Das halbgebaute Nest
Shermin Langhoff legt «Heimat» auf
A-Seite: «Was Du in Deinem Herzen trägst...»
Es gibt ein berühmtes Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff, das mich zutiefst berührt. In «Die tote Lerche» besingt die Dichterin den freien flatternden Flug und Gesang des kleinen Feldvogels («Ich stand an deines Landes Grenzen») und beschreibt ihre Sehnsucht, ebenso frei zu sein. Doch dann stirbt der Vogel und fällt zur Erde, «gleich toter Kohle in die Saat». Die Betrachterin eilt zu der Stelle, sie findet ihn leblos: «Dein letztes Lied, es war verklungen, / Du lagst, ein armer kalter Rest, / Am Strahl verflattert und versungen / Bei deinem halbgebauten Nest.» In Analogie zu ihrem Wunsch nach Freiheit angesichts der Lebendigkeit des nicht durch Grenzen eingehegten Vogels wünscht sie sich nun eingedenk des eigenen unausweichlichen Todes: «Dann du, mein Leib, ihr armen Reste! / Dann nur ein Grab auf grüner Flur, / Und nah nur, nah bei meinem Neste, / In meiner stillen Heimat nur!» Die westfälische Katholikin in Meersburg am Bodensee, eine Prophetin der Katastrophe des Antisemitismus, die von Heimat als zerrissenem, unfertigem Ort zwischen Fernweh und unstillbarer Sehnsucht nach Ruhe, als «halbgebautem Nest», die von etwas verletzlich Intimem schreibt.
Jede*r hat auf die Frage nach Heimat eine andere Antwort. In der deutschen Sprache, besonders in der Lyrik (für die ich eine besondere heimliche Liebe hege) bezeichnet das Wort mehr als Herkunft. Heimat ist ein Sehnsuchtsort: das Paradox einer verorteten Utopie – ein Ort jenseits der Widersprüche, ein Ort, an dem «die Seele» (hier wird’s schon wieder kompliziert, und wir merken, dass wir weit entfernt der «Heimat» sind) sich auskennt.
Um es klarzustellen: «Heimatgefühle» sind nichts Schlechtes oder Gutes, sie sind da, stellen sich ein, rühren zu Tränen, lassen gegebenenfalls aufatmen, «das Herze höher schlagen». Oder sie verursachen stechende Schmerzen. Mir geht es so, denk ich an eine meiner Heimaten in der Nacht. Meine Kindheit verbrachte ich bei meinen Großeltern gegenüber von Lesbos, der Insel der Dichterinnen, die wir seit 2015 mit den angeschwemmten Leichen ertrunkener Kinder verbinden. Edremit, ehemals Adramityani, liegt zu Füßen des Ida-Gebirges, von dem man sagt, dass seine Berge die Residenz der Götter während des Trojanischen Krieges waren. (Zurzeit scheinen gerade dort die Götter verstummt zu sein.) Als Beute der siegreichen Europäer war es in der Mythologie Kassandra, die, verschleppt nach Mykene, als Prophetin «mit Migrationshintergrund» die europäische Genealogie der Gewalt voraussagte, die sich aus der Antike bis in die Ruinen der Festung Europa zieht und die Heiner Müller blutig durchbuchstabierte.
Meine Großmutter Fatma war keine Prophetin, sondern nahezu Analphabetin, Tochter von Migranten aus Volvi bei Thessaloniki, deren Leben aus harter körperlicher Arbeit bestand. Ich habe aber einen Satz von ihr, den ich nie vergessen werde: «Was du in deinem Kopf und in deinem Herzen hast, kann dir keiner nehmen.» So einfach verhält es sich meiner Meinung nach mit der «Heimat». Sie ist die kleine Ecke Lyrik, die jede*r in sich trägt, ein heimliches Gefühl, mal mit Schmerz, mal mit Liebe, mal mit Wut kombiniert – ein Fragment aus der Affektenlehre der deutschen Subjektivität.
Meine anderen Heimaten heißen: das linksbewegte Nürnberg der achtziger Jahre, geprägt vom Gedanken des Exils, das Berlin der Neunziger nach dem Mauerfall, die in der unnachahmlichen Zartheit der deutschen Sprache als «Rauchschlauch» bezeichnete Pergola der Kantine des Gorki Theaters. Die Liste ist lang, und ich will sie anderen und mir nicht zumuten: Wen geht es etwas an, was ich «in meinem Herzen trage» – das ist kein Gegenstand öffentlichen Interesses. Heimat ist Privatsache.
B-Seite: Polizeiorchester
Schräg hinter dem Berliner Hauptbahnhof wird Heimat derzeit zur Angelegenheit einer Bundesbehörde. Hier steht das «Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat». Es heißt erst seit ein paar Monaten so. Der Namenswechsel ist ein Grund, alarmiert zu sein. Warum? Seit es ein staatlich verfasstes Land namens «Deutschland» gibt, existiert die unselige zweite Geschichte des Wortes «Heimat». In GroKo mit den Worten «Kultur» und «Nation» diente es der emotionalen Unterfütterung der imperialen Konstruktion der «Deutschen» als ethnische Gemeinschaft; richtig Fahrt nahm die Konjunktur des Wortes zur Zeiten der Berliner Konferenz 1885 auf, als der Kilimandscharo zum «höchsten deutschen Berg» werden sollte; der Trend riss seitdem nie wirklich ab.
«Heimat» als politischer Begriff diente zur Konstruktion von Feinden, gegen die die «Heimat» verteidigt werden musste. Die Nazis sind durch dieses geöffnete Tor marschiert und haben das Wort zum zentralen Begriff für ihre Politik der Vernichtung gemacht, indem sie die bereits hergestellte Gleichschaltung von «Vaterland» und «Heimat» zur perfiden Normverschiebung institutionalisierten. Diese «politische» Definition diente forthin als Begründungsmuster für die Enteignung, Deportation und Vernichtung von Juden, Roma, Homosexuellen, Transpersonen, als «asozial» markierten Menschen, Menschen mit Behinderungen und politisch Andersdenkenden.
In der Konsequenz prägte nach dem Krieg ein unlösbarer Widerspruch die Kulturen in Ost- und Westdeutschland bis 1990 auf unterschiedliche Weise zentral: der Zweifel der deutschen Kulturschaffenden an der Möglichkeit einer deutschen Kultur nach Auschwitz bei gleichzeitigem Aufbau einer weltweit einzigartigen kulturellen Infrastruktur. Nach dem Krieg entstand eine Kritik-Kultur, die sich in einem Bewusstsein der Zuständigkeit für die gesellschaftlichen Verhältnisse äußerte. Heimat aber, so hat es jüngst die in Basel lehrende Professorin Bilgin Ayata beschrieben, ist ein «vor-(selbst)kritischer» Begriff, ein Wort, das an eine Sehnsucht nach Harmonie und Einklang appelliert, die ahistorisch und idealisierend ist. Als Kategorie einer bundespolitischen Institution kann dies nur Exklusion bedeuten: Ein Heimatschutzministerium, das konstruierte nationale Gefühle sichert, Grenzen zieht und verteidigt.
Für das Kollektivieren von Gefühlen gibt es ein Wort: Populismus. «Heimat» als Bundesaufgabe: In einem Grab in Meersburg dreht sich eine Dichterin, die einst den 20-Mark-Schein der BRD zierte, unruhig hin und her. Vergeblich. Es kann uns (und hier meine ich vor allem auch jene, die, seit sie hier sind, mit dem Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu tun haben) nicht überraschen und ist dennoch empörend, dass ausgerechnet jetzt Bundesbeamte dazu eingesetzt werden, eine nationale Heimatkonzeption zu entwerfen, im Polizeiministerium, das für Grenzsicherung, Abschiebung und «Ausländer» zuständig ist, unter einem Bundesminister, der an seinem ersten Arbeitstag nichts Besseres zu tun hatte als mitzuteilen, welche Religion nicht zur Heimat gehört.
Diese Entwicklung hat sich seit der Wende angebahnt. Aber reicht denn ein halbes Jahrhundert gnädig geschenkten und durch weltweit ausgelagerte Konflikte schwer erkauften Friedens, um die mühsam und unwillig gelernte Reue beiseite zu legen? Noch einmal Lyrik, diesmal von einer Dichterin, der von Deutschen die deutsche «Heimat» Berlin abgesprochen wurde, die nur durch Zufall dem Tod in den Lagern entkam – Nelly Sachs: «Wir Geretteten / Bitten euch: [… ] / Laßt uns das Leben leise wieder lernen. / Es könnte sonst eines Vogels Lied, / Das Füllen des Eimers am Brunnen / Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen / Und uns wegschäumen –/ Wir bitten euch: / Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund –/ Es könnte sein, es könnte sein / Daß wir zu Staub zerfallen – Vor euren Augen zerfallen in Staub.» Ist der Ruf verhallt? War er je gehört?
Bonustrack
Vielleicht waren wir zu gutgläubig, wenn wir meinten, den Heimat-Begriff umdeuten, ausweiten, den Rassisten wegnehmen zu können. Ich selbst verfolgte mit großem Interesse, als im «Heymat»-Projekt von Naika Foroutan und anderen die neuen Deutschen die optimistische Idee formulierten, man könne einen Begriff, der so mit rassistisch-nationalistischen Konstruktionen gefüllt ist, benutzen, um andere, neue Formen von Zugehörigkeit zu erzählen. Getragen von dem Gedanken, dass kollektive Narrative notwendig sind, um Gesellschaft zu beschreiben, meinte auch ich, dass es um Umcodierungen und Aneignungen geht.
Derzeit, ich muss es gestehen, folge ich eher Bilgin Ayata, die nach Peter Blickle «Heimat» als unrettbar von der kolonialen und faschistischen Gewaltgeschichte Deutschlands diskreditierten Begriff herausstellt. Ihre Schlussfolgerung: «De-heimatizing Belonging» ist als Aufruf an uns diskursbildenden Gewerke im kollektiven Prozess zu verstehen. «Heimat» als politischer Begriff wird in Deutschland nie zu einem Minoritäten einschließenden neuen Begriff kollektiven Erzählens werden können, sondern ist ein Rekurs auf einen vorindustriellen, voraufgeklärten, vorzivilisatorischen Ort.
Dabei war doch die moderne Leitkultur für dieses Land nach dem Krieg schon da: eine Kultur der Kritik und der permanenten Bewusstmachung dessen, was von hier seinen Ausgang nahm als Anlass für ein anderes Denken. Das klingt nach «Sprachpolizei», Herr Seehofer? Sei’s drum. Eine dreistere Verbindung von Sprache und Polizei als die Verknüpfung von Innenministerium und dem in diesem Land der intimen Sphäre persönlichen Anhängens brutal entrissenen Wort «Heimat» ist der Bundesrepublik nach dem Krieg noch nicht passiert. Es ist an uns, das Alarmiertsein zu intelligenter und sprach-bewusster Kunst zu machen im Sinne einer Kultur der Kritik an allem, was versucht uns zu leiten und zu formulieren. Denn nach wie vor besteht die «unlösbare Aufgabe» nach Adorno darin, «weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.»
«Der Rest ist Lyrik.» (Heiner Müller)
Shermin Langhoff, geboren 1969, ist seit 2013 Intendantin des Berliner Gorki Theaters.