Filme und Serien #3
"Die göttliche Ordnung", "Top of the Lake"
Komik des Widerstands. Petra Volpes „Die göttliche Ordnung“
Was für ein schöner kleiner Film! Obwohl er von der „Göttlichen Ordnung“ handelt, von den allerersten und -letzten Dingen, etwa vom schlichten und einfachen, seit biblischen Zeiten gültigen Gesetz: „Das Weib sei dem Manne untertan.“ Es ist ja erst einen Wimpernschlag der Geschichte her, dass es so nicht mehr stimmt. Zum Beispiel beim Frauenwahlrecht. Vor gut 100 Jahren noch die Ausnahme. Heute – zumindest in den westlichen Demokratien nach britischem Vorbild – die Regel.
Wie in Westminster damals dafür gekämpft wurde, davon handelte „Suffragette“, Zarah Gavrons Film, der Anfang 2016 in den großen Kinos lief, weil er eine Starbesetzung hatte mit Carey Mulligan, Helena Bonham Carter und Ben Wishaw in den Hauptrollen und Meryl Streep in einem Kurzauftritt als Chef-Suffragette Emmeline Pankhurst. Das war knallhart kalkuliertes „großes Kino“, ein bisschen zu grau-bunt und effekthascherisch, mit viel aufgeschminktem Elend und eigentlich sehr schnell zu vergessen.
Erinnert hab ich mich daran erst wieder, als ich „Die Göttliche Ordnung“ sah. Der Film läuft seit August in Art-House-Kinos und hatte in der Schweiz und Deutschland immerhin schon fast 400.000 Zuschauer (bis Mitte Oktober). Er handelt vom Kampf um das Frauenwahlrecht in der anderen Uralt-Demokratie, der Schweiz – und spielt: 1971! Denn tatsächlich: So lange durften Frauen in der Schweiz politisch nicht mitbestimmen.
Über 100 Jahre hatten bis dahin Schweizer Frauen dafür gekämpft, 1959 fand das erste Mal landesweit ein Volksentscheid statt – und scheiterte an Zweidrittel Nein-Stimmen. 1971 nun hatte sich die Welt um die Alpenfestung gravierend geändert; mit dem Mai 68 begann westweltweit die neue Frauenbewegung, hielten bürgerrechtliche Freiheiten in alle Bereiche Einzug. Selbst in der Schweiz. Jedenfalls mancherorts.
Doch auf dem Dorf im Tal hinter Zürich ist die göttliche Ordnung auch 1971 noch in Kraft. Aus der Ungleichzeitigkeit von Land und Stadt, Schweiz und Welt resultiert der tragikomische Grundton von Petra Biondina Volpes Film. Die Emanzipation einer eher braven Hausfrau und Mutter zur politisch denkenden und handelnden, selbstbestimmten Frau ist einfach-kompliziert: Denn sie liebt ihren Mann Hans – und er sie; sie liebt ihre zwei Buben – und die sie; aber die drei sind Männer (egal wie klein, wie groß), also konkurriert ihre Liebe mit Eigennutz und Gewohnheiten: Wer kocht und putzt und wäscht denn, wenn nicht die Hausfrau und Mutter? Sie wissen, dass es un(ge)recht ist, aber praktisch und bequem eben auch.
Die Mutter heißt Nora und gelangt, wie ihre große Vorgängerin, eher zufällig zur Erkenntnis, dass sie unterdrückt ist, entrechtet – und all das mit dem Siegel des Gesetzes. Ihr Söhne sind eigentlich alt genug, um tagsüber auf sich selbst aufpassen zu können, also will sie wieder halbtags im alten Beruf beim Reisebüro arbeiten. Der Mann, eben zum Vorarbeiter in einer Schreinerei ernannt, will das nicht, es gibt ja nun mehr Geld – und wie sähe es aus für die Kollegen, wenn Nora arbeiten würde. Dass sie es nicht muss, sondern will, begreift er nicht. Und als er dann tumb das Gesetz zitiert, das ihm ehemännliche Entscheidungsmacht über Nora gibt, entsteht der erste Keim des Widerstands. Sie kann es nicht glauben, dass er so denkt. Er kann nicht anders denken – obwohl er es irgendwie möchte.
Der zweite Keim: Es wird politisch gekämpft fürs Frauenwahlrecht. Handzettel und Broschüren werden von „Emanzen“ verteilt, selbst auf dem Dorf im Tal hinter Zürich. Und Nora gerät in deren Fänge, weil sie enttäuscht ist von ihrem Mann, von dessen Uneinsichtigkeit. Weil sie unglücklich ist mit der Enge zuhause, wo ein zänkischer Schwiegervater ihr das Leben zusätzlich versauert: Er hebt gerade mal gnädig die Füße samt Pantoffeln, wenn sie um seinen Lesesessel herum saugt. Sie liest sich schlau und wagt einen Aufbruch, als ihr Mann zum obligatorischen Wehrübung eingerückt ist.
Irgendwann landet sie mit Schwägerin und älterer Freundin auf einen Demo in Zürich – und danach in einem Workshop, in dem nicht nur Frauen-Solidarität geübt wird, sondern gleich auch Körper-Selbsterfahrung mit Spiegeln zur Vagina-Erkundung. Als die schwedische (S)Expertin fragt, wer denn noch nie einen Orgasmus gehabt habe, da zeigt, zögerlich, auch Nora auf. Wenig später weiß sie, dass sie „einen Tiger“ zwischen den Beinen hat (was ihr Mann gegen Ende des Films erst leid-, dann lustvoll erfahren wird). Die Atmosphäre zwischen zäher Dumpfheit und brodelnder Aufbruchslust, die jene Zeit prägte, hat Volpe, die auch das Drehbuch schrieb, ebenso bedrückend wie erheitern eingefangen.
Eine Versammlung pro Frauenwahlrecht, die Nora im nur mit Tricks erkämpften Gemeindesaal organisiert hat, gerät zum Desaster; bei einer Probeabstimmung sind selbst die meisten Frauen nicht auf ihrer Seite; und ihr Mann, etwas früher vom Wehrübung zurück, taucht überraschend auch dort auf und fällt ihr öffentlich in den Rücken, obwohl er zuvor am Telefon noch versprochen hatte, „pro“ zu stimmen. Aus dem Scheitern gewinnen die Aktivistinnen ihre wahre Kraft: Sie verweigern Tisch und Bett und ziehen gemeinsam in die lange verwaiste „Bären“-Schenke, die gerade von einer streik-erfahrenen italienischen Wirtin wiederbelebt werden soll.
Nach Ibsens „Nora“ steht nun Aristophanes’ „Frauenvolksversammlung“ auf dem dramaturgischen Spielplan. Es darf geweint und gelacht werden – und am Ende ist nicht alles gut. Aber die Widersprüche haben die Menschen nicht um-, sondern weitergebracht. Diese Tragikomödie ist erkenntnisträchtig und unterhaltsam. Was nicht zuletzt an den glänzenden SchauspielerInnen liegt, einige von ihnen auch von deutschsprachigen Theaterbühnen bekannt.
Allen voran Marie Leuenberger als Nora: kantig ihr Gesicht, dabei neugierig und offen der Blick. Sie macht das Schwanken ihrer Figur zwischen Anpassung und Widerstand körperlich erfahrbar, wenn sie etwa auf der Bühne des Gemeindesaals zum ersten Mal in ihrem Leben eine Rede hält: Sie windet sich lang, bevor ihr die Häutung gelingt, und man glaubt, den Angstschweiß zu riechen, der ihr auf der Stirn steht. Doch dann spricht sie so beherzt, wie sie in der Selbsterfahrungsgruppe, ihre Scham überwindend, von ihren Erfahrungen beim Sex erzählt. Schließlich aber betört und erobert sie mit bescheidenem Siegerinnen-Lächeln und zupackendem Ernst die widerständige Welt.
Max Simonischek als Noras Mann Hans gibt einen eigentlich Gutmütigen, der nicht aus seiner Rolle kann, auch wenn er es wohl möchte, der Virilität mitunter mit Kraftprotzerei verwechselt – und dem entsprechend seine kleine Welt zusammenbricht, als Nora ihm sagt, dass sie noch nie einen Orgasmus hatte mit ihm. Ein irgendwie schon angekränkelter „moderner“ Mann, nur eben aus Schweizer Holz geschnitzt und deshalb in Traditionen verharrend, bis er ins Freie gezwungen wird von seiner Frau. Es kämpft in ihm und er gegen sich, solange er gegen ihren Freiheitsdrang kämpft. Doch irgendwann backt er einen Apfelkuchen, trägt ein Flower-Power-Hemd und ist glücklich mit seiner selbstbewussten Frau.
Manche Figur streift durchaus das Klischee – etwa Therese Affolter als Schreinerei-Chefin und (g)eifernde Kämpferin gegen das Frauenwahlrecht, ein ältliches, ewig unbefriedigtes Mädchen in Konformistinnen-Uniform. Doch es macht immer Spaß, dabei zuzusehen, und es blitzt häufig jenes Gran Verzweiflung aus dieser, aus allen Figuren hervor, das die Kalamität der Situation immer sichtbar erhält. Das ist objektiv komisch und subjektiv traurig. Und hält den Film in gekonnter Balance zwischen Genrebild und Karikatur.
Michael Merschmeier
"Top of the Lake - China Girl"
Elisabeth Moss als Kommissarin Griffin ist wieder da
Es war eine Sensation im Januar 2013, als die von Jane Campion – Drehbuch-Oscar und Goldene Palme für „The Piano“ – und Gerard Lee entwickelte australische TV-Serie „Top of the Lake“ beim renommierten amerikanischen Sundance-Festival präsentiert wurde, denn es war das erste Mal in dessen Geschichte, dass eine für das Fernsehen konzipierte Serie in voller Länge gezeigt wurde. Einen Monat später konnte „Top of the Lake“ auch auf der 63. Berlinale Erfolge feiern.
Enttäuschung machte sich jedoch unter den zahlreichen Fans breit, als Jane Campion bereits kurz danach verkündete, dass es keine Fortsetzung der Erzählung um die junge Ermittlerin Robin Griffin geben werde. Untermalt mit spröden bis gewaltigen Panorama-Aufnahmen aus Neuseelands Natur, konnte man sich der brillant geschriebenen, eindringlichen Geschichte um das Verschwinden des zwölfjährigen, schwangeren Mädchens Tui schwer entziehen.
Die von Elisabeth Moss ( „Mad Men“) gespielte Ermittlerin und Spezialistin für Kindesmissbrauch wurde vorübergehend aus Sydney an ihren Heimatort in Neuseeland versetzt. Dort musste sie sich nicht nur um diesen schwierigen Fall kümmern, sondern auch um eine sektenartige Kolonie, bestehend aus Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, die sich um einen weiblichen Guru scharten (denkwürdiger Auftritt von Oscarpreisträgerin Holly Hunter!). Das war zuweilen sehr unterhaltsam und kaum klischeebeladen. Die Konfrontation der Heldin mit den dramatischen Ereignissen ihrer Vergangenheit war jedoch vor allem großes Schauspielerkino – und bescherte Elisabeth Moss verdient einen Golden Globe als beste Darstellerin.
Auch in der Fortsetzung muss Robin Griffin einiges erdulden – und Moss geht in ihrer Darstellung noch einen Schritt weiter, um die Belastbarkeit der traumatisierten, aber hitzigen Kämpferin auszuloten. Groß also die Vorfreude auf die beim diesjährigen Filmfestival in Cannes vorgestellte 2. Staffel „Top of the Lake – China Girl“, abermals geschrieben und konzipiert von Jane Campion und Gerard Lee. Als Co-Regisseur kommt noch Ariel Kleiman mit an Bord des sonst fast identischen Teams der 1. Staffel.
Auf der Flucht vor einer vorerst nicht weiter beleuchteten unglücklichen Entwicklung in ihrem Privatleben ist Griffin wieder zurück in Sydney. Dort will sie sich schnellstmöglich wieder in die Arbeit stürzen – und das bitte ohne gut gemeinte Nachfragen nach ihrem Befinden. Am Bondi-Beach, fast innerstädtisch mitten in Sydney gelegen, ist in einem Koffer die Leiche eines schwer entstellten asiatischen Mädchens angeschwemmt worden, und es gelingt der offensichtlich nach wie vor getriebenen Ermittlerin, den Fall zu übernehmen.
Wie gelingt es Jane Campion und ihrem Team, den für die 1. Staffel so charakteristischen rauen Charme Neuseelands und die sich darin spiegelnde Isolation der Hauptfigur nach Sydney zu transferieren? Die Eingangssequenz lässt dazu kaum eine Fragen offen: Die grausame Schönheit der Unterwasseraufnahmen des im Meer treibenden Koffers, aus dessen Innerem lange, schwarze Haare zum Vorschein kommen, die sich tänzerisch im Wasser bewegen, ist verstörend. Die Einsamkeit und Ausgesetztheit, die in diesem Bild liegen, wird man lange nicht vergessen. Ein gelungener Auftakt.
Das Mädchen im Koffer wird China Girl genannt, und auch nachdem ermittelt worden ist, dass sie eigentlich aus Thailand stammt, wird sich daran nichts ändern. Es entfaltet sich ein Drama über Ausbeutung und Prostitution, das rasch in eine neue Dimension führt, als Robin gemeinsam mit dem befreundeten Pathologen rausfindet, dass das Opfer zum Todeszeitpunkt als Leihmutter das Kind einer anderen Frau austrug.
Dass die Geschichte von hier an vor allem zur großen Allegorie des Mutter-Kind-Verhältnisses wird, liegt vor allem an der persönlichen Geschichte der Hauptfigur. Wie man aus der ersten Staffel der Serie weiß, wurde Robin als Teenager von einer Gruppe Männer vergewaltigt und hat die daraus entstandene Tochter nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Nachdem das Kind schon einmal vergeblich Kontakt zu seiner biologischen Mutter aufnehmen wollte, scheint nun Robin bereit zu sein, der Mutterrolle in ihrem Leben Raum zu geben.
Ihre Tochter Mary (gespielt von Jane Campions Tochter Alice Englert – auch auf dieser Ebene das Mutter-Tochter-Thema) lebt in Sydney und steht kurz vor der Volljährigkeit. Robin hinterlässt eine Nachricht im neuen Elternhaus ihrer Tochter, und die wird von den Eltern auf sehr unterschiedliche Weise aufgenommen. Der Vater (wunderbar einfühlsam gespielt vom australischen Theaterschauspieler Ewen Leslie), ist durchaus bereit, Robin in die Familie aufzunehmen, während Julia (Hollywoodstar Nicole Kidman) sich vehement dagegen wehrt. Sie lebt in einer neuen Partnerschaft mit einer Frau und kämpft nicht nur mit den pubertätstypischen Entfremdungsphänomenen zwischen Eltern und Kindern, sondern auch generell um die Verbindung mit der sich ihr entziehenden Tochter.
Nicole Kidman spielt Julia mit einer beängstigend großen, grauen Perücke, falschen Zähnen und mit der von ihr bekannten Präzision. Es macht große Freude, Kidman dabei zuzusehen, wie ihre intelligente, eher kühle Julia sich mit ihrer Rolle als Adoptivmutter auseinandersetzt und die neue Situation mit Marys biologischer Mutter Robin langsam über ihr zusammenstürzt. Die kammerspielartigen Familienszenen gehören überhaupt zu den Höhepunkten der 2. Staffel.
Es mangelt wirklich nicht an großen Themen in dieser Fortsetzung, ja sie könnte daran ersticken, wären die Szenen nicht so fein und meisterhaft geschrieben und das großartige Darstellerensemble so wunderbar geführt. Dass allerdings die Entwicklungen in Robins Leben und die Zusammenführung mit ihrer Tochter in unmittelbarer Verbindung mit dem untersuchten Mordfall stehen, scheint etwas arg konstruiert und kommt leider nicht ohne die ein oder andere absurde Wendung aus.
So erfahren wir, dass auch Robins neue Kollegin Miranda (Gwendoline Christie aus „Game of Thrones“) sehr persönlich in die Ermittlungen verstrickt ist. Obwohl die Serie dadurch eine weitere Ebene der Mutter-Kind-Thematik beleuchtet, fällt auch hier die sehr konstruierte Dramaturgie eher negativ auf. Jedoch ist Gwendoline Christie, die sich per Brief bei Jane Campion für eine Rolle in der Fortsetzung bewarb, als Robins Sidekick einfach eine Wucht. Und die Szenen zwischen den beiden Frauen sind vielschichtig und schwenken zwischen zärtlicher Komik und dramatischen Ausbrüchen virtuos hin und her – eine Bereicherung.
Elisabeth Moss als Robin aber ist die Serien-Schauspielerin der Stunde. Sie hat in diesem Jahr mit der umjubelten und preisgekrönten Serie „A Handmaid´s Tale“ eine ähnlich gepeinigte Figur wie die der Robin erschaffen, und in „China Girl“ entwirft sie abermals eine in Trauer und Einsamkeit gefangene, tief verstörte Heldin, die einen nicht loslässt. Allein das ist ein Grund zum Zuschauen. Ohne zu viel preiszugeben, darf noch erwähnt werden, dass sich das Krimi-Drama noch in eine Story über Emanzipation wandelt und am Ende einen Cliffhanger für die Fortsetzung bietet.
Ich hätte mir gewünscht, dass die Leidensgenossinnen des titelgebenden „China-Girl“ etwas mehr Handlung von den AutorInnen bekommen hätten. Sie bleiben in dieser gegen Ende doch vernachlässigten Geschichte über Ausbeutung und Leihmutterschaft sehr schemenhaft und im Verborgenen. Nichtsdestotrotz ist „China Girl“ eine sehenswerte Fortsetzung von „Top of the Lake“ – visuell berauschend wie die 1. Staffel. Da der Verlust der Naturgewalten Neuseelands durch die starke Familiengeschichte aufgewogen wird, erscheint die 2. Staffel auch wesentlich „menschlicher“. Anschauen.
Michael Banzhaf
Die 2. Staffel von "Top of the Lake" ist bei Amazon zu sehen. Ab 6. Dezember ist sie auch als DVD erhältlich.