Rezensionen 21. Dezember
Daniel Felix Adolf, Eric Spiering, Karl Schaper, Lennart Hillmann (vorne) in Haußmanns Staatssicherheitstheater, Foto: Harald Hauswald
Berlin: Leander Haußmann «Haußmanns Staatssicherheitstheater»
Am 21. Dezember, 5., 24. Januar in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Wenn Ludger Fuchs, der alte Stasi-Mann, mit seinen ergrauten Kumpels von Horch&Guck in der Eckkneipe abhängt, wird nicht nur über die per Einheitsvertrag gekürzte Rente gejammert. Nein, es wird sogar ziemlich philosophisch: «Lieber eine gute Lüge als eine beschissene Wahrheit», meint Ludger, der Lügenartist, denn so eine Lüge sei einfach ehrlicher. Schließlich lüge doch jeder irgendwie – vor seiner Frau, seinem Chef, seinen Freunden. Das Lob der Lüge hat sogar eindeutig systemstabilisierende Qualitäten: «Es hätte doch alles so schön sein können, und nun kommt da einer mit der Wahrheit angelatscht, die alles durcheinander bringt.»
Bis ein Mensch zu so tiefen Einsichten vordringt, dauert es allerdings oft ein halbes Leben. Weswegen «Haußmanns Staatssicherheitstheater» – Buch und Regie: Leander Haußmann – erst einmal einen großen Zeitsprung zurück macht vom Rentnerelend des hauptamtlichen Ex-Spitzels in seine Anfangsjahre, in eine Vorwende-Idylle am Prenzlauer Berg der guten alten Ostberliner DDR mit ihrer Mischung aus Boheme und Staatsmacht in den malerisch verfallenden Gründerzeithäusern zwischen Wysbier- und Dimitroffstraße. Lothar Holler hat in liebevoller Detailarbeit ein romantisch morbides, dreistöckiges Mietshaus auf die Bühne gestellt mit vielen Wohnwaben, Treppenhaus, Etagenklo und löcherigem Dach, in dem alle Platz haben: die Künstler, Studenten, Bürgerbewegten oder «subversiv negativ dekadenten Elemente», die Voll- und Teilzeit-IMs, die Stasi-Beamten der verschiedenen Hierarchiestufen mit den lustigen kleinen Honnecker-Hütchen bis hinauf zu Genosse Erich M., einem gutmütig vollbärtigen Poltergeist mit Tarnnamen Großer Bär.
Bald entspinnt sich ein hanebüchener operativer Vorgang, in dem der junge Ludger, gerade erst frisch in die Reihen der ehrenwerten Gesellschaft aufgenommen, in der Wohnung der jungen Geliebten seines alten bürgerlich-dekadenten Künstlervaters kompromittierendes Material ausbringen soll, um per Eifersuchtsszene die oppositionellen Geister zu zersetzen. Die haarsträubend dämliche Operation der Stasi-Blindgänger scheitert zwar kläglich an einem in der Wohnung vergessenen Funkgerät, führt aber mit Hilfe von Genosse Zufall trotzdem irgendwie zum gewünschten Erfolg: Der ehebrecherische Vater trifft seinen Sohn versteckt im Schrank, stirbt vor Schreck an einem Herzinfarkt, worauf der Sohn die junge Geliebte ebenfalls lieben und später heiraten lernt.
Die erlesen hirnverbrannte Handlung bietet reiches Anknüpfungsmaterial für klappernden Boulevard, szenische Abzweigungen und genüssliche Stasi-Witze: die biedergrau beschränkte Firma mit ihrem Abkürzungsfimmel, ihren Phrasen, ihrem Autoritätsgetue, ihrem bürokratischen Wahn, ihren absurden Gemeinschaftsritualen und der gelegentlichen Neigung zur Gewalt. Höhepunkt der einschlägigen Feierlichkeiten ist ein schlafloser Mielke-Auftritt zur Nachtzeit in üppig wattierten Frauenkleidern. Der Große Bär findet erst zur Ruhe, nachdem seine Mannschaft, unterstützt von zwei lieblichen Kindern, das Lied vom «Kleinen Trompeter» durchgeschnulzt hat, worauf der selige Stasiboss vor Rührung zerfließt. Hier findet Leander Haußmanns Humor ganz zu sich zwischen geschmacksfreiem Schwulenwitz und hemmungsloser Klamotte.
Zwar gerät die rumpelige Typenkomödie immer wieder deutlich ins Stottern, und die beiden großen Videoleinwände links und rechts der Bühne mit ihren stoischen Schwarz-Weiß-Beobachtungskamerabildern wären auch nicht nötig gewesen, aber Perfektion war im Land der Dauerimprovisation ohnehin kein Maßstab. Auch die Besetzung springt zwischen Systemfeind und Agent fröhlich hin und her. Horst Kotterba jammert den alten Ludger in die Eckkneipenecke, darf aber auch als oppositioneller Künstlerschrat hingestreckt auf dem Bett der jungen Geliebten seinen finalen Herztod erleiden. Uwe Dag Berlin, Norbert Stöß, Christopher Nell und Waldemar Kobus – Großer Bär! – formieren das verlässlich debile Rückgrat der Stasizentrale; Antonia Bill singt bürgerbewegtes Liedgut mit unklarem IM-Status, während in der Nebenwohnung Silvia Rieger im dickbebrillten Tanten-Outfit alle Operationen souverän überwacht.
Nach der Pause macht die Handlung noch eine kleine Abzweigung in Richtung Sascha Anderson, dessen Karriere als gefeierter Boheme-Lyriker und IM im weiteren Ludger-Leben kurz anklingt, bricht dann aber eher unvermittelt ab. Stattdessen gibt es kurz auf leerer Bühne feudales Kostümtheater im Stil des Ancien Regime, wo dem Stasi-Sonnenkönig eine Garde serviler Höflinge zu Füßen liegt und andächtig seinen schiefen Bildern lauscht. Die geistige Höhe der Kalauer-Wellen markiert der Hinweis auf Souffleur Felix Hammoser als Beauftragten für «Textsicherheit».
Am Ende ruft Silvia Rieger noch die lange Reihe der alkoholischen Treffpunkte einer durchzechten Prenzlauer-Berg-Nacht in Erinnerung, um schließlich in die legendäre Absackerkneipe, die «Tute», zu bitten, benannt nach der Basstuba, die als Rauchabzugshaube über dem Tresen hing. In deren Nachbau lässt sich zum Schlussapplaus das ganze Ensemble mitsamt dem lässig an den Tresen gelehnten Leander Haußmann als fröhliche Nachtschwärmerrunde hereinfahren. Was war die untergegangene DDR doch für eine große, warme Familie, in der am Ende der Volkspolizist mit dem Transvestiten (als Gast: Detlev Buck und Alexander Scheer), der seinen Ausweis vergessen hat, einträchtig ein Bierchen trinkt.
Wer Leander Haußmann, der im Programmheft die Beschreibung durch einen Kommilitonen aus seiner Stasi-Akte veröffentlicht – «großsprecherisch», «ausgeprägte Kantinenbegabung» –, nach dieser Inszenierung üble Vergangenheitsverklärung, überschäumende Ostalgie und Stasi-Verharmlosung vorwerfen würde, hätte beim Autor und Regisseur voll ins Schwarze getroffen. Dem erkennbar verdutzten Redakteur der «Berliner Zeitung» hatte Haußmann lange vor der Premiere ins Interview diktiert: «Ostalgie ist ein diskriminierender, dekadenter und ignoranter Begriff. Jeder hat ein Recht darauf, seine Erinnerungen zu verklären. In vielen Fällen ist das sogar sehr hilfreich und gut gegen Depressionen.» Man mag Leander Haußmann einiges vorwerfen, aber er ist kein Lügner. Er verkündet seine Wahrheiten offen und ehrlich: sein «Staatssicherheitstheater» ist ein unmissverständlicher, absichtsvoll vergangenheitsseliger, gruselig beschönigender Ostberliner Heimatabend. Die alte Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz hat nach dem Scheitern von Chris Dercon ihre erste giftig schillernde Attraktion. Denn, so ein letztes Haußmann-Zitat: «Die Volksbühne ist ein Ort, wo wir Ossis die Deutungshoheit über unser Leben noch nicht abgegeben haben.»
Franz Wille