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Verbietet Schwanensee!?

Was darf Ballett? Was nicht?

Von Sylvia Staude

In Großbritannien gibt es plötzlich eine kleine, wichtige Diskussion darüber, ob die Kunstform Ballett der Gleichberechtigung nicht schwer hinterherläuft. Anlass sind – neue! – Stücke des Royal Ballet, in denen Frauen verniedlicht werden oder ihnen Gewalt angetan wird. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war «The Wind» von Arthur Pita, in dem die zentrale Szene eine Vergewaltigung ist. Es folgte auf ein Stück von Kenneth McMillan, in dem die zentrale Szene eine Vergewaltigung ist.

Nun war es nicht allein Arthur Pitas Idee, ein solches Stück auf die Bühne zu stemmen. Die Vorlage seines im Rahmen der Triple Bill «Untouchable/The Illustrated ‹Farewell›/The Wind» uraufgeführten Balletts datiert aus dem Jahr 1925, es handelt sich um die gleichnamige Novelle einer Frau: Dorothy Scarborough schrieb die zunächst anonym veröffentlichte Geschichte einer gewissen Letty Mason, die in der öden Wüste von Texas sexuellen Terror durch einen Viehhändler erleidet, ihn tötet und darauf dem Wahnsinn verfällt. Heute würde man eine solche Story weit eher unter dem Kapitel weiblicher Emanzipation rubrizieren oder wenigstens als einschlägiges Plädoyer betrachten.

Doch die Zeiten sind andere. Zuvor traf bereits MacMillans «The Judas Tree» von 1992 der nicht ganz abwegige Vorwurf, eine Vergewaltigung darzustellen, sprich: sie zu verherrlichen oder zumindest die weibliche Perspektive zu ignorieren. Nun geht der Vorwurf an Arthur Pita, der den Charakter der Letty Mason auf die Opferrolle einer Vergewaltigung reduziert. Das ist, mit Verlaub, in der Tat das Schicksal fast aller weiblichen Figuren, die durch männliche Choreografen seit der Romantik konstruiert worden sind.

Ad hoc fällt mir dazu das schlimmste Frauenschicksal ein: die ungeheuerliche Verwandlung argloser junger Frauen in Wasservögel. Was haben sie diesem Mann – er heißt Rotbart, das sagt eigentlich schon alles – getan, dass sie in kaltem Wasser herumschwimmen müssen und Jahr um Jahr warten, bis ein Mann kommt und sie erlöst? Nein, noch möchte niemand den «Schwanensee» wegen Sexismus verbieten. Stattdessen sind schon etliche dicke Bücher über die Zurichtung der Frau im klassischen Ballett geschrieben worden. Und es entstanden, noch vor Dorothy Scarborough, Ausdruckstanz und Modern Dance als Bewegungen sich wehrender Frauen. Zuallererst flogen die Spitzenschuhe in den Müll. Dann kam die dekonstruierte Klassik eines William Forsythe, der in seinen frühen Werken den Spitzentanz wiederum rehabilitierte und revolutionierte. Seine kippenden Körper und virtuosen Bewegungswirbel forderten in hohem Maße athletische Tänzerinnen. Im Miniröckchen steckten sie nicht. Viele zeitgenössische Choreografen schreiben inzwischen ihren Tänzerinnen und Tänzern in Ensembleszenen sogar genau gleiche Bewegungsfolgen zu.

Trotzdem kann der Tanz dem Geschlechterunterschied nicht entkommen, etwa wenn es um  kraftraubende Hebefiguren geht. Da sind manche klassischen, den Schritt (trotz Höschen) gleichsam präsentierenden Posen und Positionen noch immer weitgehend den Frauen vorbehalten. Die Arabesque penchée zum Beispiel, bei der die Ballerina den Oberkörper nach vorne neigt, bei größtmöglicher Spreizung der Beine. Bei der Extension, dem Heben eines Beines bis möglichst unmittelbar neben den Kopf, erwähnt das Ballettlexikon sogar: «Eine gute Extension zu haben, ist im klassischen Ballett besonders für die Frauen wichtig.»

Allemal muss man sich tatsächlich fragen, warum das so ist. Immer noch. Ein Nachdenken über geschlechtsspezifische Bewegungsmuster wäre in diesen Zeiten besonders sinnvoll. Aktuell äußert sich dieser Ideenwandel darin, dass die britischen Kollegen und Kolleginnen gemeinsam der Genderpolitik des Royal Ballet, namentlich derjenigen seines Direktors Kevin O´Hare, ordentlich auf die Pelle rücken. Genüsslich zählen sie die Morde an Frauen in Stücken wie «Sweet Violets» (Liam Scarlett) oder Kenneth MacMillans wiederaufgenommenen Ballett «Mayerling» auf und stellen fest: All diese Werke stammen nicht von Frauen. Auch Arthur Pita hat sich die Vergewaltigungsszene nicht ersparen wollen. Aber es ist nicht nur seine Schuld. Vielmehr geht die Frage an alle Theater: Welche Stücke wollt ihr zeigen? Wirklich immer nur die, in denen die Frau das Opfer ist?

http://www.roh.org.uk/mixed-programmes/the-illustrated-farewell-the-wind-untouchable (»The Wind« in London)