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Absurdes Theater in Moskau

Eindrücke vom Schauprozess gegen Kirill Serebrennikov

Ein Besuch bei der Gerichtsverhandlung gegen Kirill Serebrennikov: der erste Verhandlungstag des Strafprozesses «Siebtes Studio» – Moskau, Meschtschanskij Sud, am 7. November 2018

Die auf 10 Uhr angesetzte Verhandlung wird nicht im Basmannij Sud abgehalten, in dem die Voruntersuchung stattfand, sondern im Bezirksgericht Meschtschanskij, ebenfalls nur wenige Gehminuten vom Leningradskaja Hotel und dem «Platz der drei Bahnhöfe» entfernt. Vor dem Einlass werden unsere Personalien aufgenommen. Das neu errichtete Behördenhaus wurde erst kürzlich eröffnet, «uns und Kirill zu Ehren», wie der Dramatiker Valerij Pecheikin ironisch anmerkt; es fände sich derzeit wohl kein zweites ebenso gepflegtes Gerichtsgebäude in Russland. Im Vestibül wird ein digitaler Info-Screen vom gusseisernen Halbrelief einer überlebensgroßen Justitia im Tsereteli-Stil dominiert. Beide Objekte scheinen nicht der gleichen Epoche anzugehören. Das Spruchband, das das Haupt der Allegorie umschwebt, verkündet auf Latein und Russisch: «Die Wahrheit fürchtet nichts als ihre Verschleierung.»

Im Flur des vierten Stocks drängen sich Vertreter der Intelligenzija wie die Schauspielerin Xenia Rappaport, die auch im Westen vielgelesene Autorin Ludmila Ulitzkaja oder der Komponist Alexander Manozkov, neben ihnen viele junge und sehr junge Menschen. Zunächst wird noch im Flur nach Zeugen gefragt. «Zeugen? – Wir alle sind Zeugen!», erhebt einer der Wartenden seine Stimme: Alle die gekommen sind, sind aus der Überzeugung hier, dass es sich bei dem bevorstehenden Prozess «nicht um ein juristisches, sondern um ein Ereignis mit historischer Tragweite» handelt, wie die unabhängige «Novaja Gazeta» am nächsten Tag formulieren wird.

Es ist eng und schwül im Flur, aber man meint es gut mit uns, ein Luftzug versorgt uns mit Sauerstoff. «Da kommt die Macht!», tönt es aus der Reihe der Wartenden: Ein schlanker Mann in Uniform, der diesen Zwischenruf mit einem nicht uneitlen Lächeln quittiert, betritt an uns vorbei den Verhandlungsraum. Zu den beiden eher zurückhaltenden Gerichtsdienern tritt ein dritter Beamter, der einen Kasernenton anschlägt: «Zwei Schritte zurück!», werden die nach dem Einlass der Journalisten Nachdrängenden angeherrscht. Ich bin einer der Letzten, der noch Platz findet, viele werden zur Direktübertragung der Verhandlung in den 8. Stock verwiesen – auch dort müssen Überzählige noch abgewiesen werden.

Um 10.03 Uhr wird die Tür geschlossen, dann erfolgt der Einlass zunächst für die Fotografen, anschließend für die Kameraleute – während die Gerichtsdiener den Countdown der ihnen verbleibenden Zeit skandieren. Die Tentakel der Mikrofone werden auf die vier Angeklagten ausgefahren, die in der ersten Reihe Platz genommen haben. Kirill Serebrennikov, rechts neben ihm der Platforma-Produzent Alexei Malobrodskij, die ehemalige Mitarbeiterin des Kulturministeriums Sophia Apfelbaum und Direktor Jurij Itin. Die Anwälte sitzen über Eck, zwischen den Angeklagten und dem Richter-Podest.

Es folgen lange Sekunden der Stille. Neben mir zeichnet eine junge Frau den Gerichtssaal. Fotografieren ist nicht erlaubt, aber der Ton darf mitgeschnitten werden. Viele informieren in Echtzeit via Internet über den Gang der Ereignisse. Den Verhandlungsraum, in dem etwa 60 Menschen Platz gefunden haben, ziert kein Gitterkäfig – in einem solchen war der prominenteste Angeklagte nach seiner Verhaftung im August 2017 präsentiert worden –, nur ein Glaskasten, der heute unbenutzt bleibt. Auf der Richtertribüne drei gepolsterte hochlehnige Stühle, deren mittleren das russische Staatswappen ziert. Der Doppeladler als in Plastik getriebenes Hochrelief lässt in Verbindung mit Kunststoffverblendungen in Edelholz-Optik an gefälschte Luxusartikel denken. Durch die mit Stoff-Jalousien abgedeckten Fenster dringt hellgelbes Licht: Es ist ein selten sonniger Spätherbsttag unter blauem Himmel.

Die regelmäßig eintretende Stille ist es, die mich immer wieder am meisten verblüfft; in den folgenden fünf Stunden klingelt ganze zwei Mal kurz ein Handy auf – und wird sofort abgewürgt; für russische Verhältnisse durchaus ungewöhnlich. Als die Verhandlung eröffnet wird, glaube ich den Grund zu erkennen: Die Richterin wäre ansonsten vollkommen unhörbar. Sie hat den mittleren Platz eingenommen. Der Doppeladler überragt ihren Kopf um einen halben Meter, sie selbst ragt kaum mit den Schultern hinter ihrem Tisch hervor. Sie spricht extrem gedämpft – aber nicht unfreundlich. Als wolle sie es niemandem, auch sich selbst nicht, unnötig schwer machen. Aus dem Auditorium ergeht die Bitte, das Mikrofon, vor dem sie sitzt, doch besser zu nutzen. Sie präzisiert, dieses sei nicht zu ihrer besseren Verständlichkeit, sondern zum Aufruf von Zeugen bestimmt. Insgesamt wirkt es fast betulich, wie «Euer Ehren» Natalja Akuratova aufgeht in ihrer Arbeit, man wäre nicht überrascht, wenn sie irgendwann unbeschwert vor sich hinzusummen begänne.

Ich muss an die Tradition der russischen Literatur denken, parodistisch gezeichnete Charaktere mit einem sprechenden Namen zu versehen: «akuratno» entspricht in etwa der deutschen Bedeutung dieses Wor­tes. Sie ist mittelalt, trägt halblanges brünettes Haar, unter ihrem Pony schaut sie kaum auf. Sie verliest die Formalien, die angeklagten Solisten und gelegentlich auch das Corps de ballet des Auditoriums stehen wiederholt dafür auf. Serebrennikov, der an Körpergröße alle drei Mitangeklagten überragt, trägt an den Verhandlungstagen mit Botschaften bedruckte T-Shirts. Heute lautet der Schriftbalken auf seinem Rücken: «ЖГИ» – «BRENNE», ein Zitat aus Puschkins Gedicht «Der Prophet», das Rapper Husky bei Serebrennikovs letzter Premiere im Gogol-Zentrum mit Puschkins «Vier kleine Tragödien» skandierte. 

Bei Überprüfung der Personalien sendet die Richterin eine kleine Spitze an Kirill, indem sie durch Rückfrage glaubt sicherstellen zu müssen, dass es sich beim Gogol-Zentrum, dessen künstlerischer Leiter er ist, in Wirklichkeit um das Staatliche Akademische Gogol-Theater handele – als wolle sie den künstlerischen Befreiungs- und Erneuerungsschlag, mit dem Kirill diese Institution aus ihrem postsowjetischen Dornröschenschlaf wachgeküsst hat, ungeschehen machen oder für bedeutungslos erklären. 

Ein Vertreter des Kulturministeriums unterstreicht den Anspruch seiner Behörde, in dieser Causa als Geschädigter aufzutreten. Auf die Aufforderung der Richterin, zu benennen, wen er für die angeblich verschwundene Summe haftbar mache, antwortet er: «Die Geschädigten.» Die Richterin muss ihn darauf aufmerksam machen, dass er offenbar die «Beschul­digten» mit den «Geschädigten» verwechsele. Grinsen und gedämpftes Kichern im Auditorium.

Anschließend verliest der uniformierte Staatsanwalt die Anklage: Dass die Angeklagten auf Anweisung von Serebrennikov und unter Schädigung der Staatskasse eine Verbrecherorganisation gegründet hätten, mit dem Ziel der persönlichen Bereicherung; und dass sich das Gaunersextett (die vier anwesenden Angeklagten plus der abwesenden Buchhalterin und Kronzeugin der Anklage Nina Maslajeva und der geflohenen Produzentin Katja Vorona) Subventionen erschlichen und sich dabei gegenseitig gedeckt habe. 

Auf konkrete Beweise wartet man vergeblich. Stattdessen wird akribisch jede einzelne Zahlungstranche aus dem Kultusministerium aufgesagt, Daten, Aktenzeichen, Adressen, Geldbeträge, Bankverbindungen; unermüdlich, mit nicht nachlassendem Tempo, werden Summen benannt, deren ordnungswidrige Umwandlung in bar auf Anweisung des Syn­dikats durchgeführt worden sei. Nur ganz allmählich, nach der ersten halben Stunde, werden leichte Verschleifungen in der Artikulation des Prokurors spürbar, irgendwann nimmt man nur noch die mantrahafte Wiederholung von Leerformeln wahr («straff organisierte Bande mit klarer Rollenverteilung», «in habsüchtiger Absicht», «der kriminelle Charakter des Vorgehens»), bevor den Staatsanwalt nach anderthalb Stunden die Erschöpfung seines Auditoriums selbst zu ereilen scheint. Sein Fazit: Die vom Syndikat erbeutete Gesamtsumme betrage 133 Millionen Rubel (= 1.727.178,44 Euro).

Offenbar hat sich niemand veranlasst gesehen, die Anklage, deren Unhaltbarkeit schon im Vorfeld wiederholt analysiert worden war, nachzubessern. Unerschütterlich wird ignoriert, dass diese Anklage die ordnungswidrige Umwandlung in Bargeld (die zur effektiven Realisierung von Staatsaufträgen in Russland freilich unumgänglich ist) kommentarlos gleichsetzt mit Hinterziehung – eine Gleichsetzung, für die auch nach russischem Recht jede juristische Grundlage fehlt. Und eine Zahl, die allerwichtigste, ist nicht genannt worden: nämlich die Kosten des Gesamtprogramms von Platforma. Es ist auch klar, warum: Wenn man diese von der angeblich veruntreuten Summe abzöge, bliebe gar kein Betrag mehr übrig, der zur persönlichen Bereicherung hätte abgezweigt werden können.

Das Wort ergreift Itins Anwalt, sprunghaft steigt der Aufmerksamkeitspegel, die Journalisten beginnen wieder aktiv mitzustenografieren. Ebenso wie die anderen drei Anwälte und alle vier Mitangeklagten weist er jedes Schuldeingeständnis zurück. Apfelbaum: «Ich habe keine Straftat begangen. Ich verstehe nicht, was mir vorgeworfen wird, in welcher konkreten Form habe ich mich an welcher Straftat beteiligt?» – «An Hinterziehung», antwortet Akuratova, freundlich wie eine Kindergärtnerin. Dann dekretiert sie 20 Minuten Pause. 

Um 12.47 Uhr geht es weiter, die Zahl der Zuhörer hat sich nur geringfügig verringert. Apfelbaum erklärt, dass sie in Finanzdingen gar nicht zeichnungsbefugt war. Die bürokratischen Abläufe habe sie ebenso eingehalten wie alle vor oder nach ihr in dieser Position Beschäftigten. Malobrodskij: «Auch mir ist nicht klar, was mir vorgeworfen wird, es bleibt völlig unverständlich.» Als die Richterin Luft holt, ergänzt er: «… und das liegt nicht daran, dass ich die russische Sprache nicht ausreichend gut beherrsche. Was sind das für Schauergeschichten? Auf welche konkreten Umstände und Vorgänge beziehen Sie sich, bitte?» Während er redet, scheint Akuratova mit Schreibarbeiten beschäftigt, mit abgewandtem Gesicht dreht sie nur ab und zu die Augen in seine Richtung.

Auch Serebrennikov bezeichnet das Geschehen als absurd: «Die Worte sind verständlich, ihr Sinn nicht.» Akuratova nimmt das mit dem Stoßseufzer «Setzen Sie sich!» zur Kenntnis, wie ein bisschen enttäuscht von einem versetzungsgefährdeten Schüler, der wieder die falsche Antwort gegeben hat. Serebrennikovs Anwalt Charitonov verweist auf die durchgeführten 360 Veranstaltungen, auf die Zahl der erreichten Zuschauer etc. Auch er verweist darauf, dass die Vorwürfe sachlich nicht nachgewiesen wurden: «Alles fand statt, was soll denn wie geklaut worden sein?» In Blick und Ausdruck der Richterin meine ich, eine Erstarrung und Anspannung zu spüren.

Der erste Verhandlungstag endet mit dem Beginn der von der Verteidigung angekündigten Befragung von 400 (!) Zeugen – jener Zeugen, die die Ermittler sich standhaft geweigert hatten, in der Vorverhandlung anzuhören. Ob das Gericht dem zustimmen wird, ist fraglich. Als Erster tritt Serebrennikov in den Zeugenstand. Charitonov fragt nach der Geschichte der Platforma, ihren Organisations- und Produktionsstrukturen. Serebrennikov: «Die Idee war im Jahr 2011 aus einem Treffen mit dem dama­ligen Präsidenten Medwedjew hervorgegangen, der zu einem Brain­stor­ming mit Künstlern und Kulturschaffenden geladen hatte, um seine Agenda der Innovation auch im kulturellen Bereich zu befördern.» 

Serebrennikovs Konzept einer genreübergreifenden Veranstaltungsreihe, die zeitgenössische Theater-, Tanz-, Musik- und Medienkunst präsentiert, habe die Zustimmung der Politik gefunden: «Der zur Verfügung gestellte Gesamtetat entsprach einem mittleren Theaterbudget. Auf die Frage nach der Finanzierungsstruktur hieß es aus dem Ministerium: Macht, wie es für euch am vernünftigsten, am bequemsten ist, wie es üblich ist.» – «Wer war mit der Organisation befasst?» – «Itin, den ich dafür eingeladen hatte, denn dafür werden hochqualifizierte Leute gebraucht.» – «Was tut ein künstlerischer Leiter? – «In meiner Verantwortung lagen die künstlerischen Prozesse und das Programm. Alles andere: not my cup of tea. Maslajeva habe ich nie irgendeine Anweisung gegeben. Unterschrieben habe ich nur die Rahmenverträge, in denen die Bedingungen formuliert sind, unter denen ich mich verpflichtet habe. Ich hatte keine Verwaltungsaufgaben. Ich musste einen künstlerischen Dreijahresplan konzipieren und realisieren, und das habe ich getan.» 

Die Richterin ist nach wie vor in ihre Hausaufgaben vertieft. – «Warum nicht auch die Geschäftsführung?» – «Da ich mich in Finanzierung und Buchhaltung nicht auskenne, brauchte ich einen Spezialisten.» – «Kontrollierten Sie die Arbeit Itins?» – «Das war nicht meine Aufgabe, und es gab auch keine Veranlassung. Jede Veranstaltung musste durchgeführt und pünktlich herausgebracht werden, wir hatten gar keine Zeit, uns mit anderem zu befassen. Wir mussten aus dem Nichts ein Theater schaffen. Die sogenannte Weiße Zeche im Kulturzentrum Vinsavod war ein vollkommen leerer Raum, wir mussten ihn in ein Theater verwandeln, technisch ausstatten, eine Infrastruktur, Zuschauertribünen, Garderobenbereiche etc. schaffen. Die offizielle Eröffnung war im Oktober 2011. Das erste Geld vom Kulturministerium haben wir erst im März 2012 erhalten, wir haben zunächst praktisch ohne Budget gearbeitet, daher haben wir bei Freunden dafür privat Kredite aufgenommen, auch Itin hat persönliche Mittel vorgestreckt.» – «Haben Sie die Auszahlungen an ihre Mitarbeiter kontrolliert?» – «Wenn sich keiner beschwert und motiviert gearbeitet wird, kann ich davon ausgehen, dass alle richtig und pünktlich bezahlt werden.»  

Nach Aufhebung der Sitzung finde ich Gelegenheit, auf Kirill zuzugehen, der mich begrüßt und Informationen zu seiner Hamburger «Nabucco»-Inszenierung im Frühjahr 2019 an mich weitergibt. Er vermittelt mir das Gefühl, dies sei das einzige, was an diesem Tag wirklich zählt und Bedeutung hat.

Die Erkenntnis, die sich dem Beobachter nach diesem ersten Verhandlungstag aufdrängt, ist folgende: Das bewusste Ausblenden des im Rahmen der Platforma logistisch, künstlerisch und kommunikativ Geleisteten durch den Justizapparat ist nur vermeintlich widersinnig oder absurd. Es enthält die entscheidende Botschaft und verweist negativ auf die Wahrheit: Bestraft werden Serebrennikov und seine Mitstreiter nicht für den Verrat ihrer staatsbürgerlichen und künstlerischen Verantwortung zugunsten persönlicher Bereicherung, nein – bestraft werden sie für das Vermögen, ein breites und jugendliches Publikum für Erscheinungsformen der zeitgenössischen Kunst interessiert und begeistert zu haben. 

Der damalige Kulturminister hatte Serebrennikov überschwänglichste Dankesadressen zukommen lassen für den über alle Erwartungen hin­ausgehenden Erfolg dieser Mission. Das heutige Kulturministerium, das mit Wladimir Medinski einem Werbefachmann unterstellt wurde, sieht eine seiner Hauptaufgaben darin, alle Spuren der unter Medwedjews Interims-Präsidentschaft propagierten «Innovation» auszumerzen zugunsten der Förderung angeblich «traditioneller Werte», deren Interpretation immer ungenierter ihre chauvinistische Stoßrichtung zeigt. Nur scheinbar paradox wird Serebrennikov dafür abgestraft, dass er den gesellschaftlichen Auftrag erfüllt hat, denn nach der Logik seiner Ankläger, die man wahlweise als pervers oder naiv bezeichnen kann, war dieser Auftrag ein Angriff auf die derzeitige Agenda des Kulturministeriums.

Medinski, der Kultur als Fortsetzung der Staatspropaganda mit anderen Mitteln definiert, mag sich subjektiv wirklich als der Geschädigte fühlen: Die Gelder seiner Behörde wurden zwar nicht im justitiablen, wörtli­chen Sinne veruntreut, aber im metaphorischen Sinn. Ihre Verwendung zur Durchführung der Platforma sowie die aus ihr hervorgehende Eröffnung des Gogol-Zentrums konterkariert seine bigotte militaristische und nationalistische Ideologie. Serebrennikov, der ohne ideologische Scheuklappen arbeitet und in seinem Schaffen grundsätzlich keine Feindbilder kennt, muss in Medinskis Kulturkampf notwendig zum Feindbild werden. 

Die Vollzugsbeamten, die Serebrennikov nach seiner Festnahme am Set seines Films «Leto» von Petersburg nach Moskau brachten, sollen ihn auf der neunstündigen Tour ausschließlich auf seine Kunst angesprochen haben. Auf die angebliche persönliche Bereicherung habe keiner von ihnen Bezug genommen, wohl aber in anzüglicher Weise darauf, dass er in seinem Theater Schauspieler nackt auftreten lasse und dass sogenannte zeitgenössische Kunst doch wohl auch von den eigenen Kindern geschaffen werden könne. Ohne zu wissen, wohin die Reise geht, soll Serebrennikov mit seinen Wächtern ausgehend von Malewitschs schwarzem Quadrat über moderne Kunst diskutiert haben – dies sei besser gewesen, als sich über quälende Fragen den Kopf zu zerbrechen, auf die keine Antwort zu erwarten war.

Sergio Morabito

Sergio Morabito ist Produktionsdramaturg von Verdis «Nabucco» in der Regie Kirill Serebrennikovs an der Staatsoper Hamburg. Premiere ist am 10. März 2019.

Die Zeichnungen stammen von Anna Sarukhanova, www.annasarukhanova.ru