Kurt Scheels Filme
Bekenntnisse eines Kinogehers
24 Filmrezensionen hat Kurt Scheel für Das TheaterMagazin geschrieben: Mit diesem Rückblick über seine Liebe zum Film hat er begonnen:
«Viel mehr als das Lachen bleibt uns nicht, das Tanzen und Schweben, ein bisschen Weinen vielleicht, und dann, nach neunzig Minuten, müssen wir das Kino verlassen, können nicht weiter die Realität schwänzen, es geht wieder hinaus in die problematische Wirklichkeit.»
«Kindeswohl»
«Dass sich der junge Mann (Fionn Whitehead) – im Roman spielt er Geige, im Film leider nur Gitarre – dann in die Richterin verliebt usw., deren Ehemann (Tucci) ihr ankündigt, nunmehr fremdgehen zu wollen (seit elf Monaten kein Geschlechtsverkehr!), weil Fiona mehr mit ihrem Beruf als mit ihm verheiratet sei, ist plottechnisch vielleicht ein Sahnehäubchen und des Guten zuviel, aber meinetwegen, wenn es beim Durchdeklinieren hilft.»
«Sicario 2»
«Sicario 2» ist besser als sein Vorgänger, ehrlicher, konsequenter, er zeigt keinen Ausweg, findet keine Ausflucht aus dem großen Schlamassel, in dem wir uns mittlerweile befinden. Die Kartelle haben sich fortentwickelt und ihre Produktpalette erweitert, neben den klassischen Drogen und Waffen handeln sie nun mit Menschen – Migranten sind im Angebot, Flüchtlinge, Asylsuchende, ganz egal, Hauptsache sie bezahlen.»
«The Happy Prince»
«Wir schätzen und verehren ja nicht den fetten, gedemütigten Mann, den Schnorrer, sondern den souveränen Spötter, den brillanten Dichter UND Denker, wie ihn eine Rückblende zeigt: die berühmte Szene, als er nach einer triumphalen Theaterpremiere seinem begeisterten Publikum zu dessen gutem Geschmack gratuliert – solche Mischung aus Eitelkeit, Dreistigkeit und Wahrhaftigkeit, das ist unser Oscar!»
«Tully»
«Es bleibt in höchstem Maße verwunderlich, dass die Menschheit noch nicht ausgestorben ist, seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden funktioniert dieses problematische Fortpflanzungssystem, offensichtlich mehr schlecht als recht, und zweifellos auf Kosten der Frauen, woran sich trotz einiger technischer Verbesserungen (Kaiserschnitt, Windeltwister, Pampers, Babyfon) und der zaghaften Einbeziehung mithelfender Väter, wenigstens in unserem Kulturkreis, im Grundsatz nichts geändert hat.»
«Der Prinz und der Dybbuk»
«Der Prinz und der Dybbuk» ist ein Dokumentarfilm, den man sich im Kino ansehen sollte. Er ist mit Können und Liebe gemacht und klug genug, nicht vorzugeben, die Wahrheit gefunden zu haben. Er präsentiert seine sehr schönen und oft auch sehr komischen Fundstücke – die beiden uralten Kriegskameraden im Interview, die Nachkommen der Familie Waks in Israel, die nicht so genau wissen, ob sie sich Mosches schämen oder mit ihm angeben sollen.»
«Kolyma»
«Kolyma» hat meine beiden Begleiter und mich so angetörnt, dass wir beim Bier nach dem Kino spontan beschlossen, uns jetzt auch andere Filme von Stanislaw Mucha («Absolut Warhola», «Tristia») anzuschauen.»
«The Lady Eve»
«Das ist erstaunlicherweise auch heute noch komisch, obwohl wir doch viel lässiger mit solchen Rollenzuschreibungen umgehen, mit dem ganzen Genderkram, jedenfalls in unserem Teil der Welt; in Saudi-Arabien, ja sogar in Polen sieht das anders aus. Aber unsere Freibeuterin ist so gerissen und charmant und schlagfertig, dass sie oft genug nicht einmal lügen muss, sondern dreist die Wahrheit sagt, als sie ihn kapert; und dann verliebt sie sich auch noch ein bisschen in den süßen, etwas pompösen Gimpel.»
«Isle of Dogs - Ataris Reisen»
«Es ist zum Lachen und zum Weinen, zum Erschrecken und zum Jubeln, es ist ein Wunderwerk und so reich an Witz, Weisheit und zauberhaften Details, an Intelligenz und Naivität, dass man wohl erst beim zweiten oder dritten Sehen diese Schatzkammer einigermaßen überblicken kann. Einer der schönsten, verwunderlichsten Filme der letzten Jahre, an dem man noch lange herumgrübeln wird, wie das bloß passieren konnte.»
«The Death of Stalin»
«Wir haben es bei «The Death of Stalin» (2017, Regie und Drehbuch Armando Iannucci) mit einer Farce zu tun, was bedeutet, dass unsere schöneren menschlichen Züge wie Mitleid und Anstand erst einmal suspendiert sind, bei den Protagonisten wie bei uns, dem Publikum. Leicht verroht schauen wir den schwer verrohten Charakteren auf der Leinwand zu, bei ihrem mörderischen Treiben, das entsetzlich ist, aber auch komisch.»
«Ready Player One»
«Vielleicht ist der Film zu intelligent, zu liebenswürdig, um ein solcher Erfolg zu werden wie Spielbergs Mega-Blockbuster. Vielleicht ist er zu nostalgisch, zu onkelhaft, auch nicht innovativ genug, möglicherweise hat Spielberg-Vermeer hier sein eigenes Werk nur noch einmal kopiert, kein wirklich neues geschaffen – aber wie gut hat er es gemacht! Für Erwachsene mit Abitur oder gar Großem Latinum...»
«Sullivans Reisen»
«Eine wirklich heikle Szene, weil sie haarscharf am Kitsch, das heißt an der Lüge vorbeischrammt, erpresste Versöhnung nannte Adorno so etwas. Es ist aber die Botschaft eines Films, der sich über Filme und Regisseure mit Botschaften lustig macht, über Prätention und Kunstgetue, unsere alten Feinde; eines Films, der immer wieder in komischer, brillanter Weise gegen seine eigenen Thesen verstößt; der also keineswegs dekretiert, man dürfe nur nette, kleine Hollywoodkomödien machen (mit ein bisschen Sex darin).»
«Lady Bird»
«Der Film hat kaum einen Plot, keine irgendwie witzige oder überraschende Handlung, er tut so, als sei er aus der Perspektive der teilnehmenden Beobachtung gedreht: Nun macht mal, sagt die Regisseurin, was ihr eben so macht, 2002 in Sacramento; lasst euch durch uns nicht weiter stören, wir schauen nur zu und filmen das, und dann sehen wir weiter.»
«Der Förster im Silberwald»
«Einer der erfolgreichsten deutschen Filme aller Zeiten ist «Der Förster vom Silberwald» (1954, Regie Alfons Stummer), den ich keineswegs zu meinen Favoriten zähle, der aber in der Geschichte der Bundesrepublik eine bedeutende Rolle spielt. Dabei ist es nicht einmal ein deutscher Film, sondern ein österreichischer und heißt «Echo der Berge»...»
«Liane, das Mädchen aus dem Urwald»
«Bemerkenswert ist der Film nicht nur wegen seines riesigen Erfolgs, es gab zwei Fortsetzungen! Und nicht nur, weil er gute Chancen hätte, auf die Liste der hundert schlechtesten Filme aller Zeiten zu gelangen. Sondern wegen der kolossalen Wurschtigkeit der Produktion, «unter allem Niveau» klingt viel zu vornehm. Es ist eine Mentalität des Scheißegal, die in ihrer Radikalität fast imponiert.»
«Death Wish»
«Ein Film über Rache, der nicht bedenkt, dass die Erfüllung der Rachephantasie moralisch und politisch verhängnisvoll ist, und zwar unabhängig von allen christlichen Dogmen, ist unterkomplex, um nicht zu sagen doof. Das aber ist der Film «Death Wish» (2018, Regie Eli Roth), ein uninspiriertes, von Lustlosigkeit und Desinteresse zeugendes Remake.»
«Unsere Erde 2»
«Die Pottwale, die senkrecht im Wasser schlafen! Und die Glühwürmchen sonder Zahl, die leuchtend zum Liebesspiel einladen. Das Zebrafohlen im reißenden Fluss, es ertrinkt! (Keine Angst, es überlebt.) Es gibt erfreulicher Weise nur sehr wenige Splatterszenen, in denen das Beutetier getötet wird (der Jugendfreigabe sei Dank), meistens entkommt es in letzter Sekunde, und dieses freche Verdrehen der Wahrheit über die Natur und ihre Blutrünstigkeit ist mir ganz recht: Keine Gewalt ist schon immer meine Devise gewesen!»
«Three Billboards»
«Three Billboards ist kein tiefgründiges und etwas schwerfälliges Traktat über Moral und Manipulation, über Recht und Rache, sondern von souveräner Intelligenz und Kunstfertigkeit, springt mit einem Witz elegant über jedes Problem hinweg, anstatt es zu lösen, als sei der Film von den Coen-Brüdern oder Billy Wilder oder Preston Sturges. Erst wenn man das Kino verlässt, amüsiert und agitiert und ein bisschen verstört, beginnt man zu ahnen, dass man einem Test unterzogen wurde.»
«Hellzapoppin – In der Hölle ist der Teufel los»
«Hellzapoppin» ist nicht nur anerkannter Weise eine geniale, mit Kalauern, Jux, Dollerei und atemberaubenden Running Gags vollgestopfte Klamotte, sondern auch ein Musical bzw. eine Musicalparodie (was dasselbe ist) und, nicht zuletzt, eine ziemlich intrikate Reflexion über die Frage des Verhältnisses von Realität und Fiktion – eine filmische Selbstreflexion, die viel subtiler und auch radikaler ist als alles, was der Kunst- und Autorenfilm und die ihn betreuende Filmkritik einige Jahrzehnte später zu dem Thema vorzubringen hatte. Aber indem es 1941 als Klamotte und Klamauk inszeniert war, und auch noch in Hollywood!, haben die kritischen Ernstler in Europa es schlicht übersehen.»
«Wind River»
«Meine etwas vergiftete These lautet also: Es sind wieder einmal die besten Motive – Gerechtigkeit für Indianer, Schluss mit der Diskriminierung! –, die diesem Kunstwerk in die Quere kommen.»
«Shape of Water»
«Shape of Water ist ein zusammengeklaubtes, zusammengeklautes Potpourri dieser Themen und Motive, ein selbstgerechter, verlogener, im strengen Sinne: antiamerikanischer Propagandafilm; und wegen des verfluchten Trump hat so ein Machwerk jetzt Hochkonjunktur. Der Film ist von einem naiven Antirassismus beseelt und scheint nicht zu bemerken, dass er um seinen eigenen rassistischen Kern kreist;»
«The Night of the Hunter»
«Die Flucht der Kinder in einem Boot ist eine der schönsten, verrücktesten, riskantesten Szenen der Filmgeschichte, aus dem Grauen und der Groteske wird nun das reine Märchen: das treibende Boot, im Vordergrund des Bildes die dicke Unke, als würde sie die «little ones» auf der Leinwand (und auch uns, die vor der Leinwand) schützen, ein Käuzchen, eine Schildkröte, Hasen, Schafe – die Tiere, die Natur und der Sternenhimmel, die ganze Schöpfung hält Wacht über die beiden, und in perfekter, in perverser Weise passt dazu, dass Mitchum, die Kinder auf einem Pferd verfolgend, mit tiefer, schöner Stimme ein berühmtes Kirchenlied singt: «Leaning, leaning, safe and secure from all alarms, / leaning, leaning on the everlasting arms.» Blasphemie und Frömmigkeit werden hier eins.»
«Wonder Wheel»
«Ich war durchaus bereit, «Wonder Wheel» eine Chance zu geben, wenn auch nur eine kleine. Vor allem aber sah ich eine gute Gelegenheit gekommen, mir anhand dieses Films meine bereits zwei Jahrzehnte andauernde Enttäuschung über Woody Allen von der Seele zu schreiben, ein kleiner Wutanfall als Einleitung offizieller Scheidungsverhandlungen vielleicht?»
«Die dunkelste Stunde»
«Churchill war in ganz selbstverständlicher Weise Rassist, Imperialist, Krieger (übrigens kein guter Soldat, er wollte immer mittels Protektion die Befehlskette umgehen), ein Kind des Viktorianismus (er war fünfzehn Jahre älter als Hitler!). Und diese schon damals unzeitgemäße Figur – Alkoholiker mit depressiven Schüben, egoman, rücksichtslos, hochfahrend – hat dann tatsächlich die Welt gerettet, fast könnte man sagen: allein.»
Die wahren Meisterwerke des Ingmar Bergman
Und zum Abschluss noch eine unverwechselbare Würdigung zum 100. Geburtstag Ingmar Bergmans:
«In mir habt Ihr einen, auf den könnt Ihr nicht bauen, wenn Ihr Euch begeistert und ergriffen austauscht über «Abend der Gaukler» (hat mir eine Zirkusfilmallergie beschert), «Das siebente Siegel» (schachspielende Tode sind mir seitdem unerträglich), «Wilde Erdbeeren» (eigentlich ganz schön, aber das mit den zeigerlosen Uhren, die das Verschwinden der Gegenwart im Vergehen der Zeit bedeuten sollen oder so ähnlich, hätte er nicht machen dürfen …), «Persona» (filmästhetische Selbstreflexion, die vor Selbstbegeisterung durchdreht, ist peinlich); usw.»