
Schutzraum für Kreativität
Sänger leben im Ensemble
Das Staatstheater Cottbus gehört zu den letzten Mehrspartenhäusern, an denen Gesangssolisten und Schauspieler sich ein ganzes Künstlerleben lang im Ensemble entwickeln können.
Bald sind es vier Jahrzehnte. So lange wird Carola Fischer dann als Solistin auf der Bühne des Staatstheaters Cottbus gestanden haben. Fast alle für ihren Mezzosopran geeigneten Rollen hat die gebürtige Berlinerin an dem Haus gesungen, von den leichten bis zu den schweren Fächern, von Mozarts quirligem Cherubino bis zu Wagners wutrasender Ortrud, von Strauss’ jugendfrischem Rosenkavalier bis zu Janáceks alter Kabanicha. Ein Glück. Aber auch ein Knochenjob, der die Stimme kosten kann, wenn man nicht aufpasst. Gerade hat sie wieder eine neue Partie einstudiert: die Mary im «Fliegenden Holländer». Keine große Sache eigentlich. Und auch keine Figur, für die sie brennt. Aber Anfang Mai fieberte Carola Fischer der Premiere doch entgegen, wie immer, wenn etwas Neues beginnt. Aber vor allem, weil der Bariton Andreas Jäpel seinen ersten Holländer, die Sopranistin Gesine Forberger (in der zweiten Vorstellung) ihre erste Senta und der Tenor Jens Klaus Wilde den heiklen Erik singen sollten. Auch sie langjährige Mitglieder des Cottbuser Opernensembles.
«Ich könnte mir gar nicht vorstellen, freischaffend zu arbeiten», sagt Jäpel beim Italiener nahe dem Altmarkt. Das Singen hat er im Dresdner Kreuzchor gelernt, da war jeder Tag straff durchorganisiert, ältere Mentoren kümmerten sich um die Jüngeren. Das prägt. Er schätzt klare Strukturen, ein Netz, das Halt bietet, einen auffängt. «In Cottbus hatte ich das Glück, mit Leuten zu arbeiten, mit denen ich mich auf der Bühne wie im Leben gut verstehe. Das Theater ist für mich so etwas wie eine erweiterte Familie.» Vor 20 Jahren wurde Jäpel in die Lausitz engagiert. Vom damaligen Operndirektor Martin Schüler, der in dem Jugendstilbau des Staatstheaters das nach der Wende verunsicherte Publikum mit Opernproduktionen aus dem Geist Walter Felsensteins verzauberte. Auch Gesine Forberger, Jens Klaus Wilde und der Tenor Dirk Kleinke, im neuen «Holländer» als Steuermann auf Posten, gehören inzwischen zu den unkündbaren künstlerischen Kräften. Eine im heutigen Theaterbetrieb beinahe ausgestorbene arbeitsrechtliche Position. Weil viele Intendanten fürchten, dass zu viel Sicherheit die kreative Energie lähmt.
Für Dirk Kleinke sind stabile Arbeitsverhältnisse ein Geschenk. Wesentlicher Teil eines Schutzraums, in dem man sich in Ruhe entwickeln, langsam wachsen kann. «Als ich anfing, war dieser Typus des Ensembletheaters in Deutschland schon nicht mehr das Modell», erklärt der Berliner. Ein herber Verlust, findet er, zumal für den Nachwuchs. Gute Anlagen und Talent reichten nicht, um dauerhaft auf der Bühne bestehen zu können. «Das Entscheidende lernt man nur in der Praxis – wie man sich die Kräfte einteilt, wie man sich bewegt, wie man tanzt usw. Hier ist die Begleitung durch erfahrene Kollegen, denen man vertrauen kann, Gold wert», argumentiert Carola Fischer. Ein gesundes, gut gemischtes Ensemble trage, stütze und helfe, die eigene Persönlichkeit zu finden und zu entwickeln. «Auch wenn man sehr wenig verdient, kann ich jedem jungen Sänger nur empfehlen, die ersten fünf Jahre in einem Ensemble zu verbringen», pflichtet Kleinke bei. Und man spürt, dass dieser Rat auf innerer Überzeugung beruht.
Natürlich hat der Alltag im festen Rahmen seine Schattenseiten. Wenn zum Beispiel die Chemie mit dem Intendanten oder Musikdirektor nicht mehr stimmt, kann das Leben kompliziert werden. Eine solche Phase haben sie in Cottbus gerade hinter sich. Die turbulenten Jahre mit dem 2018 suspendierten GMD Evan Christ sitzen vielen noch in den Gliedern. Nicht zuletzt dem seit 1991 amtierenden Chordirektor Christian Möbius, der den Opern- und Extrachor des Staatstheaters für den «Holländer» exzellent vorbereitete. Mit wem man auch spricht: Die Erleichterung darüber, dass mit dem Ausscheiden des als nicht teamfähig beschriebenen Amerikaners nun wieder Ruhe eingekehrt ist, lässt sich mit Händen greifen. Ein schwaches Ensemble, so die einhellige Meinung, wäre an den Konflikten gewiss zerbrochen. Dass der langjährige Operndirektor und spätere Intendant Martin Schüler den Unmut der Solisten und Musiker, des Chors, aber auch des Studienleiters Frank Bernard, der entscheidenden Anteil an den musikalischen Erfolge hatte, nicht ernst nahm, dass er bis zum Schluss an Christ festhielt und schließlich nach 27 Jahren 2018 zurücktrat, empfinden viele als die Tragik eines besessenen, hochgeschätzten Theatermenschen, der womöglich zuletzt das Gespür für die Nöte der Mitarbeiter verloren hatte.
Inzwischen hat sich die Stimmung beruhigt. Mit Serge Mund steuert ein Mann Brandenburgs einziges Vierspartentheater, der die Cottbuser Verhältnisse gut kennt – von 1992 bis 1996 und von 2005 bis 2012 war er bereits geschäftsführender Direktor des Hauses. Ein Moderator, der an die Zukunft des Ensembletheaters glaubt und Probleme im Dialog mit den 360 Beschäftigten zu klären sucht. Zur Spielzeit 2020/21 wird er die Intendanz an Stephan Märki übergeben. Serge Mund hatte den Schweizer als Nachfolger Martin Schülers vorgeschlagen – man kennt sich aus gemeinsamer Leitungsarbeit am Potsdamer Hans Otto Theater während der 1990er-Jahre. Die Aufgabe: Ein intaktes Refugium der Künste für die Zukunft zu rüsten, das mit 16 Gesangssolisten, 16 Schauspielern, 8 Tänzern, 33 Choristen und einem an 76 Pulten besetzten Philharmonischen Orchester (noch) relativ gut dasteht und jede Saison (noch) rund 100 000 Besuche verzeichnet.
Nicht nur der von Regisseurin Jasmina Hadziahmetovic und Ausstatterin Natascha Maraval als surreale Studie der Einsamkeit gedeutete «Holländer», auch die jüngste Arbeit von Schauspieldirektor Jo Fabian, eine mit Motiven von Aristophanes, Fremdtexten und einem (teils Rammstein-rockigen) Soundtrack übermalte Fassung von Ibsens «Volksfeind» (Ausstattung: Pascale Arndtz), belegt die Leistungsfähigkeit des Hauses. Und mit Alexander Merzyn hat nach dem großen Krach ein junger, hochbegabter und teamfähiger Dirigent die GMD-Zügel kommissarisch in die Hand genommen, der im Orchester wie bei den Sängerinnen und Sängern hohes Ansehen genießt. Gleichwohl oder vielleicht deshalb will Serge Mund sich mit der Entscheidung über den künftigen Musikchef oder die erste Musikchefin am Staatstheater Zeit lassen. Und die Kür nicht nur mit dem designierten Intendanten, sondern mit allen Betroffenen abstimmen. Zum besten der Musiker und des Ensembles.
Albrecht Thiemann