Super-DAU
Theatrale Versuchsanordnung oder Marketing-Event?
Bilder: Fotografien vom Set in Charkow, Fotos: Jörg Gruber und Volker Gläser/DAU 2019
Das erste, was uns vor dem Pavillon zwischen Théâtre de la Ville und Théâtre du Châtelet in die Hand gedrückt wird, ist ein Orientierungsplan für die beiden Bühnen im Zentrum von Paris. Die Châtelet-Seite zeigt Rot auf Schwarz eine labyrinthische Grafik voller Linien und Reizworte. HYSTERIE, KRIEG, ANGST und UNTERWERFUNG stehen SEX, LUST, JUGEND und ZURÜCKWEISUNG gegenüber, dazwischen IDEOLOGIE, MORAL, INTELLEKT, ORGASMUS und andere steile Begriffe, die anscheinend systematisch und bedeutungsvoll aufeinander bezogen sind. Auch das Théâtre du Châtelet ist, wie sich zeigen wird, auf Wänden, Türen und Fußböden mit diesen Schlagworten beschriftet. Doch hinter der Pforte, die ORGIE verspricht, verknäulen sich keine Leiber, bei SADISMUS wird keiner gequält, und der Flur, der zu KRIEG führen soll, endet vor einem klapprigen Bauzaun.
«Follow the navigation word by word» – alles nur ein Spiel mit geschickt geschürten Erwartungen? So wie der Plan, der keiner ist, verhält sich vieles bei DAU, um das so viele Gerüchte und Geschichten wuchern wie um kein anderes internationales Großkunstprojekt der letzten Jahre. Schon vor einem Jahr erhielt man in Berlin graue Mensa-Marken mit DAU-Schriftzug als Vorboten eines Events, das bereits für den Auftakt von Chris Dercons Intendanz im September 2017 geplant war. Damals hätte sich die ganze Rosa-Luxemburg-Straße samt Berliner Volksbühne auf eine Zeitreise begeben sollen, zurück in die Sowjetunion der stalinistischen 1930er Jahre bis ins Tauwetter der 1960er.
Lidiya Shchogolyeva als Daus Ehefrau Nora
Denn genau das war zwischen 2009 und 2011 im ostukrainischen Charkow passiert, wo der russische Regisseur Ilya Khrzhanovsky eine futuristische Fantasieausgabe des Instituts für theoretische Physik des Nobelpreisträgers Lew Davidowitsch Landau (1908-1968), genannt «Dau», als Filmset hatte erbauen lassen, samt historischen Interieurs, Kostümen, Uniformen, wissenschaftlichen Geräten und alltäglichen Gebrauchsgegenständen von der Unterhose bis zum Streichholz. Dort lebten und arbeiteten wohl zeitweise bis zu 400 Statisten, Organisatoren sowie Gäste aus Kunst und Wissenschaft, die ein nur dreiköpfiges Team um den Fassbinder- und Wenders-Kameramann Jürgen Jürges potenziell zu jeder Tages- und Nachtzeit filmen konnte. Der Verschleiß muss extrem hoch gewesen sein, ehemalige Mitarbeiter*innen erzählen in Interviews von organisatorischem Chaos, ausbeuterischen Arbeitsverträgen und mehr oder weniger expliziten Nötigungen, an Sexpartys teilzunehmen.
Die spärlichen Berichte von Besuchern am Set lesen sich wie Ausflüge in die bizarre Hölle eines freiwillig totalitären Menschenexperiments – wobei gerade solche Gerüchte die Aura des Projekts gleichzeitig nur gemehrt haben dürften. In Charkow, aber auch schon zuvor in St. Petersburg entstanden laut offiziellen Angaben insgesamt 700 Filmstunden, aus denen Khrzhanovsky und seine Mitarbeiter*innen in den vergangenen Jahren 13 Spielfilme, mehrere TV-Serien und jede Menge Bonusmaterial extrahierten.
Zur freiteiligen Präsentation der nur mit Ziffern numerierten Filme in Berlin, Paris und London sollte unter viel auffälligem Geheimhaltungsbrimborium die immersive Welt des Drehorts in veränderter Gestalt wiederauferstehen – in der deutschen Hauptstadt zunächst rund um die Volksbühne, später, nachdem die Zusammenarbeit mit Dercon gescheitert war (angeblich an den schlechten Vertragsbedingungen für die freien Mitarbeiter), mit den immersionsbegeisterten Berliner Festspielen als Veranstalter neben dem Humboldtforum, wo auch ein Stück der Berliner Mauer wieder aufgebaut werden sollte. Als die Berliner Verwaltung aus Sicherheitsgründen kein grünes Licht gab für die sehr kurzfristig eingereichten Anträge, zog die Karawane weiter nach Paris.
Hier sitzen wir jetzt, glühend heiße Blechtassen aus Sowjetbeständen mit sehr dünnem Tee in den Händen, auf den nackten Stufen der Zuschauertribüne im Théâtre de la Ville und warten auf das erste Screening. Beide Theater werden gerade renoviert; ein Grund dafür, dass DAU in den beiden einander gegenüberliegenden Häusern für drei Wochen unterkommen konnte. Ein paar Meter von uns entfernt singen zwei schwarz gekleidete Frauen klagende Volksweisen. Das Publikum ist mittags um 12 Uhr noch eher spärlich, Kulturbürger*innen und Kunstinteressierte aller Altersgruppen und Nationalitäten scheinen vertreten; im Laufe des Nachmittags bilden sich überall Schlangen. Rechts und links entlang der Zuschauertribüne hängen auf langen Kleiderstangen historische Kostüme vom Filmset, die teilweise auch das Personal in den Theatern trägt, etwa die Sicherheitskräfte unten am Einlass, die aufpassen, dass jeder sein Handy wegschließt. Auch sonst wirkt die Ausstattung der Theater für eine immersive Erlebniswelt bestenfalls provisorisch: Die Donnerbalkentoiletten aus frischem Pressspan sind eher ökologisch als historisch korrekt, in der Mensa sitzen nicht nur Besucher, sondern auch den Filmprotagonisten täuschend ähnliche Wachspuppen vor «sowjetischem» Kantinenessen, und im Merch-Shop voller Blechlöffel und Fischkonserven wirbt ein Video mit der Performance-Künstlerin Marina Abramovic für durchdringende DAU-Düfte namens «Intimacy» oder «Sacrifice».
Für uns, das merken wir schnell, wird es nicht immersiver. Denn unser Sechs-Stunden-Visum beinhaltet weder den Psychotest, dessen algorhythmische Auswertung das individuelle Programm bestimmen soll (dieses «device» hat angeblich auch für Langstreckenbesucher bis zum Schluss nicht funktioniert), noch das an die Filmsichtung anschließende Zwiegespräch mit einem Schamanen, Sozialarbeiter oder Rabbi.
Abwechslung bieten nur Orte und Modi der nach dem Zufallsprinzip organisierten, nicht chronologischen Filmpräsentation: So kann man in den Kellern der Theater in zahlreichen außen verspiegelten Kabinen allein auf einem Bildschirm zwischen 16 angezeigten Streamings wählen (auf mindestens einem ist immer Sex zu sehen). Der Zapp-Modus erweist sich als ideal für DAU; ich wechsle den Kanal, wenn es öde oder unangenehm wird.
Marina Abramovic
Ob in voller Spielfilmlänge oder als szenische Splitscreen-Fragmente: Die DAU-Filme sind weder dokumentarische Rekonstruktionen noch Reality-TV, daran können weder Requisitenakribie noch Live-Sex mit echten Künstlerinnen und Wissenschaftlern etwas ändern. In den oft überraschend cleanen Räumen (Innenhof, Cafeteria, Wohnung, Seminarraum, Labor) wirkt das farbige Echtzeittreiben, an das sich Jürges’ Kamera mit Geduld und Ausdauer heftet, eher wie eine raumzeitlich unspezifische Parallelwelt-Soap ohne Pointen und Cliffhanger. Macht, Hierarchie und ein tendentiell instrumentelles Menschenbild spielen in Gestalt von KGB-Überwachung und Verhaltensexperimenten mit Mensch und Tier zwar eine Rolle, dienen aber genau wie die zahlreichen, zumeist heterosexuellen Sexszenen und Beziehungsgespräche eher dazu, dem improvisierten Institutsalltag einen Kick zu versetzen – für meinen Geschmack mehr schlüpfrig als existenziell. Von vielen Szenen lese ich auch erst nachträglich, etwa, dass eine Frau bei einer Verhörszene mit einer Wodkaflasche vergewaltigt wird, von Liebesgeschichten zwischen zwei Frauen oder zwei männlichen Obdachlosen, davon, dass am Ende eine von Khrzhanovsky nach Charkov geladene Gruppe Moskauer Neo-Nazis das Set zerstört.
«DAU 9.2» immerhin entwickelt in der Durchmischung von Sex und Wissenschaft, Inszenierung und Authentizität, Gegenwart und Vergangenheit eine eigentümliche Faszination. Wieder gibt es keinen wirklichen Plot, sondern beobachtetes Leben, an das sich die Kamera manchmal bis zu einer halben Stunde am Stück heftet. Dann wieder Schnitte, die riesige Lücken lassen, zeitlich vor und zurück springen. Im Zentrum steht der reale Physiker Nikita Nekrassov, damals Mitte dreißig, heute Professor mit Schwerpunkt String-Theorie am Simons Institut for Geometry and Physics in New York, wie ich später google. In seinen Seminaren beschreibt Nekrassov die Tafel mit eleganten Gleichungen; in der Liebe läuft es nicht ganz so rund: Immer wieder unternimmt der sommersprossige Russe freundliche, meist ergebnislose Flirtanläufe.
Dazwischen konferiert Nekrassov mit einer imposanten Riege internationaler Koryphäen aus Ost und West: Die Mathematiker Dmitry Kaledin, Samson Shatashvili und Shing-Tung Yau, die Physiker David Gross, Carlo Rovelli und Erik Verlinde, den Neurobiologen James Fallon sowie den Rabbi Adin Shtainsaltz, spielen keine historischen Figuren, sondern die renommierten Wissenschaftler, die sich tatsächlich sind. Bewirtet von spitzenbeschürzten Kellnerinnen diskutieren sie mit ihren Gastgebern bei Kabeljauleber, georgischem Wein und Zigaretten gegenwärtige wissenschaftliche Fragen, aber auch eher überschaubare Allgemeinplätze zu Kunst, Leben und der Zukunft des «neuen Menschen»: «Beauty is the construction of life as we like it to be», sinniert Dau alias Currentzis in holprigem Englisch, und erklärt, dass sein Institut Wissenschaft wie große Kunst betreibe. Nichtsdestotrotz gelingt Khrzhanovsky mit diesem Gastmahl eine diffus utopische Situation – jedenfalls für eine internationale männliche Elite.
Ursprünglich hatte Ilya Khrzhanovsky, der selbst aus einer Künstlerfamilie kommt – sein Vater ist der Filmemacher Andrej Khrzhanovsky, dessen surrealistischer Trickfilm «Die Glasharmonika» über das Verhältnis von Kunst und Macht bei seinem Erscheinen 1968 verboten wurde –, Lew Landaus Biografie nach einem Drehbuch des Schriftstellers Vladimir Sorokin verfilmen wollen (das Medienboard Berlin Brandenburg etwa förderte das Projekt 2006 immerhin mit respektablen 350.000 Euro). Der 1908 in Baku geborene Sohn einer jüdischen Ärztin und Pharmakologin muss tatsächlich ein Superbrain gewesen sein: Schon mit 14 begann er an der Universität Baku Physik und Chemie zu studieren, mit Anfang zwanzig war er bereits den wichtigsten Physikern seiner Zeit persönlich begegnet, lehrte und forschte als Institutsleiter erst in Charkow, dann in Moskau, wo er an der Entwicklung der Wasserstoffbombe beteiligt war. Trotz diverser Auszeichnungen u.a. mit zwei Stalinpreisen blieb Landau stets im Visier des KGB und durfte nicht ins Ausland reisen. Und er musste, wie man im Anhang von Band I des phsyikalischen Grundlagenwerks «Landau/Lifschitz» nachlesen kann, «zweimal sterben»: Der Nobelpreisträger überlebte zwar 1962 knapp einen Autounfall, starb aber sechs Jahr später an den Folgen.
Teodor Currentzis in seiner Rolle als Lev Landau
Die Beschäftigung mit Landau scheint Khrzhanovsky vor allem mit einem heroischen Geniebegriff infiziert zu haben, den er vorzugweise auf Männer anwendet. Dem «Guardian» erzählte Khrzhanovsky, er habe für die Dau-Rolle mit dem griechisch-russischen Stardirigenten Teo Currentzis gezielt «ein Genie» gecastet, eine Qualität, die kein Schauspieler porträtieren könne. Ilya, der zuvor nur mit dem in Cannes gezeigten Film «4» (2004) internationales Renomme erlangte, scheint indessen vor allem ein genialer Netzwerker zu sein. Davon zeugt die eindrucksvolle Liste nicht nur der Wissenschaftler, sondern auch von Künstler*innen wie Marina Abramovic, Romeo Castellucci, Carsten Höller, Boris Mikahilov oder Maria Nafpliotou, die Gastauftritte am DAU-Set (und teilweise auch in Paris) absolvierten; außerdem betanzten Sasha Waltz’ Tänzer*innen einen Tag lang das Théâtre de la Ville, komponierte Brian Eno den Soundtrack, gab Peaches ein Pop-Up-Konzert, synchronisierten Gérard Depardieu und Isabelle Huppert die Filme und so weiter. Ein effizientes Schnellballprinzip, in dem jeder gute Name als Argument für die Teilnahme der nächsten Ausnahmekünstler*in bürgt.
Die Schauspielerin Valery Tscheplanowa, die ebenfalls im DAU-Cast auftaucht, war hingegen schon ganz früh mit an Bord. Sie erzählt von einem Berliner Casting Ende der Nuller Jahre in einem Café «voller Frauen» am Savignyplatz: «Es war mein erstes Casting überhaupt!» Bei ihrem Vorsprechen habe Khrzhanovsky «irgendwann die Kamera ausgeschaltet und gesagt: ‹Lass uns Freunde sein!›». Der eigentliche Dreh bestand dann nur aus einer wilden Party mit Künstlern und Wissenschaftlern während einer Nacht in St. Petersburg, wo Tscheplanowa Müllers «Hamletmaschine» sprach. «Dann wurde ich sehr schnell von der Akteurin zur Zuschauerin. Seither bin ich jedes Jahr ein oder zweimal in London gewesen, um mir das Material anzusehen.» Khrzhanovsky beschreibt sie als «Bezugsmittelpunkt», «eine Art Intendant mit besonderem Gespür für Frauen, die gerade Unterstützung brauchen». Einigen Reportagen zufolge ist das die eher vorsichtige Umschreibung eines Verhaltens, das in #MeToo-Richtung driftet. In den Filmen lässt Khrzhanovskys gezielte historische Unschärfe offen, ob DAU patriarchale Strukturen kritisch als historische abbildet oder unreflektiert neu performt. Fest steht, dass die Aufgaben klar verteilt sind: Während die priviligierten Männer denken und parlieren (Arbeiter, die offiziellen Helden der UdSSR, sind ohnehin kaum zu sehen), leisten Frauen vorwiegend Körperarbeit, ob als Servierkräfte in der Kantine, Versuchsobjekte im Labor oder als Ehefrauen und Gespielinnen der Wissenschaftler, auch wenn sich gelegentlich eine bebrillte Kollegin unter die Männergruppen mischt. Schon das Casting scheint ungleich verlaufen zu sein: Künstlerinnen sind in DAU vergleichsweise dünn gesät, von Wissenschaftlerinnen ganz zu schweigen. Khrzhanovsky hat lieber Schauspielerinnen und Pornomodels angeheuert, durchaus selbstbewusste, eigenwillige Persönlichkeiten, die – Stichwort Zurückweisung – die Männer auch mal abblitzen lassen.
Bis in die Sammlung der Moderne im Pariser Centre Pompidou hat DAU es geschafft. Der Raum im sechsten Stock ist als eine Art Raumschiff konzipiert. Aus einem schwarzen Flur blickt man durch runde Bullaugen in eine sowjetische Wohnung, deren Diwane, konstruktivistischen Gemälde und Teetassen aus den DAU-Filmen vertraut sind. Die Frau, die hier am Küchentisch sitzt und ein Buch liest, haben wir hingegen noch nicht gesehen. Gegenüber von Flur und Wohnung ist noch ein Fenster, das wir fast übersehen hätten: Aus tiefstem Schwarz beobachtet uns kaum erkennbar eine KGB-Puppe beim Beobachten.
Die kleine Installation im Centre Pompidou ist fast aufschlussreicher als viele Stunden Film und Theaterlabyrinth am Châtelet. Denn hier wird nicht nur diffus russische Geschichte, sondern auch unser Blick darauf inszeniert – als ein Blick, der nicht letzte Instanz ist, sondern seinerseits unter Beobachtung steht. Auch die Frage, worauf wir in der Wohnung eigentlich gucken, stellt sich im Museum noch einmal neu. Ist das wirklich eine getreue Rekonstruktion der Vergangenheit? Was passiert, wenn eine solche Rekonstruktion von gegenwärtigen Menschen belebt wird? Welche Wünsche verbinden sich damit? Suchen wir nicht gerade traumatische Situation wiederholt auf, um sie zu einem glücklicheren Ausgang zu führen? Und was bedeutet das für ein Russland, das auf sich selbst zurückblickt?
Die New Yorker Exil-Russin Masha Gessen beschreibt in ihrem Buch «Die Zukunft ist Geschichte» (2018) eindrücklich, wie Russland nach einer kurzen Phase der Freiheit in den 90er Jahren sich mit Putins «Mafiastaat» wieder auf politische und gesellschaftliche Strukturen zubewegt, die dem Totalitarismus der Sowjetunion erschreckend ähneln. Während in den 90er Jahren der Soziologe Juri Lewada noch vermutete, dass der «Homo Sovieticus» – ein durch erlittene Willkür und Strafen «fügsamer, ausführender, mitmachender Menschentypus», der seine Unterdrückung durch die Zugehörigkeit zum siegreichen russischen Imperium kompensiert – binnen drei Generationen ausgestorben sein werde, zeigen Umfragen, dass diese Mentalität sich auch ohne sozialistische Ideologie wieder reetabliert hat. Heute gezielt mit Propaganda und Ausgrenzung gestützt, etwa, indem die russische LGBTQ-Szene zum Sündenbock erklärt und Homosexualität per Gesetz kriminalisiert worden ist.
Obwohl gerade Letzteres ein Grund dafür sein dürfte, dass DAU in Russland nicht gezeigt wird (die – allerdings ihrerseits ambivalenten – Szenen mit homosexuellen Inhalten dürften so leicht keine Zensur passieren), nimmt sich Khrzhanowskys Projekt vor dem Hintergrund der Wiederkehr des Homo Sovieticus, aber auch der nicht nur Russland dominierenden mafiösen Strukturen höchst problematisch aus. Denn DAU-Hauptsponsor mit 25 bis 50 Millionen Euro ist seit der Charkover Phase die in London ansässige Stiftung «Phenomen Trust» des russischen Oligarchen Sergej Adonjev, der sein zeitweise 800 Millionen Dollar schweres Vermögen in der St. Petersburger Goldgräberstimmung der 90er Jahre, als Putin dort Vizebürgermeister war, mit Obstimporten, Telekommunikation und angeblich auch Kokainhandel gewonnen hat.
Inzwischen setzt Adonjev, der sich zwischenzeitlich die bulgarische Staatsbürgerschaft gekauft (und vergangenes Jahr wieder verloren) hatte, auf ein «philantropisches» Image; neben DAU ist er an der Finanzierung von Teo Currentzis Ensemble «Musica Aeterna», der Moskauer Spielstätte «Electrostanislavski» sowie an verschiedenen Stiftungen beteiligt, die sich für Bildung einsetzen. Ob das seriöse Engagement Gras über eine potenziell illegale Vergangenheit wachsen lassen soll, lässt sich schwer sagen. «Wir haben das damals prüfen lassen und nichts gefunden», sagt der Intendant der Berliner Festspiele Thomas Oberender, der die DAU-Unternehmung «nach wie vor faszinierend» findet. Nur aufgrund eigener andere Planungen stünden die Festspiele im Falle eines zweiten DAU-Berlin-Versuchs «sicher» nicht noch einmal als Veranstalter zur Verfügung.
Neben der Finanzierung aus nicht überprüfbaren Quellen ist aber auch das Charkover «Freilandexperiment mit Menschen» (Oberender) mehr als zwiespältig, genau wie die einkalkulierte Neugier sowohl der partizipierenden Künstler*innen und Wissenschaftler als auch des Publikums, das sich durch DAU immersive Einblicke in totalitäre Machtstrukturen erhofft. Vielleicht legt Krhzhanovsky es sogar mit zynischem Zeigefinger darauf an, dass sich gerade die westlichen Teilnehmerinnen und teilnehmenden Beobachter selbst als «fügsamen, ausführenden, mitmachenden» Typus erleben, der sich bereitwillig in das unübersichtliche DAU-Setting einbauen lässt? Doch dazu sind, zumindest bei der Pariser Stippvisite, weder die Filmkunst noch die immersive Präsentation überzeugend genug.
Eva Behrendt