Rezensionen
Schauspiel #2
Göttingen, Frankfurt, München
Florian Donath (Elias), Christoph Türkay (Sascha), Felicitas Madl (Cordula), Florian Eppinger (Adrian) Foto: Georges Pauly/Deutsches Theater Göttingen
Kricheldorf: "Fräulein Agnes" in Göttingen
Wieder ab 21. Oktober im Deutschen Theater
Wie man sich mit einem extrascharfen Mundwerk und den eigenen Schreib- und Schneidwerkzeugen gefährlich verletzten kann, weiß niemand so gut wie Rebekka Kricheldorf. Ihr jüngstes Textsäurebad «Fräulein Agnes» (der vollständige Stückabruck liegt der Novemberausgabe von Theater heute) ist die Blogger-Variante von Molières «Menschenfeind» und gleichzeitig die Antwort auf die Stellung des Künstler-Intellektuellen in der Welt 2.0. Nie war die Verbreitungsgeschwindigkeit von vitriolgetränkten Weisheiten höher, nie ihre Filterblase dichter, nie ihr Selbstzerstörungspotenzial bedrohlicher.
Fräulein Agnes ist nicht mehr die Allerjüngste, blickt auf jahrzehntelange Erfahrung im Umgang und Austausch mit lokalen Künstlern, Performern, Salons, Kunstvereinen und schrägen Kulturvögeln zurück, lebt großzügig und finanziell offenbar sorgenfrei in einer weiträumigen Altbauwohnung, die sie gerne mit Freunden und Freundesfreunden teilt, hat einen jungen, gutaussehenden Lover, dessen Affären sie einigermaßen toleriert, einen angestrengt um ihre Aufmerksamkeit buhlenden erwachsenen Sohn mit zweifelhaften poetischen Singersongwriter-Talenten und bündelt ihre nicht unerhebliche, aus langer Erfahrung gewachsene Beschreibungsfreude und Urteilskraft in einer gern frequentierten Mitteilungsplattform Fräulein Agnes Punkt de. Also eigentlich alles bestens.
Allerdings hat sich aus langjähriger Beschäftigung mit sich und ihresgleichen ein solider Überdruss angesammelt, der sich gleich in den ersten fünf Minuten als fulminante «Ich habe satt»-Wutrede Bahn bricht, die ihr spätbürgerliches Kreativ- und Reflexions-Milieu in Staub und Asche analysiert. Die Autorin Fräulein Kricheldorf schöpft dabei unverkennbar aus den eigenen kunstweltnahen Kulturalisationserfahrungen der letzten 10, 20 Jahre in Theater, Literatur und Kunst sowie aktuellstem Feldwissen im Verfassen ambitioniert phraseologischer Projektförderungsanträge, Stipendienbewerbungen oder sonstiger Intelligenzbetriebsprosa.
Die jeder Kunstkritik innewohnende kompromisslose Wahrheitsfreude treibt ihr Fräulein Agnes dabei etwas weiter als sozial noch zuträglich wäre. Von Freitagabend bis Sonntagvormittag – von der Autorin peinlich genau dokumentiert – gelingt es ihr, den nicht unerheblichen, teilweise jahrzehntelang gewachsenen Bekanntenfreundeskreis einschließlich Sohn vollständig aus ihrem Leben herauszubewahrheiten. Das Problem dabei: Sie hat natürlich völlig recht.
Regisseur Erich Sidler übersieht in seiner Göttinger Uraufführung nicht, dass Fräulein Agnes (Rebecca Klingenberg) außer ihrer verletzend zupackenden Formulierungsfreude und schnellen Reflexen kein Stück besser ist als die von ihr verfrühstückten Geisteszwischengrößen. Auf geschmackvoll leerer Gassenbühne in edel angerostetem Loftstyle schieben sich die Schauspieler in ambitionierten Räkelposen zwischen Dialog-Yoga und Rückenverkrümmung herein: Nur die Münder bewegen sich wie geölt. Zwischendurch sorgen gemeinschaftliche zitteraalartige Tanzeinlagen für kurze Entspannung im Sottisen-Scharfschießen. In gut anderthalb Stunden versammelt sich ein beeindruckendes Arsenal der formvollendet formulierten Kopf-, Brust- und Unterleibstreffer mit zunehmend zerstörerischer Wirkung. Auch Fräulein Agnes muss schwere Einschläge hinnehmen, die sie langsam aus der Körperverspannung heraus- und in die Beziehungsverzweiflung hineinschütteln, kann sich aber über die Runden retten in einen letzten mitreißenden Wut- und Verachtungsmonolog.
Kricheldorfs schonungsloser Blick aufs Weltverbesserung-Milieu der Schönen Künste und ihrer Kenner fällt am Ende reichlich darwinistisch aus: Auch die Geistesbühne 2.0 ist nur ein archaischer Schlachtplatz, auf dem der Fitteste überlebt, wenn auch am Ende ziemlich allein. Gut zu wissen, bevor man als Kritiker wieder mal die Wahrheit schreibt.
Franz Wille
Den gesamten Bericht zu weiteren neuen Stücken finden Sie ab 30. Oktober in der Novemberausgabe von Theater heute.
https://www.dt-goettingen.de/stueck/fraeulein-agnes/
↓ Rezension 2
Wolfram Koch, Katharina Bach, Samuel Simon. Foto: Arno Declair
Shakespeare: "Richard III." in Frankfurt
Wieder ab 15. Oktober am Schauspielhaus
Zu Beginn der ersten Spielzeit unter der Intendanz von Anselm Weber ist im Frankfurter Schauspielhaus die monströs breite, tiefe und hohe Bühne verschwunden. Auf dieser stets abschreckenden, auch den Zuschauern irgendwie Furcht einflößenden Fläche steigen nun Sitzreihen an, auch an den Rändern, und das Ganze bildet eine Arena – in deren Mitte, ein paar Quadratmeter nur, der enge Platz, auf dem Theater stattfindet. Sicher erinnert das ein wenig an ein Globe, nur ist dieses ungleich intimer. In Frankfurt auf den Rängen fühlt man sich jetzt eher wie in einer Basketballhalle oder besser noch: wie am Boxring. Denn was da unten gespielt wird, ist natürlich ein Kampf.
Stéphane Laimé hat für Jan Bosses Inszenierung von Shakespeares «Richard III.» einen Raum inszeniert, der jeden in die Pflicht nimmt. Denn von Anfang an ist das Publikum, zwischen und mit dem hier gespielt wird, nicht nur Zeuge des Geschehens, sondern auch in der Verantwortung. Selten geht das Licht im Saal aus, meist kann man in die Gesichter all der anderen blicken, die so eine Art Zeugenschaft übernehmen müssen, in ihrer Regung Haltung zeigen. Denn dieser Richard rückt allen auf die Pelle. Er drückt sich und schleicht durch die Gänge, er taucht hoch oben in der letzten Reihe auf, und wirft seinen gebückten Schatten über die Körper all jener, die stumm seinen Weg über Leichen und in den Abgrund verfolgen.
Auch der ganze Hofstaat, der mit der Zeit systematisch dezimiert werden wird, sitzt unter den Zuschauern. Neben jedem Zuschauer kann auf einmal Königin Margret oder die Herzogin von York zu sprechen beginnen, Statisten murmeln und raunen oder summen ein Lied: Stimmen kommen von überall her, die Verhandlung ist öffentlich. Die Hinrichtungen nach Richards Willen sind es somit auch. Und wir können nichts dagegen unternehmen. Da sind wir den Figuren rund um den Herrscher gleich, die der unstillbaren Mordlust und ihrer eigenen Ohnmacht zum Opfer fallen.
Zwar erzeugt Bosses Absicht, das ansonsten hinter die Rampe und also in die sichere Ferne gerückte Grausame ganz nah heranzuzoomen, bisweilen Nervosität und Durcheinander, und es ist nicht immer ganz klar, in welchem Winkel die Handlung sich fortsetzt, zudem verhallt die Sprache nicht selten im riesigen Raum – aber das Unmittelbare, das Unentrinnbare zu erzeugen, gelingt ihm dennoch erstaunlich gut. Er konfrontiert unausweichlich mit dem Egoismus, dem Manischen, dem ganz Persönlichen, das eine Gesellschaft zerstört und mitten in die Katastrophe, den Krieg führt.
Gestorben – ohne viel Blut und großes Geschrei – aber wird nur im Zentrum des Geschehens. Ein aufgeschütteter Haufen grauen Splits markiert das Massengrab ebenso wie später den Platz des Herrschers. Unter seinem in der Höhe bedrohlich wackligen Thron verschwinden sie alle, an der Brandmauer wird sorgsam eine Strichliste geführt. Das kann nicht beruhigend und bequem sein, auf solch einem Todeshügel zu residieren, und Richard wird sich verzweifelt an der Oberfläche festkrallen, wenn es ihn selber am Ende hinabzieht, während ein alptraumheftiger Mummenschanz um ihn herum für etwas arg gruselig-harmlose Geisterbahn-Atmosphäre sorgt. Nur Tyrell, der die Kinder lyncht, hockt da im Gerippe-Kostüm noch treu bei ihm.
Dieser Richard trägt nun längst das Outfit des Herrschers, alle Gegner sind ausgeschaltet. Tabea Braun hat die Macht in einen space-artigen Glitzer- und Spiegel-Anzug gesteckt und mit einer Kopfmaske ausgestattet, die das Antlitz der Bosheit blendend verbirgt. Lächerlich aufgemotzt sieht der Herrscher aus, wie nicht von dieser Welt. Und dabei war er doch einmal so normal. Denn wenn Wolfram Koch am Anfang durch einen der schmalen Zugänge die Szene betritt, ist er erschreckend unscheinbar. Wie ein schüchterner, verklemmter Büroangestellter sieht er aus in seinem schlecht sitzenden, zu großen und zu kurzen grauen Anzug, der die körperlichen Mängel oberflächlich kaschiert. Er lässt sich beim Binden seiner roten Krawatte helfen und schlurft dann wie fehl am Platz um den Hügel herum. Dem Herrn von Gloucester ist zunächst einmal gar nichts Böses zuzutrauen. Ein Schreibtisch-Hocker, der zum Täter werden wird.
Wie Koch aus diesem Niemand, der sich fahrig die fliegenden Haare aus dem Gesicht wischt und seine verstümmelte Hand zu verstecken sucht, einen Ausgestoßenen macht, ist das Ereignis dieser Inszenierung, in der all die Figuren drumherum naturgemäß nur noch Mitspieler sein können.
So auch Koch als Richard: Was sich in ihm abspielt, wird quälend langsam nur sichtbar, seine verborgene Sucht nach Macht und Mord bricht nicht abrupt aus, sie schwelt, zeichnet ihn wie ein sich stetig am Körper ausbreitender Ausschlag. Jeder erfolgreiche Tod macht ihn nervöser, seine Haut wird ihm zu eng, Anfälle werfen ihn zu Boden, und man meint, da wehrt sich noch etwas im Innersten gegen das Böse, das wie eine Krankheit zum Tode aller anderen wächst. Da lacht er noch über seine Taten, da gurrt er um die Damen, die ihn hassen, verhöhnt seine Mutter (Mechthild Großmann), die alles ahnt, lässt sich fast wehrlos von der von ihm zur Witwe gemachten und jetzt begehrten Lady Anne (Katharina Bach) verschmähen. Koch schwitzt und kämpft, er wird maßlos, verrückt, unberechenbar selbst für sich selber. Er staunt über das, wozu er imstande ist. Ein Opfer? Nein, ein unheilbarer Kranker, letztlich ein «Fall», dem (zu) spät auch nicht mehr zu helfen war.
Bernd Noack
Mehr über den Start von Anselm Weber am Frankfurter Schauspielhaus finden Sie ab 30. Oktober in der Novemberausgabe von Theater heute.
https://www.schauspielfrankfurt.de/spielplan/premieren/richard_der_iii/
↓ Rezension 3
"On the Road". Julia Riedler. Foto: David Baltzer
nach Kerouac: "On the Road" in München
Wieder ab 15. Oktober an den Kammerspielen
Eine kleine feine Abenteuerreise dorthin, wo Musik und Theater jenseits der üblichen Hierarchien der Repräsentation zueinander finden könnten, ist David Martons szenisch-musikalische Paraphrase von Jack Kerouacs Kultbuch der Beat Generation «On the Road» aus den 1950ern. Bei all dem gewaltsam-dumpfen Trump-Spektakel der letzten Monate konnte man fast vergessen, dass da mal ein anderes Amerika war, dessen verrückte Energie, Neugier und Konventionen sprengender Freiheitsdrang aus der Ferne in das vom Krieg traumatisierte Wirtschaftswunder-Deutschland herüberwehte und die Hoffnungen auf einen echten Neuanfang bis in die 1960er hinein wachhielt.
Damals wurde die Fahrt mit klapprigen Autos quer über den Kontinent und die Begegnung mit dem Bebop als Befreiung des Jazz aus den Begrenzungen der Unterhaltungsmusik zum Initiationserlebnis einer Gruppe junger Schriftsteller, zu der neben Kerouac, Allen Ginsberg und William S. Burroughs auch der charismatische Streuner Neil Cassady gehörte, der, in Kerouacs Buch unter dem Namen Dean Moriarty, zu einer Art Katalysator und Erlöserfigur wird. Was David Marton mit seinem gemischten Ensemble aus dreieinhalb Musikern und ebenso vielen Schauspielern (Jelena Kuljić kann mit ihrem klugen Bubengesicht und dem tiefrauchigen Alt genauso als Sängerin wie als Spielerin zählen) mit diesem Ausgangsmaterial anfängt, ist nicht etwa die Nacherzählung eines Geschehens – das bewegt sich auch bei Kerouac eher in vagabundierenden Motivschleifen als in linearer Narration. Eher handelt es sich um so etwas Ähnliches wie eine Jam-Session, wobei man die Parallelen von Jazz und szenischer Improvisation auch nicht überstrapazieren sollte.
Frappierend ist trotzdem die Selbstverständlichkeit der Übergänge, wenn ein wildes (auch etwas kindisches) All-together-Getrommel zu Beginn wie eine brechende Welle in eine elegische Barock-Arie – Purcells «One charming Night», samtig gesungen von Kuljić – einmündet und wenig später in eine fulminante Freejazz-Improvisation des famosen Trompeters Paul Brody umschwingt. Der sorgt auch später für einen bezeichnenden Moment des Abends, wenn Kuljić ihm während eines Solos das Instrument von den Lippen nimmt und er darauf in einer ganz unmittelbaren Art auf Englisch weiterspricht, die keinem der auf Bedeutung fixierten Schauspieler so ohne Weiteres zur Verfügung steht.
Jenseits von Sprache findet auch Thomas Schmauser einen persönlichen Resonanzraum, wenn er in rhythmisch-insistierender Geste ein Whiskyglas über den Deckel eines Klavichords schrammt oder mit stockenden Schritten auf rauem Boden tanzt, um dann später mit Julia Riedler zusammen auch mal wieder ganz schlicht und eindringlich in wechselnder Rollenzuordnung Kerouacs Liebesgeschichte mit einer mexikanischen Baumwollpflückerin zu erzählen.
Die Bühne hat Amber Vandenhoeck dazu assoziativ mit einem Asphaltboden, einer niedrigen querstehenden Baracke und diversem Klangequipment ausgestattet und dem gesamten Raum die Illusion eines nach oben offenen Ruinengemäuers verliehen, über dem man sich nur noch den mexikanischen Nachthimmel vorzustellen braucht. Vor dem löst sich der heilige Narr Dean Moriarty schließlich in einen Fiebertraum seines Autors auf und bleibt fortan verschwunden. Aber sein Schatten macht weiter Lust darauf, unterwegs zu sein, sich nicht vorschnell zufrieden zu geben. Ein Abend, der nichts beweisen will und auch nicht zum Schwelgen in Jugenderinnerungen einlädt, sondern Möglichkeiten von Lebendigkeit sucht und verfolgt. Auch dazu lässt sich Schauspielkunst durchaus sinnvoll einsetzen.
Silvia Stammen
Mehr über aktuelle Inszenierungen in München finden Sie ab 30. Oktober in der Novemberausgabe von Theater heute.
https://www.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/on-the-road
↓ Rezension 2