Inhalt

Sex sells

Anne Imhof performt in der Tate Modern

Von Wiebke Roloff

«Sex». So hat Anne Imhof die Schau genannt, die sie für das Performance-Festival der Tate Modern an Londons Themse-Ufer entworfen hat. Weil sie Einsilber mag, die weite Assoziationsflächen öffnen. Wer ihre dreiteilige «Oper» namens «Angst» von 2016 kennt oder 2017 auf der Biennale in Venedig den «Faust» im deutschen Pavillon besucht hat (für den sie den «Goldenen Löwen» bekam), der ahnt: Mit dem Geschlechtsakt hat «Sex» nur abstrakt zu tun. Im Sinne von Grenzerweiterung vielleicht, oder auch: Grenzverletzung. Gender-Facetten spielen eine Rolle. Entgegengesetzte Pole und alles, was dazwischen liegt.

Was sich dem Betrachter im Bauch des Blavatnik-Baus offenbart, ist ganz und gar auf Kontraste ausgelegt. In einem der beiden umgebauten Heizöltanks der Tate Modern herrscht von Stroboskopblitzen zerrissene Dunkelheit, der andere ist in helles Licht getaucht. Im ersten werden die Besucher auf einer T-förmigen Empore über die Aktionsfläche gestellt, im zweiten können sie sich frei verteilen. Wieder gibt es eine Plattform, diesmal für die Darsteller, die sie allerdings nur sporadisch nutzen. Mächtiges, stumpf-warmes Holz trägt ein schmales L aus Gitterplatten, die beim Beschreiten metallisch scheppern. Einige Säulen sind in Polster eingeschlagen, man denkt an Gummizellen. Am Rand des Tanks harte Transparenz: Eine Hälfte des gewaltigen Betonrunds wird von einem Umgang aus Glasschirmen gesäumt, hinter dem die Performer sich sowohl ausstellen als auch unnahbar machen können. Dazu kommen schmutzige Matratzen, manche einfach an die Wand geschoben, andere auf Plattformen erhöht. Ergänzende Requisiten: Flaschen und Bierdosen. Knistrig-trockene Rosensträuße, Motorradhelme, allerlei Rauchgeschirr. Gelegentlich schäumen Flüssigkeiten. Dampf steigt auf als sanft verwirbelnde Materie. Hier werden Voraussetzungen geschaffen für ein Widerspiel aus Nähe und Distanz zwischen Performern und Publikum. Doch zugleich behaupten Stofflichkeiten ihren Eigenwert, beharren auf Textur und Klang. Unterstrichen wird das durch gelegentlich aus Lautsprechern beigesteuerte Geräusche: gellendes Schleifen jenseits der Schmerzgrenze. Oder Scherbenklirren.

Auch einzelne Gemälde hängen in den Räumen. Im Dunkelrund sieht ein seitlich gekippter, rotschwarzer Sonnenuntergang nach gequälten Hautfalten aus. Im Lichttank schwarzweiße Hochformate, der Lack zerritzt. Ein gesichtsloser Schädel lässt sich in den Linien ausmachen. Die kleineren Nebenräume zieren Metallplatten mit rinnenartig eingebogener Unterkante. An anderer Stelle prallen glänzende schwarze und gelbe Flächen aufeinander, an der Demarkationslinie verwischt. Schließlich Schwarzweißfotos: Eliza Douglas, vervielfältigt, kauernd, den Mund aufgerissen wie zum Angriffsschrei. Eine Variation des Bilds kam schon in «Faust» zum Einsatz.

Imhofs langjähriger Kollaborateurin folgt das Geschehen, das begreifen die Zuschauer rasch. Unter den 15 Darstellern ist sie zweifellos die Anführerin. Gern thront sie irgendwo oben, über der Szenerie und singt - die Stimme verblüffend tief für den schmalen Körper - melancholische Songs. Mal ist das kaum mehr als Vokalise, mal anspruchsvolle neobarocke Musik (Billy Bultheel, Eliza Douglas, Anne Imhof und Ville Haimala).

Die Idee der Polarisierung, im Raum in Extreme getrieben, spart die Darsteller aus. Im Gegenteil zielen Kostüme und Gebaren auf Androgynität. Unförmige T-Shirts verwischen Konturen, magere Glieder verschwinden in losen Hosen, Frisuren lassen keine Schlüsse zu, und Kurven gibt es wenig.

Wie in «Faust» kommt immer wieder vor, was sich als Catwalk beschreiben lässt - kein Zufall. Douglas steht gelegentlich auf dem Laufsteg, und sie ist nicht das einzige Model unter den Performern. Das Ausschreiten der Räume kann entweder wie in Zeitlupe geschehen oder aber als energischer Marsch. Posiert wird frontal, breitbeinig. Da wird nicht geworben und verführt, sondern etwas festgestellt, ja Territorium markiert: Hier steh ich. Punkt. Kein Lächeln oder Stirnrunzeln bricht je die Mienen auf. Da ist nur dieser intensive, fordernde Blick.

Wann was wo passiert, muss das Publikum erst entschlüsseln. Zwar kann man in jedem der Räume in der Regel ein, zwei Figuren still kauern sehen. Doch die konzertierte Aktion wandert von einem Tank zum andern. Da auf der Plattform im Dunkeltank nur eine von Türstehern streng überwachte Zuschauerzahl Platz findet, entsteht schnell eine Dynamik der Knappheit. Da wird verhandelt, gedrängelt, sich gewunden. Da wird kalkuliert, taxiert, riskiert. Da wird Platz gehamstert und verteidigt. Man hat die Wahl: Entweder kämpft man sich vor ins Zentrum einer Aktion, oder man lässt sich dort nieder, wo man sie als nächstes erwartet. Selbst wer an der richtigen Stelle landet, sieht nur in der vordersten Reihe genug, und auch dann meist nur kurz, denn schon bewegt sich die Gruppe weiter. «Imhof gestaltet auch die Performanz des Zuschauens», kommentieren die Kuratorinnen Catherine Wood und Isabella Maidment. Es ist spannend, zu spüren, wie territoriale Dynamik im Publikum um sich greift. Demütigend ist es auch. Und verdammt frustrierend. Erst als es in der letzten Stunde der Aufführung etwas leerer wird, entspannt sich die Lage.

Die enge Schlinge aus Körpern, die sich unweigerlich zuzieht, wo immer sich ein Ereignis andeutet, dient den Performern als Spiel- und Angriffsfläche. Der entstandene Kreis, die wartende Gasse werden ausgeschritten, ihre Begrenzungen durchbrochen. Häufig geschieht das auf quasi-rituelle Weise, etwa, wenn zwei Performer auf Schultern gehoben werden wie ein Königspaar, um dann im Eilschritt kreuz und quer durch den Tank zu paradieren, wobei sich vor dem Zug ebenso rasch eine Bahn öffnet wie hinter ihm wieder schließt: Leiber fließen wassergleich um Hindernisse. Dann wieder schießen welche mit Anlauf in einen Kniefall, ziehen sich zurück, setzen wieder vor, immer ein Stück weiter, die Menge wie mit Meißelstößen auftreibend. Oder Darsteller springen eine Leiter hinauf, werfen sich rückwärts in die wartenden Arme der anderen, lassen sich beim Trauermarsch darbieten wie ein Opfertier. Einmal mehr fühlt man sich an Imhofs «Angst» erinnert. Kein Wunder, das Gros ihrer Mitarbeiter - allesamt Künstler mit eigenen Karrieren - sind Langzeit-Verbündete. Sie verfügen über gemeinsames Vokabular.

Oft hat die Choreografie etwas Gewaltvolles. Es kommt sogar vor, dass das Publikum direkt angegriffen wird. So stürzt sich der Tänzer Mickey Mahar - heftiges Rotieren aus den Ellenbogen - direkt in die Umstehenden, die schmerzhaft ineinandergestoßen werden oder aber selbst stoßen, indem sie rasch zurückspringen, obwohl da gar kein Platz ist.

In den Nebenräumen sind Matratzen-Lager ausgestellt. Von einer Plattform lässt die Sängerin Nomi Ruiz Zucker rieseln, kurz darauf stimmt sie einen Country-Song an: «Oh death». In den Ecken lungern teilnahmslos andere, lassen Bierdosen schnalzen und den Inhalt sprudeln. E-Zigaretten zischen, Dampf steigt auf. White Sugar ist Drogenjargon für Crack, auch die Vapes könnten für härtere Sachen stehen. Vielleicht geht es aber auch gerade um eine unschuldige Härte. Trotzdem überrascht die Bezeichnung «teenage bedrooms» - das Ganze sieht eher nach Stricher-Höhle aus.

Selten entstehen sichtbare Beziehungen zwischen den Figuren. Meist wird eher nebeneinander agiert als aufeinander reagiert, der einzelne bleibt allein. Räumt seinen Platz, wenn jemand anders dazukommt. Oder zieht sich ganz auf sich selbst zurück, holt das Handy hervor, versenkt den Blick im Bildschirm und tippt gelegentlich ein paar Zeichen. Tatsächlich verschickt Imhof, die sich am Rand hält, während der Aufführung Anweisungen per Textnachricht.

Und doch gibt es Momente schwarzer Romantik. Magische Tänze werden im Dunkeltank geboren, oft angeführt von Josh Johnson im Flammenshirt. Paare drehen sich, Stirn an Schulter und Schulter an Stirn, im Walzerschritt. Körper bilden einen erst sehr spitzen, dann immer weiteren Winkel und schrauben sich voran, während sich an den Wänden ihre geisterhaft hohen Schatten wiegen. Zu später Stunde werden die Rosensträuße in Brennstoff getaucht, entzündet und wie Weihrauch geschwenkt. Glühende Blüten segeln zur Erde, verglimmen und verrauchen, geheimnisvolle Aschepfade zeichnend.

Ursprünglich wollte Imhof die Schau «Death Wish» nennen. Das hat mehr Silben, trifft aber eine Atmosphäre, die noch lange nachwirkt.

Wiebke Roloff Halsey

Zu erleben noch bis zum 31. März in der Londoner Tate Modern.

www.tate.org.uk/whats-on/tate-modern/exhibition/anne-imhof