Rezensionen 7. Dezember
Foto: Bettina Stöß
Berlin: Offenbach «Les contes d’Hoffmann»
Am 8., 15. Dezember, 5., 9., 12. Januar in der Deutschen Oper
Auf dem Boulevard nachts um halb eins. Eine illuster-sinistre Männerrunde hat sich versammelt, Studenten sind’s, dem Anschein nach aus gehobenem Hause, die seidenschwarzen Paletots und eleganten Zylinder verraten aristokratische Herkunft. Ganz gegenteilig aber die Gesinnung der feinen Herren. Sie sind gekommen, um bei «Lutter & Wegner» ihre Kehlen zu kühlen und prickelnde Unterhaltung zu genießen. Entsprechend aufgeräumt begrüßen die Connaisseure der klingenden Künste den unglücklichen Hoffmann, der mit seiner als Freund Nicklausse verkleideten Muse erschienen ist, und fordern ihn auf, ein Ständchen zu geben. Gewünscht, getan: Der Dichter singt die Ballade von «Klein Zack». Tosender Applaus. Aber sogleich erwächst der Wunsch nach mehr «Stoff». Die Affen wollen Zucker. Und sie kriegen ihn.
Doch nicht nur sie. Auch das Publikum der Deutschen Oper Berlin wird in den folgenden vier Stunden reichlich verwöhnt – in erster Linie von einem Bühnenbild, das gleichermaßen fantastisch wie hochkompliziert zu bedienen ist. Chantal Thomas heißt die Künstlerin, die es für Jacques Offenbachs «Les contes d’Hoffmann» ersann. Und sagen wir es rundheraus: Dieses (Wandel-)Bild ist ein Meisterwerk der Verführung, Vorspiegelung und (auch im Freud’schen Sinne) Verschiebung. Es ist verwinkelt und vertrackt, voller Magie, gespickt mit Irr- und Abwegen. Ein Traumzauberhaus, das nie zur Ruhe kommt und immer neue Formen annimmt, die aber in jeder Sekunde zum Wesen und Inhalt dieser opulenten, von Agathe Mélinand mit frischen Dialogen versehene opéra fantastique passen. Für die Bühnenarbeiter des Hauses bedeutet das «Fahren» des mehrteiligen, mindestens doppelbödigen Kolosses Schwerstarbeit, das hört man zuweilen, wenn es dort droben, im Tempel der Fantasie, quietscht, knarzt und knackt. Aber das stört keinen großen Geist.
Auch deswegen nicht, weil Laurent Pellys Inszenierung, die 2005 in Lyon herauskam – als Koproduktion mit dem Gran Teatre del Liceu in Barcelona und der San Francisco Opera – und für Berlin von Christian Räth wiedereinstudiert wurde, virtuos und grandios mit dem Phänomen Theater spielt. Theater ist Illusion, zweite Realität, Ermöglichungsraum. Aber manchmal auch ein Inferno aus dem Geiste des Grand-Guignol. Jedenfalls für den armen Hoffmann, der sich – in Gestalt des schwedischen Tenors Daniel Johansson – mit lodernder vokaler Intensität gegen seine eigene Vergangenheit stemmt, letztlich aber nicht verhindern kann, dass sein Schicksal die Not ist. Und der Tod der Geliebten. Olympia, die Puppe: zerstört. Antonia, die zarte Schöne, die nicht singen sollte: zernichtet. Giulietta, die Kurtisane des Teufels, vom Dichter erstochen mit Dapertuttos Degen. Und exakt in dieser Reihenfolge: Der Giulietta-Akt rückt an die vierte Stelle. Dramaturgisch ist es plausibel, weil szenisch begründet: Der Mord an der schwarzen Edelspinne bildet den Gipfel von Hoffmanns Höllenfahrt.
Cristina Pasaroiu ist die perfekte Besetzung für diese Rollen (zu denen sich diejenige der Primadonna Stella noch gesellt). Ihr Sopran atmet Kühle, Kalkül, koloraturblitzenden Esprit. Er turtelt und funkelt in der Höhe, schwelgt schmerzensreich lyrisch in der Mittellage, sitzt felsenfest auf gutturalem Grund. Toll. Wie der Rest des Casts: Alex Esposito zeigt als Lindorf, Coppélius, Miracle und Dapertutto die ganze Bandbreite seines enormen Könnens. Flexible Stimme, farbenreich, dunkel basiert. Hier ein schwarzer, furchterregender Bass, wie er in Hoffmanns Buche steht, zunächst Advokat des Satans, bald der Satan selbst. Gegen ihn hat auch La Muse alias Nicklausse keine Chance. Irene Roberts nutzt sie dennoch, strahlt an der Seite des Dichters luzid-kristalline Klarheit aus, vokal wie darstellerisch. Gideon Poppe schließlich kippt mit kapitalem schauspielerischem Talent und tenoraler clarté den selbst noch in diesem letzten, «philosophischen» Offenbach-Opus vorhandenen Schuss Humor in die Chose.
Grundiert wird das Ganze von einem Feuerwerk an orchestralen Farben. Enrique Mazzola entlockt sie dem Orchester der Deutschen Oper mit höchstmöglicher Grandezza. Zuweilen gehen ihm die Pferde durch; einzelne Chornummern wackeln bedrohlich, aber das tut dem Erfolg dieses Abends keinen Abbruch. Wenn man hernach in die Kälte hinaustaumelt, weiß man für einen Augenblick gar nicht, was Realität ist und was Rausch. Kann es Schöneres geben?
Jürgen Otten
https://www.deutscheoperberlin.de/de_DE/calendar/les-contes-d-hoffmann.15108489