache bei: Dialektik der Vernunft.
Franz Wille