CD, DVD, Buch 8/9/20

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Autobiografie: André Doutreval

«Was? Sie heißen Adolf Bruno Preglej?» So die Büroangestellte, als der junge Tänzer 1959 in Wien seine Mitgliedschaft beim Österreichischen Gewerkschaftsbund beantragt. «Also, das geht einfach nicht für einen Künstler, so kurz nach dem Krieg!» André Doutreval klang besser. Unter diesem Namen machte der Sohn eines Autolackierers auch Karriere. Sie führte ihn schon auf der zweiten Etappe an die Kölner Oper zu keinem Geringeren als Aurel von Milloss.

Selbstbewusst, wenn auch nicht ohne Ironie, erzählt Doutreval mit bewundernswerter Offenheit aus seinem Leben. Von René Staubli lesbar gemacht, lassen die Erinnerungen an Anna Menge in Bern, Erich Walter in Wuppertal und später in Düsseldorf, Kenneth MacMillan in Berlin oder John Neumeier in Frankfurt/Main keine Langeweile aufkommen. Entbehrlich wirken im Biografie-Kontext allenfalls die ballettgeschichtlichen Exkurse, mit denen Doutreval vermutlich auf seine «Werkstätten» in Kassel verweisen will. Sie sicherten ihm ein dankbares Publikum – und das brauchte er nicht nur als Ballettdirektor der Staatstheater. Auch die Erfolgsgeschichte der 1976 gegründeten Ballett-Arena Kassel wäre ohne diese pädagogische Vorarbeit undenkbar gewesen. Bis 1994 leitete er, unermüdlich choreografierend, die private Ballettschule – zusammen mit seiner inzwischen verstorbenen Frau Silvia Haemmig. Ihr und dem gemeinsamen Sohn ist das Buch gewidmet.

Hartmut Regitz

André Doutreval: «Ein Leben für den Tanz»; www.ruefferundrub.ch


Im Kino: Into the beat

Hamburg ist dank seiner Hochbahn auch ein wenig New York. Breakdance fühlt sich hier so an wie New York. Street Credibility gibt es hier wie da, eine Hip-Hop-Szene in einem alten Lagerhaus, einer «Breakbox»-Community, die im scharfen Kontrast zur Ballettwelt steht. Nämliche ist mahagonigetäfelt, streng, dennoch magisch. Und dazwischen, gefangen im Konflikt – Break oder Ballett? –, verirrt sich Alexandra Pfeifer als aufstrebender Étoile, Tochter eines berühmten Ballerinos, der an den jungen John Neumeier erinnert (Trystan Pütter). Papa sagt ihr: «Deine Familie ist das Ballett.» Sie weiß: «Mein Vater ist ein Ballettstar. Papa ist in mir drin.» Die Hip-Hop-Szene sagt: «Tanzen ist wie Strom, es rauscht durch deinen ganzen Körper.» Sie findet: «In mir glüht alles.» Die Hip-Hop-Szene lockt: «Gar nicht schlecht für eine Ballerina.» Papa sagt: «Tanzen ist Perfektion, Fehler zerstören die Magie.» Also geht es in diesem Film fürs Kino, für den Kinderkanal und die Zielgruppe «Coming of Age» darum, sich zwischen zwei Zwängen zu entscheiden: zwischen Papa und dem Lover, dem stilvollen B-Boy Yalany Marschner. Dass es gut ausgeht, versöhnlich, ist dem Genre und der Regie von Stefan Westerwelle zu verdanken. Dass es rockt, ist das Verdienst von Vartan Bassil und seiner Berliner Flying Steps Academy. Die Combo lässt den Saal toben und überdeckt mit Vergnügen den Verdacht, dass zwei Darsteller aus der Schauspielschule nicht unbedingt große Tänzer sein müssen.

Arnd Wesemann

«Into the Beat – Dein Herz tanzt»; www.wildbunch-germany.de


CD des Monats: Schleier der Pierrette

«Petruschka» kennt jeder. «Der Schleier der Pierrette» ist dagegen außer Mode gekommen. Dabei war gerade dieser Theaterartikel einst überaus begehrt. Max Reinhardt wollte sofort zugreifen, als ihm Arthur Schnitzler 1908 aus seinem Libretto vorlas; schließlich hatte er in Berlin mit Grete Wiesenthal und Gertrud Eysoldt prominente Besetzungen parat. Doch Ernst von Dohnányi war noch am Vertonen, und als sich Reinhardt erneut um die Rechte bemühte, waren die bereits nach Dresden vergeben. Am Königlichen Opernhaus fand denn tatsächlich am 22. Januar 1910 die Uraufführung statt, die ursprünglich mal am Theater an der Wien vorgesehen war: eine vertrackte Entstehungsgeschichte, die den zunächst andauernden Erfolg der «Ballettpantomime» jedoch nicht verhindern konnte. Noch im Uraufführungsjahr machte sich Wsewolod Meyerhold in St. Petersburg ans Werk. Einstudierungen in fast allen europäischen Metropolen folgten. Gunhild Schüller und Boris Oberzaucher, 1981 anlässlich einer Neuinszenierung an der Wiener Volksoper auf Spurensuche, konnten nicht nur für das Jahr 1923 im damaligen Petrograd die Version eines gewissen Georgi Balanchivadze verifizieren, der sich später Balan­chi­ne nennen sollte. Ihren Erkenntnissen zufolge gilt es auch mehr als wahrscheinlich, dass Meyerholds Inszenierung sozusagen Pate stand für ­Fokines «Petruschka» des Jahres 1911.

Allen Ähnlichkeiten zum Trotz könnten beide Werke nicht unterschiedlicher sein. Da die mystische, geradezu metaphysische Ménage-à-trois im Gewand der Commedia dell’arte, dort das nicht minder makabre Konkurrenzdrama dreier Marionetten. Da die Musik von Ernst von Dohnányi, die dem Schnitzler-Script aufs Wort gehorcht; dort die eines Igor Strawinsky, die keinen Widerspruch duldet. Dohnányi, eklektischer Allroundkünstler ungarischer Abstammung, weiß sich gängiger Kompositionsmodelle auf raffinierte Weise zu bedienen. Das Pierrot-Motiv ist ganz offensichtlich Wagners «Ring» entlehnt. Den überaus populären «Hochzeitswalzer» könnte so auch ein Richard Strauss komponiert haben. Die feinsinnig farbenreiche Instrumentation wiederum lässt vermuten, dass Dohnányi seine französischen Impressionisten eifrig studiert hat.

Wie auch bei seinen anderen Werken handelt es sich um eine Musik, die mehr ins Ohr anstatt in die Beine geht, eher Stimmungen erzeugt als eine Handlung vorantreibt. Mag sein, dass man ihr deswegen auf der Bühne inzwischen ebenso wenig begegnet wie den «Symphonischen Minuten», die 1934 noch dem Ballett «Die heilige Fackel» als Grundlage dienten. Hörenswert sind beide Werke allemal, die jetzt in zwei empfehlenswerten Capriccio-Gesamteinspielungen vorliegen. Ariane Matiakh dirigiert die Ballettpantomime, wie man es von einer Französin erwartet: alle Zwischentöne auskostend und mit viel Eleganz. Und auch Roberto Paternostro begreift die «Symphonischen Minuten» als einen Stoff, aus dem vor allem Träume sind. Warum dazu nicht mal tanzen?

Hartmut Regitz

Ernst von Dohnányi: «Der Schleier der Pierrette», «Symphonie No.1», «Symphonische Minuten», Radio Symphonie Orchester Wien, Dt. Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Musikalische Leitung: Ariane Matiakh, Roberto Paternostro;

www.capriccio.at


Cip des Monats: Homo deus

«Slave to the Rhythm of Medicine» nennt Wolfgang Schmiedt seinen Tanzfilm im Untertitel – beim diesjährigen «New York World Film Festival» hat er den Preis in der Kategorie «Experimenteller Kurzfilm» gewonnen. Die Solistin Katharina Wunderlich, die in einer Art Geburtsvorgang das Licht der Welt im Krankenhaus erblickt, wird zum Subjekt der Apparatemedizin. Elektrokardiografie, Magnetresonanztomografie, Positronenemissionstomografie, solche bildgebenden Verfahren hat der Rostocker Jazzgitarrist auf seine tanzende Probandin appliziert. Mithilfe der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz und der Choreografie Lars Scheibners sowie medizinischer Technik aus dem Verein «BioCon Valley» gelingt ein Blick, der das Körperinnere eben nicht durchdringt, sondern auf Wunderlichs Hautoberflächen das Innere nach außen projiziert. Innere Medizin zeichnet Schmiedt als äußersten Aufwand, um dem Körper fernzubleiben. «Die Patientin», hört man, «darf jetzt nicht mehr berührt werden.»

www.wolfgangschmiedt.de


Feldforschung: Voguing

Es ist wieder da: Voguing! Fast drohte der Glamour der 1980er-Jahre historisch zu werden, den Madonna mit ihrem Song «Vogue» aus der subkulturellen Ballroom-Szene der (farbigen) LGBT Community US-amerikanischer Großstädte in den Mainstream der schönen Welt der (weißen) Popmusik zog. Aber aktuelle TV-Serien, die die Voguing-Battles unterschiedlicher Häuser (den familienähnlichen WGs innerhalb der Community) wiederbeleben, sorgen auch bei Choreografen und tanzwissenschaftlichem Nachwuchs für Faszination. Jutta Krauß macht mit ihrer Dissertation nun einen ersten Schritt, die wissenschaftliche Leerstelle zu füllen.

Ihr Fokus liegt dabei weniger auf der sozialen Praxis als auf dem theatralen und performativen Potenzial für die Bühne. Zitate von Mode-Posing und Catwalk auf der Bühne, begriffen als choreografische Prinzipien, bewahren die (queere) Geschichte und das Voguing-Archiv. Gleichzeitig schreiben die Theaterproduktionen diese fort; erlauben durch neue Kontexte neue Perspektiven – auf Voguing, Körper, Geschlecht und Performanz. Als Beispiele ihrer «Feldforschung», wie Krauß dies nennt, dienen ihr Stücke von Georgina Philp, Trajal Harrell, Gerard Reyes, Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen sowie Interviews. Krauß etabliert Voguing als transdisziplinäres Forschungsfeld und bringt uns ihren Blick, geschult durch Diskurs- und Performativitätstheorie, Mode-, Archiv- und Tanzwissenschaft, nahe. Tanzinteressierten bietet dieses Buch endlich eine erste fundierte tanz- und genderwissenschaftliche Publikation zum Potenzial des Voguing: Strike a Pose – come on and read it!

Janine Schulze-Fellmann

Jutta Krauß: «Voguing on Stage. Kulturelle Übersetzungen, vestimentäre Performances und Gender-Inszenierungen in Theater und Tanz», Bielefeld 2020; www.transcript-verlag.de

 
Roman: Die Tanzenden

Louise wird auf die Bühne geführt: «Während sie vor zehn Minuten noch umkam vor Lampenfieber, ist die Körperhaltung der jungen Frau jetzt vollkommen verändert: Die Schultern nach hinten gedrückt, die Brust und das Kinn nach vorn gereckt – so geht Louise auf ein Publikum zu, das nur auf sie gewartet hat. Sie hat keine Angst mehr: Das ist ihr Moment des Ruhms und der Anerkennung. Ihr Moment, aber auch der des Meisters.» Der Meister heißt Jean-Martin Charcot. Er wird in die Geschichte eingehen als Mentor von Sigmund Freud, der in den 1880er-Jahren zum Pariser Hôpital de la Salpêtrière pilgert, wo Charcot versucht, das Geheimnis der Hysterie zu lüften – jener rätselhaften Erkrankung, die mit dramatischen Körperkonvulsionen einhergeht und ausschließlich das weibliche Geschlecht zu befallen scheint. Alles nur Theater? Suggestiv erzeugte Symptomatik, die Charcot jeden Freitag vor Kollegen zur Schau stellt? Der Arzt in der Rolle des Regisseurs?

Diese Fragen beschäftigen die Geschichtswissenschaft seit weit über einhundert Jahren. Eindeutige Antworten gibt es nicht. Auch nicht in Victoria Mas’ Romandebüt, das die Schicksale von vier Patientinnen des Docteur Charcot in ein feinmaschiges Erzählgewebe verwandelt – und mit dem Tanz verknüpft: zum einen über die choreografische Dimension aller «Auftritte» in der ärztlichen Arena, zum anderen anhand der bürgerlichen Bälle inmitten der Irrenanstalt, die es tatsächlich gab. Lesen – und staunen!

Dorion Weickmann

Victoria Mas: «Die Tanzenden»; www.piper.de

 


Tanz August/September 2020
Rubrik: Medien, Seite 48
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