Rezensionen Januar #3
Innsbruck, Karlsruhe, Mainz, Zürich
Innsbruck: Ponchielli «La Gioconda»
Wieder am 21., 27., 31. Januar, 7., 16. Februar
Wer solche Untertanen hat, kann den Staatsapparat klein halten: Privatspitzel allüberall, fast an jeder Kanalecke. Und fürs besonders perfide Denunziantentum hielt das alte Venedig «Löwenmäuler» bereit, kunstfertig gestaltete Briefkästen, in denen die Beschuldigungen hinterlegt werden konnten, am besten mit Absender. Ganz prosaisch sind diese bocche di leone in diesem Fall allerdings aufgereiht und -getürmt zur Schubladenwand, aus der sich gierige Hände strecken – was eben passiert, wenn sich Historisches der Aktualisierungskur unterziehen muss.
Leicht ließe sich bei «La Gioconda», Amilcare Ponchiellis venezianischem Gegenstück zu Puccinis «Tosca», die Checkliste des Totalitarismus abhaken. Und anfangs sieht es auf der Bühne des Tiroler Landestheaters auch so aus, als werde eine weitere Variation von DDR, China & Co. durchgespielt. Doch das Regie-Duo Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka, zudem verantwortlich für die Ausstattung, bleibt nicht beim Nachbuchstabieren ostalgischer Interieurs. Während der großen Tutti-Momente im holzfurnierten Gerichtssaal, über den Inquisitionschef Alvise als sexgeiler Richter herrscht, entfremden sich Straßensängerin Gioconda und Revoluzzer Enzo an der Rampe zunehmend voneinander. Mustertapete und Nierentischmobiliar gemahnen an die Fünfziger, die Rollenverteilungen – hier der Macho, dort seine Geliebte, die über den Status als Haushaltshilfe nicht hinauskommt – ohnehin.
Immer mehr werden diese Ebenen überblendet, und nicht nur das: Manches ist Parallelhandlung, anderes Ahnung und Alptraum, wieder anderes surreale Vision. Bis hin zum großen Fest, wenn alle einander mit Masken begegnen oder sich zum «Tanz der Stunden» wie Marionetten gerieren. Einiges erfährt man in Innsbruck über die Auswüchse eines solchen Systems, über das Ausgeliefertsein der Einzelnen, das kleine Glück, das sie sich erträumen – oder das ihnen nur vorgegaukelt wird. Im Ineinandergreifen dieser Bedeutungsstränge hat die Inszenierung ihre besten Momente. Überhaupt bekommen die Regisseurinnen das Kräftevieleck, das, dramaturgisch sehr heikel, über die Dreierbeziehung hinausgeht, gut in den Griff. Allein, nicht alles gelingt schlüssig. Die Rolle von Giocondas blinder Mutter La Cieca, hier offenbar ein Folteropfer, bleibt trotz einer eindrücklichen Sängerdarstellerin wie Anna-Maria Dur etwas in der Luft hängen.
Überhaupt hat Innsbruck für Ponchiellis knifflige Partien, die veristischen Kraftaufwand mit großer Flexibiliät verbinden, adäquate Besetzungen parat. Jennifer Feinstein (Laura) etwa oder Viktor Antipenko (Enzo), der mit seinem robusten Tenormaterial auch vorsichtig umgehen kann. Marian Pop (als Spitzel Barnaba) trotzt seinem Bariton Effektvolles ab, Elena Mikhailenko schlägt sich wacker in wenig schmeichelhafter Kostümierung und dringt auch vokal mutig in Grenzbereiche vor. Dirigent Francesco Rosa weiß mit dem Tiroler Symphonieorchester um die gefährliche Kraft dieser Musik. Dankbare Muskelspiele gibt es also nur dort, wo diese fürs singende Personal unfallfrei möglich sind.
Markus Thiel
Karlsruhe: Straus «Die lustigen Nibelungen»
Wieder am 25. Januar, 2. Februar im Staatstheater
Seinem Kompositionslehrer Max Bruch war er Grund genug, mit ihm zu brechen. Doch aus der Retrospektive muss man sagen: Der Weg, den Oscar Straus mit seiner ersten Operette «Die lustigen Nibelungen» einschlug, hat der Gattung besser getan als seine Wendung zum Sentiment in seinem Meisterwerk «Ein Walzertraum». Satire, zumal wider die Obrigkeit, hatte es nicht leicht in den beiden deutschsprachigen Monarchien um die Jahrhundertwende, insbesondere wenn sie die germanische Vergangenheit und deren vermeintliche Apotheose durch Richard Wagner aufspießte. Aber ist das heute so anders? Johannes Pölzgutter äußert in seiner Inszenierung am Badischen Staatstheater Karlsruhe Zweifel und konfrontiert den Hurra-Patriotismus der Kaiserzeit mit dem Nationalismus der Gegenwart. Statt keuleschwingende alte Germanen tragen nun Reichsbürger und Konsorten Transparente mit Aufschriften wie «Grenzen dicht» oder «Freiheit braucht Grenzen» vor sich her.
Pölzgutters Interpretation der «burlesken Operette» von 1904 ist gleichwohl kein modernes Problemtheater. Im Gegenteil, der unterhaltende Aspekt hat Vorrang auf der Bühne, die Nikolaus Webern, zum Beispiel mit einem gotischen Gewölbe und einem Badezimmer aus dem Fin de Siècle, als Gratwanderung zwischen Parodie und Verfremdung gestaltet. Nimmt man die Kostüme Janina Ammons hinzu, die ihre bunten Ideen genussvoll aus Comic und Satire schöpft, wirkt das Ganze mitunter tatsächlich wie anarchischer Klamauk nach Monty-Python-Art. Der Regisseur gibt dem Affen Zucker. Oder einem mit platter Comedy aufgewachsenem Publikum bloß das, was das komische Genre heute etwa im Fernsehen anbietet? Die spitzen Seitenstiche Straus’ und seines Librettisten Rideamus auf die Gegenwart von damals wirken subkutan; und, wie gesagt, die Gegenwart unserer Tage scheint auch immer wieder auf. Der Einfall, Siegfried als einen vom Virus des Kapitalismus infizierten, befrackten Emporkömmling aus Kaisers Zeiten zu charakterisieren, als Parvenu vom Schlage eines Diederich Heßling in Heinrich Manns «Untertan», setzt einen überzeugenden Kontrapunkt.
Natürlich wabern in Karlsruhe auch Wagner und einige seiner «Ring»-Themen durch die Produktion, nicht zuletzt als Hommage an die aktuelle Produktion der Tetralogie. Und als Kontrast zur erfrischenden Melodik des noch jungen Straus. Dessen Musik lustwandelt von der Wiener Volkskomödie im Nestroy’schen Sinn zu Offenbach und (ein bisschen) Wagner, vor allem aber tummelt sie sich in den Gefilden der Operette um 1900 mit ihren schmissigen Märschen und galanten Walzermelodien.
Der junge Schweizer Dirigent Dominic Limburg hat dafür ein glückliches Händchen: Er lässt die Badische Staatskapelle animiert, klanglich delikat durch die Partitur rubatieren. Dass das Badische Staatstheater über ein exzellentes, kompetentes Solistenensemble für die «kleine Oper» verfügt, zeigt sich auch an diesem Abend: Ob Ina Schlingensiepen (Kriemhild), Volker Hanisch (Gunther) oder Klaus Schneider (Siegfried) – man spielt und singt mit größter Lust am Überzeichnen, ohne ins Chargieren abzudriften. Und wenn das gesamte Ensemble beim rauschenden Doppelhochzeitsfest im fetzigen 6/8-Takt zu «Das ist der Furor teutonicus» über die Bühne stürmt, mischt sich auch ein Schuss Unbehagen in die Lustbarkeit: Wie heißt es doch in einem anderen Stück dieser Offenbachiade? «So taten’s unsre Ahnen, und wir tun’s auch.» Hojotoweh...
Alexander Dick
Mainz / Ingelheim: Sharon Eyal «Soul Chain»
Wieder am 6., 26., 28. Januar im Staatstheater Mainz; am 31. Januar in der Kultur- und Kongresshalle Ingelheim
Heiß geschmiedet, eisig abgekühlt. So wirken ihre Stücke. Metallisch streng, doch mit Molekül-Lücken versetzt, mit falschen Verbindungen, die dampfen, seufzen, glitzern. In die Linie passt auch das Werk, das die israelische Choreografin Sharon Eyal mit ihrem Arbeitspartner Gai Behar für das 17-köpfige Ensemble tanzmainz am Staatstheater Mainz geschaffen hat. «Soul Chain» meint: eine Kette aus Seelen und zugleich die Kette um die Seelen. Es sind extrem künstliche Formationen, darin vereinzelte Deformationen, welche die Formzwänge umso sicht- oder fühlbarer machen. Immerzu auf halber Spitze machen die Tänzer ihre Schrittchen, die Hände an den Körper gelegt, in Gürtelschnallenhöhe, auf den Bauch, aufs Kreuz. Dennoch wirken sie menschlicher als in früheren Stücken, kaum geschminkt, in fleischfarbenen Bodys.
Sharon Eyal gelingt das unheimliche Porträt einer Gesellschaft, in der die Elemente, Glieder, Mitglieder aneinanderhängen und doch furchtbar wenig miteinander zu tun haben, im Sinne von: Zuneigung, Berührung. Zu Beginn spazieren Leute paarweise über die Bühne, im Gleichschritt, stramm und geschäftig. Der leise Blick zum Marschpartner bleibt unbeantwortet. Da ist was? Nein, da ist nichts. Dieses «Nein» wird am Ende noch einmal erkennbar, vergrößert in ein frontal ausgerichtetes kollektives Kopfschütteln. War was? Nix passiert.
Und doch: Revolution mit erhobenen Fäusten, rauf, runter, rauf. Aussonderung des einen dunkelhäutigen Gruppenmitgliedes, das seine Rolle mit Augenrollen und unruhig verzogenem Posieren ausfüllt. Übergriff eines Mannes, der sich am Rand eines Getümmels hinter eine Frau schiebt und ihr plötzlich um die Taille greift wie eine Zange. Ruck! Sie erstarrt, dann tobt sie kurz mit Armen und Beinen, wie außer sich. Oder ganz sie selbst. Vorbei. Nix war.
Ein anderer Tänzer, der sich aussondert oder von der Gruppe ausgeschwitzt wird, brüstet sich mit hervorgestülpten Rippen. Vielleicht der Tod. Von hinten dann dirigiert er mit schiebenden Armen diktatorenhaft zwei Truppenhälften: nach rechts, nach links. Vielleicht eine Erinnerung an Kurt Jooss. Auch Pina Bauschs «Sacre»- winkt von fern, als sich ein Kreis bildet wie eine gefräßige Meute und eine Frau heraustritt, die gekreuzten Arme unter den Hals gepresst. Niemand rettet hier niemanden. Immer mehr klumpt Sharon Eyal die Figuren aneinander. Zwischendurch gönnen sie und der Technokomponist Ori Lichtik ihnen Pseudofreizeit mit Tango und Zwischenschritten, clubmäßiges Tänzeln mit weichen Ellbogen. Doch dann öffnen die Wesen die Arme und raffen Unsichtbares.
Die Seelen aber, denkt man, sind die zwei Frauen, die zwar mitgehen, im Takt, im Trupp, doch nie komplett angepasst: die Sehnsüchtige, Körperbelebte, Amber Pansters, die sich wollüstig biegt. Sie wächst Maasa Sakano ständig über den Kopf und scheint zu winken. Ja!
Melanie Suchy
http://www.staatstheater-mainz.com/web/veranstaltungen/tanzmainz-17-18/soulchain
Zürich: Christoph Marthaler «Mir nämeds uf öis»
Wieder am 19. und 31. Januar, 02., 15., 18., 21. und 27. Februar im Schauspielhaus
Figuren aus dem Marthaler-Kosmos geht das Heldische ja in aller Regel ab. Wiewohl die Crew, die der Regisseur und sein Dramaturg Malte Ubenauf am Schauspielhaus Zürich, also an Christoph Marthalers alter (und einziger) Intendantenwirkungsstätte versammeln, ein hübsches Himmelfahrtskommando hermacht. Duri Bischoff hat auf der Pfauenbühne ein intergalaktisches Konferenzraumschiff vertäfelt. Bordkarten für die Brücke erhalten ausschließlich die Stützen der Global Economy, die sich im vorliegenden Fall aus frischen Schauspielhaussöldnern und gestandenen Marthaler-Kämpen rekrutieren. Wer je eine Schweizer Privatbank von innen gesehen hat, vor allem den öffentlich zugänglichen, möglichst nichtssagenden Bereich, ahnt, woran sich das Bühnenbild orientiert.
Bevor das Ensemble eincheckt, defiliert es einzeln an der Rampe entlang und an Flight Attendant Bernhard Landau vorbei. Der verströmt die Nonchalance eines stummen Dieners und überlässt das Conferencier-Feld seinem «auto-intelligenten Servicemodul», das jenen kabinenflurschlanken Kästen gleicht, aus denen früher Stewardessen die Businesskundschaft mit Brandy versorgten. Der blechernen Lächerlichkeit von KI-Kiste und Situation zum Trotz mischt sich standesgemäße Dramatik in Stefan Kurts Off-Stimme, als nun die erste Marthaler-Mission am Schauspielhaus Zürich seit dessen abruptem Abgang im Jahr 2004 aufbricht. Vorgeführt werden samt und sonders Führungskader, bei denen der Blindflug durch Schwarze Löcher zum Karriererisiko gehört und denen das Titelmotto des Abends so flüssig wie unschuldig über die Lippen kommt: «Mir nämeds uf öis», was in Zürcher Mundart so viel bedeutet wie: Wir nehmen es auf uns, ganz gleich, worum es sich handelt, und wenn es sich schon nicht vermeiden lässt – alles, was keinen Profit abwirft, kann schließlich jederzeit unsererseits abgeworfen werden, am vorteilhaftesten in besagten Schwarzen Löchern.
Auf der Passagierliste finden sich alsdann: eine unglückliche Alleinerbin paradiesischer Briefkastenfirmen (Nikola Weisse). Ein knurriger Baulöwe aus dem Salzburgerland (Gottfried Breitfuss), in den USA zur Fahndung ausgeschrieben. Ein aasig diskreter Ex-Medienprofi des zur Kenntlichkeit verdrehten Weltfußballverbands FAFI (Nicolas Rosat), der die Hektik von Turniermedienzentren gegen die Abgeschiedenheit einer gewiss reichlich bescheidenen Waldhütte eingetauscht hat. Ein Experte für Shitstorms (Raphael Clamer), der mit seinem Schnellsprechtalent mühelos zum Dieter Thomas Heck neudeutscher Verbenhitparaden avancieren könnte («bleachen, boomen, bouncen, buzzern ...»). Ferner ein mittelständischer Frischfleischunternehmer und Umetikettierungsfabrikant (Jean-Pierre Cornu), ein ehemaliger Whistleblower mit Zweitausbildung als Damencoiffeur (Ueli Jäggi), sowie eine alte Dame, die dank Chirurgenkosmetik noch sehr jung ist (Elisa Plüss), was ihrer Erzkapitalistenweisheit keinen Abbruch tut: «Nehmen ist wie geben, nur ohne geben.»
Nicht dass diese illustre Runde aus der Hochfinanz mehr Charaktertiefe entwickelte als unbedingt nötig. Man muss diesen Typen nur abnehmen, dass sie im Prinzip in jeder Bad Bank, jedem Failed State und auf jedem Fliegenden Holländer anheuern würden und dass sie somit jederzeit ins «Hoje, hallo ho» einstimmen können, das den Start der Theater-Enterprise begleitet. Seite an Seite mit dem Chor heben auch Bendix Dethleffsen und Stefan Wirth in Christoph Marthalers Liederkosmos ab. Die beiden vortrefflichen Pianisten lassen sich von der (dank Hebebühnen) simulierten Schwerelosigkeit ihrer Instrumente ebenso wenig beirren wie von der Ankunft eines «musikalischen Hologramms», das so betörend singen kann wie Tora Augestad und, Gunst der galaktischen Stunde, gleich mal das «Lied an den Abendstern» loswird, komponiert vom «berühmten Schweizer Komponisten Richard Wagner».
Wagner, ein Eidgenosse? Wer die gutschweizerische Gepflogenheit der unbürokratischen Einbürgerung von Kunst, Sport und ähnlichen systemrelevanten Kostbarkeiten kennt und diese Sonderform der Bewillkommnung des Fremden auch von «Das Boot ist voll»-Diskursen zu unterscheiden weiß, wird am Feinschliff der Marthaler'schen Inside-Paradeplatz-Bosheiten generell sein Vergnügen finden. Wem der Sechseläutenmarsch allerdings so unbekannt ist wie der dazugehörige Tanz um den brennenden Böögg, dürfte ohne Googles Hilfe kaum verstehen, was das Zürcher Publikum an Jean-Pierre Cornu so lustig findet, wenn dem der Rauch aus dem Hemd quillt und ein Feuerwerksrohrkrepierer den Hut lupft. In diesem Fall halte man sich an Nikola Weisse, die über Elton John herrlich altersmelancholisch wird. Oder an Ueli Jäggi, der eine Refrainplatitüde von Udo Jürgens schmettert, als ginge es um den letzten Schmelz der Welt oder darum, sein Innerstes final nach außen zu stülpen.
Christoph Marthalers verlogen-verlorene Helden halten der besseren Zürcher Gesellschaft den auf Hochglanz polierten Narrenspiegel vor – jener Gesellschaft, die seinen Intendantenfall vor nunmehr knapp 14 Jahren zumindest nicht verhinderte und sein Comeback heute mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich hochdotiert begleitet. Einerseits. Andererseits folgt «Mir nämeds uf öis» dermaßen locker dem Strickmuster eines musikalischen Marthaler-Abends, dass von satirischem Nachtreten nun wirklich keine Rede sein kann. Im Gegenteil, die milde spöttische Heiterkeit, welche die Szenerie grundiert, verrät dringendes Interesse an einer Aussöhnung. So gesehen wird hier nicht nur ein Kapitel geschlossen, sondern womöglich ein neues eröffnet. Marthaler inszeniert wieder in Zürich. Und sein Publikum strömt. Es hat lange auf diesen Moment gewartet.
Stephan Reuter