Inhalt

Rezensionen 1. Februar

Essen: Weber «Der Freischütz»

Am 3., 17. Februar, 15. März

Wer tief in die deutsche Seele blicken will, muss bei Mitternacht in die Wolfsschlucht. Jenes vermeintlich schicksalsschwere c-Moll-Gebiet, dessen Konturen erst sichtbar werden, nachdem sich der fis-Moll-Nebel verzogen hat und Samiel auf den Plan tritt. An diesem schauderhaften Ort samt seiner meteorologischen Unmöglichkeit (zwei Gewitter zucken gleichzeitig aus entgegengesetzten Richtungen) zeigt sich inmitten von Eulen, Raben, Adlerflügeln, Gießkelle und Totenköpfen der Hang der Nation zum bleiern beschwerten Aber- und Geisterglauben, ihr Verfangensein in einer durch grimmige Metaphysik erweiterten Romantik, die das Eigene im Grunde nicht (an-)erkennen will und deswegen das Andere verfemt; es offenbart sich das wahre deutsche Wesen, an dem niemand je genesen wird. Der Abgrund menschlicher Verfehlung.

Tatjana Gürbaca weist uns den Weg in diesen Abgrund. Mit der Pointe, dass er schon existiert seit Beginn der Oper und auch kein Ort zum Fürchten ist. Sondern, metaphorisch gesprochen, eine Schule, von Bühnenbildner Klaus Grünberg matt ausgeleuchtet. Vor einem Rundhorizont stehen die Fassaden giebelbedachter Schieferhäuser. Sie sind beschrieben wie Tafeln in einem Klassenzimmer. Aus den Zwischenräumen treten immer wieder Bewohner hervor – mal giftig, mal komisch, mal wie besessen. Ein Hauch Biedermeier weht über die Szene, aber eben auch die Ahnung des Schreckens. Es ist immer beides.

Auch jetzt, Ende des zweiten Akts, treiben sich skurrile Gestalten am Rande des Wasserlochs in der Bühnenmitte herum, das ebenso Meteoritenkrater sein könnte wie Fischteich. Es sind die Gestalten der Erinnerung. Krieger, Sadisten, Untote. Und Opfer: eine Frau im roten (!) Kleid, die von zwei Männern drangsaliert wird; eine Mutter mit ihrem Kind, die sich ständig an den Bauch fasst, als hätte ein Dämon sie geschwängert; eine Wasserleiche, die mehrmals aus dem Teich klettert. Mehr und mehr verwandelt sich die Choreografie in eine danse macabre: Mit jeder Kugel, die Kaspar aus Max (ein brunnenklarer Tenor: Maximilian Schmitt) herausoperiert, krampft die Menge ekstatischer, spastischer. So als sei der Satan leibhaftig in sie hineingefahren.  

Hans Mayer verdanken wir die Erkenntnis, dass allein ein integraler «Freischütz» möglich sei. Man habe, so der musikkundige Literaturwissenschaftler, «das Werk ernstzunehmen und alle Anweisungen auszuführen. Keine Zauberei und Gruselei darf ausgespart werden, denn sie gehören zur Welt der Liebenden und ihrer (himmlischen wie höllischen)  Gegenspieler. Erst wenn die Vision Webers und Kinds theatralisch verwirklicht wurde, entfaltet sich die bedrohliche Eigenart dieses Kunstwerks.» Tatjana Gürbaca macht sich diese Erkenntnis zu eigen, steigert, schärft sie, spinnt sie weiter ins Extrem. Und versucht im «Freischütz», der deutschen Nationaloper Nummer eins, den Verlauf deutscher Geschichte zu zeigen, vom Dreißigjährigen Krieg bis hin zu – Auschwitz.

Gürbaca folgt dabei in einem wesentlichen Punkt Mayers brillanter Analyse. Auch bei ihr ist der Gegensatz zwischen Mensch und Satan aufgehoben (weswegen ein kleines Mädchen im weißen Nachthemd den schwarzen Jäger vertritt); umso mehr tut sich eine säkularisierte Bürgerwelt auf, in der die eigentliche Teufelei dem Menschen vom Menschen angetan wird. Die Regisseurin verweist darauf in aller Drastik: Gleich zu Beginn ist Max Opfer einer Hetzjagd und wird symbolisch an ein Kreuz «genagelt», das jemand mit Kreide auf die Hauswand gemalt hat, während sich im derben D-Dur-Walzer statisches Stampfen in animalische männliche Begierde verwandelt und sich die Frauen reihenweise analer Vergewaltigungsversuche zu erwehren haben. Roheit regiert, gepaart ist sie mit Servilität vor den höheren Instanzen und – im Falle des Marodeurs Kaspar – mit einem Nihilismus, der auch vor Selbsttötung nicht zurückschreckt. Während der prägnant agierende Heiko Trinsinger sein «Triumph, die Rache gelingt!» in den Saal schmettert, hält er sich eine Pistole in den Rachen. Nur abdrücken mag er nicht.

Unerlöste Welt hier wie dort, im Leid vereint. Zwischen Agathe und Kaspar war mal etwas. Das deutet Kinds Text an, das löst die Regie ein: Wenn Jessica Muirhead mit hellglänzendem, in den Spitzen dünnlippigem Sopran ihre fromme E-Dur-Weise «Leise, leise» anstimmt, schleicht Kaspar heran, noch bevor Max die Szene betritt. Beide buhlen um die Gunst der jungen Frau, die Jungfrau womöglich gar nicht mehr ist – und vielleicht deswegen so ungelenk in allem, was sie unternimmt, so vorsichtig, verschämt. Nur eines weiß Agathe: Sie will fort von diesem Ort, der Koffer ist schon gepackt. Doch besitzt sie nicht die Freiheit, um wirklich gehen zu können. Ganz anders Ännchen: Sie kippt den Eierlikör hinunter wie nichts, verschüttet ihn auch absichtlich und rubbelt ihr Kleid an Kaspars daraufhin «beschmutzen» Schuhen sauber. Tamara Banjeŝević gestaltet ihre Rolle mit wollüstiger Wonne, in ihren beiden Ständchen mit einer sängerischen Leichtigkeit, die frappiert. Kompliment!

Toll auch, wie elaboriert und detailversessen Tomáŝ Netopil mit den Essener Philharmonikern die Partitur durchleuchtet. Denn nicht nur stellt sich der GMD ganz und gar in den Dienst der Solisten (unter denen in den kleineren Rollen Martijn Cornet als Ottokar herausragt), er webt von Beginn an einen kristallinen wie festen Faden durch das Stück, der nie ins Schwärmerisch-Überwältigende driftet, sondern in eigentlich jedem Takt Adornos Postulat erfüllt, wonach die Musik des «Freischütz» intermittiere, statt die Handlung auszufüllen. Diese Musik ist sich selbst Handlung genug – und Netopil so klug, sie als ein Kammerstück zu begreifen, dessen Ingredienz das Sublime ist, sowie der Wechsel zwischen Dur- und Mollsphäre. Nie je treten die Klangmassen über die Ufer, immer gibt es vorher ein Abbremsen, ein Innehalten in der noblen Nuance. Damit öffnet Netopil die Tür für die szenischen Ungeheuerlichkeiten, die – ein Glück für uns – all die Dialoge ernstnehmen, ohne die der «Freischütz» zum Torso verkäme, und die dem Obskuren ebenso Platz einräumen wie der Fatalität der Geschichte.

Besonders deutlich wird das im letzten Akt. Zu Beginn sitzt da der böhmische Fürst, von seinen Vasallen umringt, vor sich ein Spanferkel. Obszöne Totalität. Die aber sofort gebrochen wird: Das Volk erstarrt so sehr, als sei es einem Gemälde von Jan Brueghel d. Ä. (Kostüme: Silke Willrett) entliehen, das Licht wird diffus, ein Vorhang fällt herunter, der Marktflecken löst sich langsam auf. Der Eremit (Baurzhan Anderzhanov) erscheint im modernen Anzug, mit Kreuzen als Accessoires, und verkündet seine Milde, das Volk schart sich um ihn. Doch ein lieto fine wäre in diesem Kontext grundweg falsch. Deswegen zieht Gürbaca ihren letzten Trumpf. Während der Chor den Eremiten feiert und das Orchester scheinbar in C-Dur-Klängen badet, blendet sie für Sekunden jene Gleise an, die nach Birkenau führten. Das ist starker Tobak. Erzählt aber durchaus glaubwürdig von deutscher Misere. Die Hölle sind nicht die anderen. Die Hölle sind wir.

Jürgen Otten

www.theater-essen.de/spielplan/a-z/der-freischuetz/