Geisterspiel
Japanisches Nō-Theater in der Cité de la Musique
Jedes der Stücke beginnt mit dem gleichen musikalischen Motiv hinter der Bühne, gefolgt vom ritualisierten Einzug der Musiker, gemeinsam mit dem Chor. Keine Frage: Nach hiesiger Terminologie muss man das Nō, die inzwischen 650 Jahre alte Form des japanischen Theaters, eindeutig dem Musiktheater zuschlagen, auch wenn man dabei eher an die antike Tragödie als an die neuzeitliche Oper denken sollte. Die Darsteller singen ihre Partien und tanzen sie auch in meistens langsamen, extrem stilisierten, dabei aber sehr kraftvollen Bewegungen auf der traditionell leeren Bühne. Begleitet werden sie von zwei Trommeln und der Bambusquerflöte Nōkan, während der meistens einstimmig in tieferen Lagen singende Chor oft die Handlung erzählt oder die Gedanken der Figuren ausspricht. Daraus entsteht jene strikt antinaturalistische, auf Psychologie und alle Bühnenillusionen verzichtende Formstrenge, die auch viele westliche Theatermacher nachhaltig inspiriert hat.
Gelegenheit, Aufführungen tatsächlich zu sehen, hat man im Westen freilich nach wie vor selten, weshalb man der Pariser Cité de la musique dankbar sein muss, die im Februar eigens eine traditionelle Nō-Bühne in ihren Konzertsaal eingebaut und Darsteller mit enger Anbindung an das Nationale Nō-Theater Tokio eingeladen hatte. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Frankreich und Japan zeigten sie neben drei der 250 traditionellen Nō-Stücke auch zwei aus dem Bereich des Kyōgen, die in den umfangreichen japanischen Aufführungen oft als komische Zwischenspiele fungieren, vergleichbar dem antiken Satyrspiel oder dem Intermezzo im europäischen Barocktheater. Schließlich verlangt das Nō in seiner ans sakral Ritualhafte grenzenden Stilisierung nicht nur einige Konzentrationsfähigkeit vom Zuschauer, es verhandelt auch Stoffe von großer tragischer Wucht.
Wie bei der griechischen Tragödie ist sein Grundgestus die Klage, auch wenn die Weltsicht deutlich vom Buddhismus geprägt ist. Der Hauptdarsteller tritt meistens in der Maske eines Geistes auf, der auch im Tod keine Ruhe findet, weil er sich im Leben zu sehr in Leidenschaften verstrickt hat oder den mit ihm Lebenden etwas schuldig geblieben ist. Wie der Krieger Kiyotsune im gleichnamigen Stück, der seiner liebenden Ehefrau Rechenschaft über seinen Selbstmord ablegt. Oder die Ehefrau in «Kinuta», die drei Jahre in Sehnsucht nach ihrem untreuen Mann eine Walktrommel schlägt, bevor sie ihn als Tote zur Rede stellt. Oder die Hofdame Rokujō in «Aoi No Ue», deren auch postmortal nicht zu stillende Eifersucht durch die gruselige Maske eines Dämons verkörpert wird.
Bis auf das letzte, ihm wahrscheinlich nur zugeschriebene stammen alle drei Stücke aus der Feder von Zeami Motokiyo, der um das Jahr 1400 die Form kodifizierte. Seitdem werden nicht nur die Kostüme und Masken, sondern auch die Spielpraxis mit wenigen Neuerungen möglichst ungebrochen von Generation zu Generation weitergegeben, vor allem in den fünf traditionellen japanischen Nō-Schulen. In der strengeren Tradition (sie war in Paris zu besichtigen) spielen dabei nur Männer, die Frauenrollen werden mit Masken verkörpert. «Es ist wie dieselbe Partitur von Beethoven, je nachdem ob sie von Herbert von Karajan oder von Zubin Mehta interpretiert wird», sagte der Darsteller Masakuni Asami im Vorfeld der Aufführungen einem französischen Kulturmagazin.
Die musikalische Umsetzung knüpft dabei bisweilen auch konkret an die Textinhalte an, wenn etwa die Schläge der Walktrommel in «Kinuta» musikalisch fortgeführt werden. Vor allem aber führen die sich steigernden Rhythmen und Rufe der Trommler und die hohe Lage der Nōkan den Zuhörer in eine Trance der Totenbeschwörung, die die Epiphanie der Geister beglaubigt. Damit bleibt das Nō nicht nur im Vergleich zu europäischen Theaterformen nach wie vor inspirierend, sondern vermag mit etwas Vorbereitung auch den westlichen Zuschauer nachhaltig emotional zu berühren. In Paris konnte man das erleben.
Michael Stallknecht