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Rezensionen #4

Cottbus, Stuttgart, Regensburg, Zürich

Cottbus: Jo Fabian «Terra In Cognita»

Am 29. Mai, 20. Juni im Staatstheater

Es ist eine Art Lackmustest für Jo Fabian, der seit dieser Spielzeit neuer Schauspieldirektor in Cottbus ist und das Publikum für seine Art von Theater erst noch gewinnen will und muss. Nach zwei eigenen Regiearbeiten – «Wilhelm Tell» und «Onkel Wanja» – , die sich beide an klassischen Dramentexten orientieren, ruft er nun zum Aufbruch, zur «Terra In Cognita». Ein mehrdeutiger Titel, der zwischen Utopiehoffnung, Postkolonialismus und eben der Cottbuser Situation bedeutungsschwer herumschillert, zumal der Abend zugleich auch noch als choreografisches Figurentheater und Triptychon angekündigt ist. Entsprechend gliedert sich die Inszenierung denn auch in einen bildhaft-rhythmischen Prolog, ein dreigeteiltes Wimmelbild im Hauptteil und eine Trommelperformance als Abschluss. Dazu gibt es in den beiden Pausen Beuys-Textperformances vom Band.

Gleich zu Beginn lässt Fabian unter den unbarmherzigen Paukenschlägen von Jörg Trost acht Ruder aus den Wänden kommen. Die Sklaverei als Ausgangspunkt, Kraft durch Menschenkraft und ein blutrotes Bühnenbild, in dem in strenger Synchronität die nicht sichtbaren Ruderer ihre Zwangsarbeit vollbringen und die Geschichte voranschreiten lassen. Erst zwei von oben fallende Felsbrocken legen schließlich den Mechanismus lahm, kein Weg ohne Steine. Im Hintergrund die Projektion einer sich vervielfachenden Frau und ihrer Leiden. Hoffnung – so eine historisch-materialistische Lesart der Szene – bringt alleine das Christentum: Aus dem Orchestergraben entsteigt gegen Ende des viertelstündigen Eröffnungsbildes das zwölfköpfige Ensemble und singt Vivaldis «Gloria». Alles bleibt düster, aber kraftvoll – ein starker Einstieg.

Das von Fabian erdachte Setting mit Betten und Bewohnern im Inneren des Schiffes könnte auch in Gorkis «Nachtasyl» zum Einsatz kommen. Per Video geht es im Schnelldurchgang durch die Fortschrittsgeschichte der Menschheit von den Pyramiden zur Industrialisierung. Nun darf gespielt werden. Es ist eine illustre Runde, die sich hier in der Holzklasse eingefunden hat, vielleicht auch gar nicht in einem Schiff, sondern in einer psychiatrischen Anstalt, die offene Interpretierbarkeit ist Programm. Die Reise ins Unbekannte als eine Reise zu sich selbst. Es ist ein Spiel der Assoziationsfetzen mit chiffrenhaften Figuren. Es spielen: der Nazi, der Jude, der Reiche, der Massenmörder, der Priester (der irgendwie auch Joseph Beuys ist), die Hysterische, der Postbote und viele andere mehr. Alle arbeiten sich in zahlreichen Mikroverstrickungen in Miniszenen miteinander und aneinander ab. Alleine der Raum hält alles zusammen. Zu jedem der drei Teile dieses Hauptbildes werden dazu die von der Decke hängenden Steine wie an einer Waage verschoben.

Die Schauspieler haben viel Freiheit, aber wenig Raum. Ständig passiert etwas: Der Nazi beginnt zu steppen, eine junge Frau möchte sich umbringen, es wird geheiratet, Miete erhöht und dagegen protestiert, geraucht, geweint, gelacht, gefummelt, migriert, integriert, Schach gespielt, aufgebrochen und zurückgelassen, kurz: alles angerissen und nichts zu Ende erzählt. Am Schluss sorgt eine Bombe für Ruhe, nicht ohne Verweis auf die aktuelle Terror-Hysterie. Dieses Wimmelbild hat, auch wenn kaum gesprochen wird, etwas Geschwätziges. Fabian und sein Ensemble arbeiten zum ersten Mal in dieser offenen Form und ohne Textgrundlage zusammen. Das muss offenbar erst noch zu einer Einheit von Wille und Darstellung finden. Das Ende des insgesamt eine Stunde und 40 Minuten langen Abends bildet eine 20 minütige Trommelperformance, die in ihrer feingeistigen Brachialität Vergangenheit und Zukunft verbindet. Das letzte Wort hat schließlich Charlie Chaplins großer Diktator. Und diese Rede von 1940 wirkt heute so aktuell wie je.

Es ist ein mutiger Start und auch eine erste Auseinandersetzung des Ensembles mit Fabians Technik, Theater aus dem freien Assoziationsraum zu erschaffen. Da ist sicher noch Luft nach oben, da könnte vieles präziser sein, da könnte auch dem einzelnen Schauspieler mehr Platz zugestanden werden. Doch vielleicht ist dies ja der erste Schritte auf einer langen gemeinsamen Reise von Schauspieldirektor, Ensemble und Publikum.

Torben Ibs

http://www.staatstheater-cottbus.de/programm/schauspiel/artikel_terra-in-cognita.html

Regensburg: Giacomo Puccini «Edgar»

Am 29. Mai, 1, 18., 21., 29. Juni

Entdeckungen sind bei einem Komponisten wie Giacomo Puccini kaum mehr zu machen. Auch ein Frühwerk wie «Edgar» ist, wenngleich kein Repertoireknüller, leidlich bekannt, in Aufnahmen dokumentiert. In seiner dreiaktigen Gestalt. Doch die ist nicht das, was Puccini ursprünglich zu Papier gebracht hatte. Was, wenn «Edgar» nicht seine zweite Oper gewesen, sondern nach seinen Erfolgsstücken herausgekommen wäre? Hätte die Oper ihre Originalform behalten? Gefeiert als neuer Wurf eines Starkomponisten? Tatsache ist, dass die Urfassung von 1889 nach drei Vorstellungen an der Mailänder Scala in der Versenkung verschwand. Puccini schraubte emsig an dem Werk herum, eliminierte den vierten Akt, hatte schließlich im vierten Anlauf Erfolg – 1905 in Buenos Aires.

Warum erst dann, fragt man sich nach der Premiere am Theater Regensburg. Zum ersten Mal wird hier das «Original» in Deutschland szenisch aufgeführt. Erst 2008 wurde es wiederentdeckt, kam dann in Turin heraus, in Dortmund konzertant. Man ahnt vieles, was erst später zu eigenständiger Form fand. Ein Vorwurf nach der Mailänder Uraufführung lautete: zu eklektizistisch. Niemand kam damals auf die Idee, dass das Rohe nicht fremden Vorbildern geschuldet war, sondern womöglich auf kommende Arbeiten des Komponisten vorauswies. Tatsächlich nutzte er Teile der gestrichenen Musik für andere Werke. In der Regensburger Fassung – eine kritische Ausgabe der Partitur liegt bislang noch nicht vor, sie würde bis zu 40 Minuten mehr Musik enthalten – endet die Oper mit einer verblüffenden Synthese aus «Tosca» und «Bohème», stilles Sterben und Aufschrei.

Überhaupt ist der letzte Akt essenziell, weil hier die Verheerungen in den Figuren musikalisch mit langem Atem ausgestaltet wurden. Davor geht es vor allem darum, flott viel Handlung abzuarbeiten. Allerdings probiert Puccini von Anbeginn Außergewöhnliches aus, das sofort mitreißt, auch dank des Philharmonischen Orchesters Regensburg und seines Chefdirigenten Tetsuro Ban. Der hat stets ein Händchen für glasklare dramatische Linien, ist selten zimperlich, was der aufregend undomestizierten Musik guttut. Immer wieder entstehen großartige Tableaus, selten gibt es in sich abgeschlossene Arien. Der Chor verschmilzt oft mit den Solisten zu einem korrespondierenden Gefüge, Ensembles werden in den Klangraum des Chors eingebettet, Solo­arien finden ein Echo.

Die Geschichte ähnelt der von «Carmen», die Handlung ist an keine bestimmte Zeit gebunden (nach dem Libretto von Ferdinando Fontana spielt sie in Flandern zu Beginn des 14. Jahrhunderts). Edgar liebt Fidelia und erliegt doch eineinhalb Akte lang dem erotischen Reiz Tigranas. Frank, Fidelias Bruder, liebt ebenfalls die exotische Tigrana. Am Ende sind die Frauen tot, die Männer heulen. So umfassend klangschön der Bariton Seymur Karimov den Frank singt, so engagiert sich der Tenor Yinjia Gong in die Titelpartie wirft, so souverän Mario Klein Gualtiero, den Papa der Geschwister, verkörpert – die Frauen dominieren. Vera Egorova-Schönhöfer ist als Tigrana, in Puccinis größter Mezzopartie, das dunkle Verlangen, die Gier – und am Ende zerbrechendes Elend. Anikó Bakonyi rührt als Fidelia, versinkt im Wahn, brüchig, fragil, fabelhaft. Regisseur Hendrik Müller macht daraus einen prototypischen, comic-ähnlichen Western in vager Zukunft, der mehr als assoziatives Angebot funktioniert denn als homogene Erzählung. Aber: Die Figuren arbeitet er plastisch heraus, nur ihr Umfeld bleibt spekulativ.   

Egbert Tholl

https://www.theater-regensburg.de/spielplan/details/edgar/

Stuttgart: Charles Gounod «Faust»

Am 28. Mai und 1. Juni

Die Schlange, Urgrund allen Übels. Langsam windet sie sich über die Wählscheibe der Pariser Telefonzelle, ihr klein-gefährlicher Kopf, auf zwei schwingende Tücher über der Szene projiziert, ist in Großaufnahme zu sehen. Später wird die Versucherin über die auf dem Bett sinnende Margarethe gleiten, der Nachbarin Marthe hängt sie beim Flirt mit Mephisto um den Hals. Ach, Brecht, du Allbezwinger.

Frank Castorf inszeniert Gounods «Faust» in Stuttgart so, wie er in Bayreuth den «Ring» inszeniert hat: mit zwei Kameramännern auf der Bühne, beständig mittendrin im Geschehen und ganz oft nah dran an den Sängermienen, etwa wenn Gretchen sich in ihrer Bude über der vernagelten Boucherie 27, im Lichte einer wie durch den Quirl gezogenen Coca-Cola-Reklame, ein Haschischpfeifchen anzündet, während sie an den feschen Faust denkt. Zu den Live-Übertragungen montiert Castorf vorproduzierte Bilder (die Schlangen-Metapher), gern auch historische Wochenschau- und Werbefilmschnipsel. Spektakulär und die eigentliche Hauptfigur, wenngleich nicht so gewaltig wie in Bayreuth, aber um einiges raffinierter, ist Aleksandar Denićs (Dreh-)Bühnenbild. Ein synkretistisches Super-Haus, als habe jemand Pariser Architekturen ineinandergeknautscht: Straßencafé und Metro-Eingang, Mansarde und Notre-Dame-Kathedrale, jüdischer Trödelladen und Montmartre-Treppe. Das ist schlichtweg genial, um die Szene zu dynamisieren, den Wechsel der Spielorte zu verflüssigen und, mittels Videotechnik, Innen und Außen ineinanderzumontieren. Doch das visuelle Gewusel verdoppelt meist, irritiert letztlich, da der Schall schneller als die Technik ist, Bild und Ton nicht synchron laufen. Viel zu selten nutzt Castorf das Mittel nach seinem im Zusammenhang mit dem «Ring» geäußerten Postulat: «Was wir machen, ist Dynamisierung des musikalischen Originals durch Gegenhandlung.» Zum Ausgang der ersten Auseinandersetzung zwischen Mephisto und Valentin sieht man, von der Kamera eingefangen, Margarethe und Faust (die ja erst später zueinanderfinden) auf der Hinterbühne tanzend und küssend sich umkreisen. Dies ist eine der wenigen produktiven Vorausblenden, die das narrative Moment erweitern, es in Spannung setzen. Schmalspurig wirkt die Castorf’sche Ironisierung dagegen später im Liebesduett – im Sinne seiner Ästhetik würde der Regisseur wohl eher von Störung oder gar «Zerschlagung» sprechen –, wenn die Kamera auf einen gelangweilt die Augen verdrehenden Mephisto hält, in die Eifersuchtsszene eines 50er-Jahre-Films überblendet und Männer zeigt, die ihre Autokarossen polieren. Es fehlt nur die Omo-Werbung als Sinnbild spießbürgerlich eingemeindeter Beziehungen – und siehe da, prompt kommt sie auch.

Die Wirkungslosigkeit solcher Widerrede hat natürlich mit Gounods Stoffverengung zu tun: Goethes Ideendrama mutiert zur religiös grundierten Liebestragödie. Aus wenig wird indes kaum mehr, wenn man nun – wie Castorf – politische, historische, kapitalismuskritische Anhänger an den leeren Opernkoffer hängt, Algerienkrieg und Frankreichs Mai-Unruhen in Filmbildern anreißt, Siebel (die Hosenrolle ist richtig und konsequent zur lesbisch Liebenden umcodiert) mit Marthe, Zola, Verlaine und Rimbaud diskutieren lässt und Soldaten abgeschlagene Köpfe aus dem Krieg heimbringen. Castorf, der ansonsten die durch ihre Kostüme genau charakterisierten Figuren beinahe Zeffirelli-realistisch in (rampennahe) Stellung bringt, aus den Sängern alles an Schauspiellust herausgekitzelt hat, was geht, bleibt im Grunde unter seinem Provokationsniveau – was den Abend auf die Dauer ordentlich längt.

Götz Thieme 

https://www.oper-stuttgart.de/spielplan/faust-gounod/

Zürich: Edward Clug «Faust – Das Ballett»

Am 1. Juni im Opernhaus

Ein guter Schluss ziert alles. Ein starker Anfang ist allerdings auch nicht zu verachten, und mit dem kann das Ballett Zürich wie kaum ein anderes aufwarten. Während im Hintergrund schwefelgelbe Wolken vorüberziehen, erhebt ein Gefiederter seine Schwingen. Er ist nicht der Einzige, der aus dem Dunkel kommt. Gefallenen Engeln gleich, hat sich eine ganze Vogelschar auf dem Bühnenboden niedergelassen. Es braucht seine Zeit, bis sich alle Vögel in voller Größe aufgerichtet haben. Hitchcock lässt grüßen. So könnte eine «Krabat»-Aufführung beginnen. Vielleicht auch ein «Schwanensee»-Akt der etwas anderen Art. Tatsächlich handelt es sich dabei um «Faust – Das Ballett». Und bei William Moore, der später immer rotes Schuhwerk tragen wird, nicht um Rotbart, sondern um Mephisto. Von Anfang an belauert er ein Schattenwesen, das gleich ihm auf der Bildfläche erscheint: einen Rollstuhl voller Bücher schiebend, seines angehäuften Wissens überdrüssig. Fraglos Faust.

Es sind in erster Linie bewegte, bisweilen sogar bizarre Bilder, die sich dem Gedächtnis einprägen. Ensembles, aus deren Mitte heraus Edward Clug seine Handlung entwickelt. In der ersten Szene sind es schwarze Vögel, die so lange um Faust kreisen, bis der sich – verwirrten Sinns – wie sein Rollstuhl um die eigene Achse dreht. In der zweiten uniforme Studenten, die biertrinkend eine choreografische Folie abgeben, von der sich die Aktionen der Solisten körperlich abheben. William Moore steht nicht nur Kopf in dem durchsichtigen Glaskasten, der Faust hier als Studierzimmer dient. Er kriecht in sein Gegenüber so hinein, als wollte er ihn fremdbestimmen. Was später denn auch sichtbarer geschieht, wenn der Kostümbildner Leo Kulas beide wie siamesische Zwillinge in einen Anzug packt.

Eine Groteskszene, vieldeutig in ihrer Aussagekraft, ironisch in ihrer Brechung und gleichzeitig tänzerisch so originell, dass man begreift, warum der Ballettdirektor des Slowenischen Nationaltheaters derzeit am Moskauer Bolschoi wie am Nederlands Dans Theater als Gast so willkommen ist. Clug lässt sich nicht auf einen Stil festlegen, sondern er arbeitet immer im Team, und deshalb darf in seinem choreografischen Konzept das Bildnerische dominieren, weil kontrollierend das Drama darüber nie verloren geht. Man mag den Pudel, d. h. den Balloon Dog à la Jeff Koons, noch als Jux abtun. Wenn Gretchen ihr Neugeborenes ertränkt, während acht Doubles das Abtreibungsthema zu dem ihren machen, läuft einem schon ein kalter Schauder über den Rücken. Viel Distanz ist hier nicht, von der kinoreifen Minimal-Music-Komposition Milko Lazars bleibt ohnehin niemand unberührt. Am wenigsten die Solisten, die sich allesamt so hineinsteigern in das vorgestellte Schicksal, als wär’s das eigene: neben William Moore vor allem Jan Casier in der Titelrolle und Michelle Willems als ein Gretchen, das hier offensichtlich zum Dienstpersonal gehört.

Ganz leise endet übrigens das Ballett – nicht mit einem Paukenschlag und schon gar nicht mit der Errettung Gretchens.

Hartmut Regitz

https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/faust-120/season_11232/