Inhalt

Welt-Theater-Geist

Moritz Rinke zum Tod von Andrzej Wirth

Professor Andrzej Wirth würde ich zutrauen, auch noch nach seinem Tod überraschend aufzutreten. Zwei Tage nach seinem Tod bin ich alleine in meiner Wohnung, die einmal seine war. Ich sitze im Wohnzimmer, das er Studio nannte, und höre die Badezimmertür zuschlagen. Ich schaue nach, aber da ist niemand. Ich laufe ins Arbeitszimmer, das er Salon nannte, in dem jetzt irgendetwas knarrt. Hier empfing er auf einer samtroten Chaiselongue bis in die neunziger Jahre Studentinnen und Studenten.

Es waren die berühmten Audienzen des Professors, während derer er über Brecht oder Gombrowicz sprach und immer auch über die Fortuna auf der Turmkuppel des Charlottenburger Schlosses, das man aus seinem Salon sehen konnte. Die Schicksalsgöttin der römischen Mythologie, die auf einem Kugellager steht und sich, je nach Wind, kaum bemerkbar dreht und deren erhobene Hand Professor Wirth bei Nordwind an den Führergruß Adolf Hitlers erinnerte. «Bei Nordwind und dieser Stellung der Fortuna geht der polnische Emigrant nie aus dem Haus!», sagte er dann immer in seinem charmanten, irgendwie adligen, polnisch-amerikanischem Deutsch.

Wind, genau, denke ich, als jetzt die Tür des Kinderzimmers zuschlägt, aber wie kommt der Wind in die Wohnung? Vor vier Tagen hatte Andrzej Wirth noch eine Email geschickt, «Ich habe Sie auf Lanzarote vermisst», er war gerade zurückgekommen, wir hatten uns auf der Insel verabredet, aber mir kam immer etwas dazwischen, und seit Tagen wollte ich wenigstens seine Mail beantworten.

Ich stehe im Kinderzimmer, das früher das Schlafzimmer des Professors war. Ein roter Läufer lief damals durch das Zimmer bis zum Bett, es schien, als verdiente damals selbst das Zubettgehen einen Auftritt. Sein weißer Kopf muss wohl dann dort gelegen haben, wo heute der kleine Maltisch meines Sohnes steht. Wenn das mein Sohn, der noch zu klein ist, wüsste: Er malt da, wo mein Professor träumte.

Jetzt höre ich die Haustür, jetzt wird es seltsam. Ich laufe zur Tür. Es gab ohnehin schon keinen Tag, an dem ich nicht an Professor Wirth dachte. Jeden Tag, wenn ich die Tür zu unserer Wohnung aufschließe, schaue ich auf ein Messingschild: DAMEN, darüber ein Messinglöwe mit Ring durch das Löwenmaul, der Ring ist bewegbar, damit kann man anklopfen. Vieles habe ich in der Wohnung verändert, aber DAMEN und den Löwen habe ich gelassen. Manchmal klopfe ich selbst bei mir an und stelle mir vor, ich wäre eine Dame, die Professor Wirth besucht. Er öffnet die schwere Eisentür und ergreift sofort elegant meine Hand zum Kuss, das konnte keiner so gut wie Professor Wirth, den Handkuss.

Vielleicht hat man so noch Anfang des letzten Jahrhunderts in Wlodawa, östlich von Warschau, die Hand geküsst, wo Andrzej Wirth am 10. April 1927 geboren wurde und wo er als Kind auf dem Anwesen seines Großvaters den polnischen Landadel beobachtet haben muss. Ich stelle mir immer vor, dass Andrzej Wirth in einem Tschechow-Stück groß geworden ist mit sehnsüchtigen Frauen und unruhigen Männern, die große Reden auf Polen hielten.

Professor Wirth hatte immer seine polnische Biografie zur Hilfe genommen, wenn es darum ging, die Frauen zu feiern. Einmal hatte ich ihn in seiner neuen Berliner Wohnung gegenüber der Schaubühne am Kurfürstendamm überrascht, er ließ gerade zwei Zwillingsschwestern mit den Namen Ariane und Nadja in der maßgeschneiderten polnischen Uniform seines Vaters in Öl malen. Sein Vater hatte 1944 an der berühmten Schlacht um Monte Cassino teilgenommen, wo er aus dem Exil auf Seiten der Alliierten gegen die Deutschen kämpfte.

Ich werde diesen Anblick nie vergessen: mein Professor im, wie so oft, weißen Leinenanzug mit Schal, Ariane in der Monte Cassino-Uniform im Visier des Malers, Nadja auf der roten Chaiselongue, dazu der Geruch der Ölfarben. In diesem Gesamtbild, in dieser Exposition, wie mein Professor sagen würde, liegt viel Wesenhaftes: Wirth liebte Schönheit, er umgab sich wie ein Arrangeur mit Schönheit und Exaltiertheit, er zelebrierte dabei fast tänzelnd die Möglichkeiten eines solchen Arrangements.

Leider habe ich nicht so eine berühmte Uniform wie mein Professor, aber ich habe seine Wohnung. Natürlich erzählte ich früher meinen DAMEN-Besuchen, wer schon alles in dieser Wohnung war: zuerst natürlich Andrzej Wirth, der Brecht-Assistent, Wegbereiter für Gombrowicz in Europa und Schüler von Tadeusz Kotarbinski, dem berühmten Repräsentanten der polnischen Logik-Schule und Erfinder der Lehre der Praxeologie mit Verbindungen zum Wiener Kreis, also zu Ludwig Wittgenstein, das klang immer beeindruckend; später natürlich Gründer des berühmten Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen! Nachschieben konnte man dann noch Günter Grass, der natürlich als Freund vom Professor auch in der Wohnung war, ebenso Marcel Reich-Ranicki, Robert Wilson und Karel Wojtyla, also der Papst Johannes Paul II., klar, der war auch hier. 

«Das ist doch nicht wahr?», sagten alle. «Doch, doch», sagte ich, «mein Professor und der Papst waren Jugendfreunde, die haben zusammen in Warschau studiert, der Papst wollte eigentlich auch Theaterstücke schreiben.»

Ab 1989 studierte ich bei Professor Wirth, und wenn er in seiner 2013 erschienenen Autobiografie behauptete, René Pollesch und ich hätten in Gießen «zwei Pole des Schreibens dargestellt», so war das vor allem durch die ästhetische Toleranz möglich, die er dabei ausübte und die mir imponierte. Dem von ihm gegründeten Institut für Angewandte Theater­wissenschaft wird ja oft eine postdramatische Ideologie nachgesagt, der Kritiker Gerhard Stadelmaier nannte die Gießener Schule sogar die «Unglückschmiede des deutschen Theaters», aber das stimmt alles nicht. Erstens haben Theatergruppen wie Rimini Protokoll, Gob Squad, She She Pop, Showcase Beat Le Mot, so unterschiedliche Theatermacher wie Hans-Werner Kroesinger, René Pollesch oder Mathias Schönsee sowie Lektoren wie Nils Tabert, der heute die Theaterabteilung des Rowohlt-Verlags leitet, das Theater sehr bereichert und zweitens war die Ausbildung in Gießen keineswegs ideologisch.

Andrzej Wirth hasste Ideologien, er sprang als Deportierter aus fahrenden Zügen, entkam dem Warschauer Aufstand, flüchtete vor Russen und Deutschen, später sogar vor polnischer Repression – so ein Mann vertrat keine Ideologien. Im Gegensatz zu vielen heutigen Theaterdramaturgien oder Kritikern sorgte Andrzej Wirth an seinem Institut für Vielfalt, Offenheit, Neugierde, und er liebte es, wenn es seinen Studenten um etwas ging, wenn sie Leidenschaft hatten.

«Mein Haar ist Silber / Mein Herz ist Gold / Es schlägt für Alle / Was Ihr wollt», schrieb ihm Frank Hentschker, sein früherer Student und heute Theaterprofessor in New York.

Natürlich war er gnadenlos subjektiv, für ihn war gerade das eine Qualität, ein Stück Freiheit. Zur normlosen Freiheit ermutigte er auch seine Studenten und gab das Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte, weiter. Vielleicht war es dies: Professor Wirth lehrte den selbstbewussten Auftritt, die nötige Arroganz, ohne die ich gar nicht hätte überleben können in einem Kultur- und Rezensionsbetrieb, der glaubt, subjektive Wahrnehmungsweisen objektivieren zu können und der oft mit düsterer, destruk­tiver Art aburteilt, nicht mit jener konstruktiven Freude und Freiheit, die Andrzej Wirth eigen war.

Ich stehe immer noch vor der Haustür, in der Wohnung ist es nun still geworden. Ich schaue auf den Messinglöwen an der Tür. Ein Löwentyp war der Mann mit den blassen Händen und dem weißen Schal nicht, aber der Professor hatte nicht umsonst Messing an der Tür! Das ist natürlich ein Verweis auf den «Messingkauf», Brechts Gespräche über eine neue Art, Theater zu machen.

Vor meiner Haustür wende ich also immer den «stereometrischen Blick» an, für den Andrzej Wirth als Theaterkritiker bekannt geworden ist, der komparatistische Ansatz, das multidimensionale, das offene Sehen. Deshalb ja auch das Gefühl, er könnte beim Verlassen der Welt noch kurz in seiner alten Wohnung gewesen sein.