Inhalt

Eine Gans reicht nicht ganz

Weihnachten im Theater

Überall ist am Heiligen Abend fast alles dicht, selbst in Berlin. Darum veranstalten wir schon seit vielen Jahren größere oder kleinere Weihnachtsessen. Mit lauter besten Freunden. Berlinern und Besuchern.

Da wir nach dem Abendbrot nicht wie früher in die Christmette gehen können – in Berlin gibt es, anders als beispielsweise in Bayern oder Münster, woher wir gebürtig sind, keine wirklich überzeugenden Aufführungen, pardon: Angebote –, fehlt es doch sehr am großen Lametta mit Weihrauch und Orgelgebrause. Eine Gans reicht nicht ganz.

Alle wollen zumindest am Tag drauf was Dramatisches erleben. Die Zugereisten natürlich erst recht. Also: Theater muss sein. War ja auch mal der Kampfruf des Deutschen Bühnenvereins. Ist aber während der Feiertage gar nicht so leicht, das mit etwas Anspruch zu verwirklichen. Vorausschauend checke ich immer Mitte November die Berliner Theaterspielpläne, zuerst die der Opernhäuser. Oper ist einer guten Christmette doch am ähnlichsten. Ja, wahrscheinlich war die katholische Messe die wahre Wiege aller Opern.

Der beste aller besten Freunde, Herr M., ein nicht sonderlich theateraffiner Professor für Pflegewissenschaft aus Westdeutschland, rät sofort richtig, als ich ihn während dieser Sichtungsphase am Telefon frage, was wohl in der Deutschen Oper gespielt werde an Weihnachten: «Nussknacker»! Wenn Prof. M. richtig rät, muss da was falsch laufen. Die Marketingmaschine operiert eindeutig zu erwartbar, nicht überraschend... Aber vielleicht ist genau das richtig an Weihnachten, dem Fest der –– Gewohnheiten? Wie die Gans?

«Der Nussknacker» läuft am Berliner Staatsballett im Dezember insgesamt 8 x. Das ist aber nicht Rekord. An der Dresdner Semperoper steht Tschaikowskys Werk 11 Mal auf dem Spielplan nach dem Motto: «Tschaikowskys ‚Nussknacker’ gehört schon fast genauso zu Weihnachten wie der Dresdner Stollen». Das kann man dort im Programm tatsächlich lesen; ehrlich ist es, immerhin.

Die Hamburger Staatsoper hat den «Nussknacker» in John Neumeiers Choreographie nur Ende Dezember und nur 2 Mal angesetzt, dafür Anfang Januar dann gleich 7 Mal; es scheint so, als liefe das Weihnachtsprogramm etwas norddeutsch zurückhaltend erst nach dem Fest so richtig an. Doch der Grund ist ein anderer: Neumeiers Produktion ist zuvor als gutes Geld scheffelndes Gastspiel an der Bayrischen Staatsoper programmiert – mit gleich 5 festumkränzenden Vorstellungen. Die Wiener Staatsoper begnügt sich dagegen mit 4 «Nussknacker»-Terminen; hier ist eine uralte Choreographie von – man staune! – Rudolf Nurejew (+ 1993) zu sehen.

Zurück nach Berlin, in die peu-a-peu fast schon wiedereröffnete Staatsoper: Die häufigste Aufführung im Dezember heißt hier «Führung» (23 mal in der Vorschau). Berlin-Besucher wollen womöglich vor allem das renovierte Gebäude sehen – nicht unbedingt etwas auf der Bühne. Auch eine Möglichkeit zu sparen. Wobei die Operndirektion auf Nachfrage sicher glaubhaft versichern würde, dass solche Führungen die sonst nicht opernaffinen Besucher zur Oper hinzuführen... Deshalb fragen wir lieber gar nicht nach.

Auch sonst lässt man marketingmäßig nichts anbrennen, was weihnachtlich zünden könnte: Es gibt 7 Mal «Hänsel und Gretel». Am 25. allerdings «Falstaff». Humperdincks Oper «Hänsel und Gretel» ist der andere Dauerrenner zur Weihnachtszeit: Im Dezember in Dresden 4 Mal zu sehen, in Frankfurt 6 Mal, in München 6 Mal, in Wien nur bescheidene 4 Mal.

Dramaturgische Phantasie sieht anders aus, oder? Also suchen wir für unsere Berliner Gans-Gäste und Theater-Besucher mal im dortigen Schauspiel nach Dramatischem, das die fehlende Christmette kompensieren könnte.

Das Deutsche Theater bietet am 25. «Nathan der Weise» und Thomas Bernhard «Alte Meister», Gediegenes aus der Bildungsbürgerkiste. Aber am zweiten Feiertag traut man sich zu «Cry Baby» von René Pollesch und «Medea. Stimmen», einer Adaption von Christa Wolfs Roman. Das ist schon etwas gewagter: Intendant Ulrich Khuon, im Zweitberuf auch Präsident des Deutschen Bühnenvereins, weiß: Theater muss sein (Kampfruf, s. o.) und braucht dafür Vielfalt, nicht Einfalt (s. «Hänsel und Gretel», s. «Nussknacker»).

Das Berliner Ensemble setzt am Ersten Feiertag auf leichtere Kost, Yasmina Rezas pointenseliges Omelette Surprise «Kunst»; erst am Zweiten folgt das blutschwere Drama: «Macbeth» in Heiner Müllers Version, dargereicht von Michael Thalheimer mit der großartigen Constanze Becker als machtgieriger Lady. Gastfreundlicher Belastungswechsel zwischen Nachspeise (als Vorspeise) und deftigem Hauptgericht.

An der Schaubühne kocht der künstlerische Chef persönlich: Thomas Ostermeier lässt am 25. «Professor Bernhardi» ins wienerisch antisemitische Messer laufen; und am 26. gibt es seine Inszenierung von Horváths «Italienische Nacht».

Das kleinere Gorki Theater präsentiert am 25. Yael Ronen «Winterreise» wie folgt: «Das neu gegründete Exil Ensemble des Gorki – bestehend aus professionellen Neuberliner Schauspieler*innen aus Afghanistan, Syrien und Palästina – unternimmt eine zweiwöchige Bustour durch das winterliche Deutschland, mit einem Abstecher in die Schweiz. Welchen Blick werfen Maryam Abu Khaled, Hussein Al Shatheli, Karim Daoud, Tahera Hashemi, Mazen Aljubbeh, Kenda Hmeidan und Yael Ronen auf dieses Exil-Land?»

Der Gorki-Spielplan verspricht also das perfekte multikultilinguale und Gewissen beruhigende Weihnachtsmärchen... Am Tag drauf gibt es dann eine Revue, Misha Spolianskis «Alles Schwindel». Die würde man eigentlich an Barrie Koskys «Komischer Oper» erwarten, doch die wuchtet am Ersten Feiertag Erich Korngolds «Die Tote Stadt» auf die Bühne. Erst am Zweiten gibt es datumsgerecht einen Kessel Buntes auch hier: am Vormittag «Der Zauberer von Oz», abends dann «Anatevka».

Nirgends gibt es in Berliner Schauspielhäusern gottseidank Alain Ayckbourns «Schöne Bescherung», nirgends Aleksandr Vvedenskijs «Weihnachten bei den Ivanovs». Sind die Schauspiel-Dramaturgien vielleicht doch klüger? Oder fällt es nur schwerer, ein Weihnachtsprogramm so gleichförmig dumm zu gestalten wie in der Oper, wenn das Repertoire einfach viel zu groß ist, um in kollektiver Erblindung «Hänsel und Gretel», «Der Nussknacker» etc. anzusetzen?

Wohin wir gehen, steht überhaupt noch nicht fest. Aber sicher nicht in diese beiden Dauerrenner.

Oder doch mal wieder Fernsehen? Das ZDF bietet in seiner Pressemappe die folgenden Highlights zum Fest: «Heidi», «Horst Lichter sucht das Glück», «Die Helene-Fischer-Show», «Timm Thaler», «Ein Pfarrerin packt aus», «Das Traumschiff» und «Kreuzfahrt in Glück». Das geht nun gar nicht.

Stattdessen ins Kino? Als deutscher Blockbuster ist ab dem 23.12. Caroline Links Verfilmung von Hape Kerkelings Bestseller «Der Junge muss an die frische Luft» flächendeckend zu sehen. Vielleicht gehen wir doch einfach nur spazieren. Wenn das Weihnachtswetter danach ist.

Während der Verfertigung dieser Gedanken beim Schreiben kommt mir jedoch die klare Erkenntnis: Dieses Jahr gibt es bei uns keine Gans. Vielleicht Kapaun. Oder Karpfen. Abwechslung muss sein, im Speise- wie im Spielplan.

Michael Merschmeier

Links zu allen Spielplänen im deutschsprachigen Raum finden Sie unter: https://www.der-theaterverlag.de/serviceseiten/theaterlinks/