Rezensionen 19.10.
Prokofjew «Krieg und Frieden» in Nürnberg
Zum Prädikat «letztgültig» hat es nicht mehr gereicht. Die «Uraufführung» 1959 in Moskau, sechs Jahre nach dem Tod Sergej Prokofjews, ist eher als Director’s Cut einzuordnen. Und wer weiß, was noch geworden wäre: ein, zwei Bilder weniger? Eine Straffung und Glättung, damit verbunden eine Verharmlosung der Tonsprache? Oder, angesichts des heraufdämmernden Ost-West-Konflikts, eine zusätzliche patriotische Aufwallung? Vielleicht ist «Krieg und Frieden» weniger widerstreitend, als mancher Essay das glauben macht. Die streichergestützte Süffigkeit à la Puccini, die karikierende Klanglichkeit der Franzosen-Bilder, die vielen Gesichter des leitmotivischen Moll-Walzers, die ätherisch-ungreifbare Utopie, Momente des Brachialen – man kann das auch verbinden, logisch auseinander entwickeln und aufeinander beziehen. Joana Mallwitz führt es vor.
Es ist ihr Abend, diese erste Opernpremiere einer neuen Ära am Staatstheater Nürnberg. Immer wieder schaut man verwundert in den Graben und stellt fest: Das sind tatsächlich dieselben Musiker. Doch wie vielschichtiger, klangbewusster das Orchester agiert, das darf sich die Generalmusikdirektorin, die so ermunternd ihr bestechendes Handwerk ausspielt, allein auf ihre Fahnen schreiben. Im Zusammenwirken mit dem Regisseur hat sie das Opus klug gekürzt. Jens-Daniel Herzog, der neue Intendant, hat vor allem den zweiten (Kriegs-)Teil zusammenschnurren lassen. Es gibt operative Eingriffe in die Massenszenen, Kutusows Kriegsrat im zehnten Bild fehlt komplett, nur die große Arie des russischen Feldherrn blieb übrig. Eine Beschwörung ferner großer Zeiten, das Zitieren einer ungreifbaren Idealfigur, so wird sie von Nicolai Karnolsky auch gesungen.
Das passt, weil es Herzog weder um historisches Abbild noch um penetrante Aktualisierung geht. Auf der schwarzen, rohen Bretterbühne von Mathis Neidhardt, die sich schnell zu neuen Räumen formieren kann, zeigt Herzog Kontinuitäten und Parallelen russischer Geschichte, ohne sie auszustellen. Eine politisch gemeinte Produktion, die keinen Konzeptdruck braucht. Herzog gelingt es, selbst kleinsten Partien Tiefenschärfe zu geben. Auf der Bühne ereignet sich Geschichte, vor allem aber registriert man viele Geschichten. Die 13 Bilder sind souverän verzahnt zur dunklen Revue. Und der Krieg, von dem sich diese Gestalten (Kostüme: Sibylle Gädeke) Rettung aus der Selbstumkreisung erhoffen, ereignet sich als schmucklose Groteske ohne Ausweg; einmal detonieren Bomben im Takt der Musik.
Nicht unbedingt Andrej, den Jochen Kupfer als einen Fremdgänger spielt und singt, der trotzig um Haltung ringt, ist hier die Hauptperson. Auch nicht Natascha, von Eleonore Marguerre mit lyrisch grundierter Emphase gestaltet. Nein: Im zerrissenen Wesen von Pierre spiegelt sich dieses zwischen Intimität und überforderndem Großmoment schwankende Geschehen. Zurab Zurabishvili kann das Zerknirschte dieses Leidenden hörbar machen, auch den Zorn, der sich in gleißenden Tönen entlädt. Überhaupt gibt es im ganzen Ensemble keinen Ausfall. Auch der Chor ist stark gefordert, bleibt trotzdem metrisch in der Spur und konditionsstark bis zum finalen Ausbruch.
Jens-Daniel Herzog ist nicht nur um Stringenz bemüht. Knappe projizierte Inhaltsangaben halten den Prokofjew- und Tolstoi-Unkundigen bei der Stange. Eine Produktion also für Einsteiger, aber eben auch, in ihren nie aufdringlichen Subtexten, für Fortgeschrittene. Mithin eine Modell-Lösung, auf der Bühne, erst recht im Graben. Was für eine Ansage am Beginn einer neuen Nürnberger Zeitrechnung.
Markus Thiel