Rezensionen
Bochum, Düsseldorf, Hannover, Nürnberg, Wiesbaden
Bochum: Stephen Karam «The Humans – Eine amerikanische Familie»
Wieder am 7., 10., 20. Januar, 11., 24. Februar im Schauspielhaus
Leben macht Lärm. Vogelgezwitscher, Straßengeräusche, Sirenen stimmen ein auf eine üppig instrumentierte Partitur dramatischer Stimmen und Stimmungen. «The Humans» – das Stück von Stephan Karam, das am Broadway Rekorde bricht und zum «best play 2016» ausgerufen wurde – geht es groß an. Eine Gattungsgeschichte? Nein, einfach eine Thanksgiving-Party in Chinatown/New York City. Eben erst sind Brigid Blake und ihr Richard in die Erdgeschoss-Wohnung mit Souterrain und krachlauten Mietern oben drüber eingezogen, da kommen die Eltern mit Großmutter Momo im Rollstuhl aus Scranton/Pennsylvania (Herkunftsadresse auch des Autors) und Schwester Aimee aus Philadelphia zu Besuch. Mutter Deirdre hält den Laden und die irisch-stämmige Familie zusammen, hat ein Helfersyndrom und bringt zur Einweihung in gut katholischer Tradition eine Marien-Statue mit. Möge der Himmel helfen, aus dem Paar auch eines mit Trauschein zu machen.
Gott, Geld und Glück – Amerikas ideologische Heilsbringer – werden von den Anwesenden bei Truthahn, Trinken und harmonievollen Toasts beschworen und besungen mit dem keltischen Song «The Parting Glass». Serviert werden die üblichen Tischgesprächs-Themen: Krankheit, Karriere, soziale Absicherung, gesunde Ernährung. Bei all dem haben die Blakes eine Menge zu bieten. Auf der Liste ihrer Gebrechen stehen Arthritis, Herz, Rücken, Darm, Demenz und Depression. Die Befundsache Leben ist damit nicht hinreichend abgeschlossen.
Aimee verliert ihre Stellung als Anwältin, da chronisch krank, und wurde von ihrer Lebensgefährtin verlassen. Brigid hat ihr Musik- und Kompositions-Studium erfolglos abgeschlossen und jobt. Dad Erik erhielt nach 28 Jahren, ohne Rentenanspruch, die Kündigung, weil er sich auf eine Affäre am Arbeitsplatz eingelassen hatte, und ist seither von Albträumen geplagt. Angst ist der siebte Gast – Angst vor Verlust der Sicherheit ist das überwölbende Gefühl, das in den Dialogen mal überdeckt, mal freigelegt, mal überspielt, mal untergejubelt wird.
Das Arsenal der Zerstörungskräfte, das den Blakes innerlich wie durch äußere Einwirkung aufgebürdet ist, würde vollends ausreichen. Da brauchte es nicht die Drohkulisse von Nine Eleven und das kollektive Trauma, das sich in individueller Fügung auch an Vater und Tochter Aimee gebunden hat, die am Tag des Anschlags am Unglücksort Ground Zero waren. Im Schauspielhaus Bochum, das sich die von Michael Raab übersetzte Europäische Erstaufführung sicherte, endet das Stück dann auch mit Rauchsignalen, die den Einsturz der Twin Towers symbolisieren, als bedürfe das Konzept Familie eines solchen Großangriffs, um zu kollabieren. Das panische, disparate Desaster der Sechs und Eriks repetitives «alles okay» sagen genug.
Die Blakes, modernere Variante unserer alt-bundesrepublikanischen «Die Unverbesserlichen», halten sich trotz aller Heimsuchung aufrecht und klammern sich an zwei Gewissheiten: «Auch das geht vorüber» und «Alles, was zählt, ist die Familie». Das süffige, den Setzbaukasten der Krisensymptome kaum mehr als geschickt verwaltende Stück hat Humor, der sich nicht bloß damit begnügt, zuzuschlagen, wenn ein Kakerlak durchs Apartment hüpft. Das Bochumer Ensemble spielt in einer nicht weiter auffälligen, fehlerfreien Regie (Leonard Beck) und in einem den Bedürfnissen angepassten Bühnenbild mit Hub- und Schub-Kräften für die zwei Etagen (Otto Kukla / Sophie Charlotte Fetten) sauber, fein und fix – da kann man nicht meckern. Einer so ordentlich wie die andere: Bernd Rademacher als Erik, bieder gefasst und im Sturz aufrecht, Johanna Eiworth als resolutes Muttertier, Nina Wurman als greis geschminkte Hippie-Prophetin, die litaneihaft ihr «Where do we go? murmelt.
Die Erosion des Fundaments Familie zu untersuchen und die Austreibung der Dämonen zu forcieren, hat Karam von den Klassikern O’Neill, Albee, Arthur Miller und Tennessee Williams gelernt. Sein Schauplatz liegt jedoch nicht nur ziemlich weit weg Tracy Letts «Osage County», sondern noch entfernter von den mythischen Drama-Orten zwischen Willy Lomans New York, Salem/Massachusetts und New Orleans.
Andreas Wilink
http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/the-humans/3955/
Düsseldorf: Brecht/Weill «Dreigroschenoper»
Wieder am 5., 15., 17. Januar, 4., 9., 24. Februar im Schauspielhaus
Wenn einige Verbrecher Bürger sind, sind alle Bürger Verbrecher: Brechts szenischer Syllogismus war schon immer logischer oder metonymischer Unsinn. Der Bürger nimmt’s nur als Bestätigung der Attraktivität der bürgerlichen Lebensform. Sogar die Verbrecher ahmen uns nach. Und auch wenn die Gleichung Bürger gleich Verbrecher aufginge: Der Panzer des Zynismus ist viel zu dick. Jede Inszenierung von Brecht/Weills «Dreigroschenoper» müsse ein politisches Statement sein, meinte Kriegenburg vor der Premiere in einem Gespräch mit Düsseldorfs Intendant Wilfried Schultz. Seine Inszenierung wollte offensichtlich genau das widerlegen. Keine Spur von politischem Statement. Viel schöne Musik und viele kleine Scherze.
Kriegenburgs Bühne ist kahl, begrenzt von halbtransparenten weißen Flächen. Aber in der Mitte eingelassen ist ein halb versenkter Käfig. Dort spielt die Musik, im Zentrum. Skurrile, komödiantische Gestalten, Clowns, weiß gekalkte Zombies kriechen dann vom Rand auf die Bühne. Ein Ansager kündigt die Geschichte erst Mal auf Japanisch an. Eine ganz fremde Sache soll das werden und ist doch altbekannt. Die raffiniert ausstaffierte historisierende Verlumptheit der Figuren (Kostüme: Andrea Schraad), das schnarrende Hitlergehabe Peachums (Rainer Philippi) bringen das Geschehen in eine angenehm unverbindliche Distanz.
Schauspielerisch werden alle Register bewährter Komik gezogen: parodistische Akzentvariationen (Macheath bei seiner Hochzeit mit Polly), Schnell-Lallübungen (Filchs Beschwerde über den Stumpf), Zeitlupenkämpfe (Streit unter Macheaths Banditen), Tanzpantomime (Festnahme Macheaths), Prostituierte als Puppen (Mackie bei den Huren von Turnbridge).
Musikalisch werden alle Variationen ausgekostet: Songs a cappella, parodistische Rezitative, stimmgewaltige Arien. Die musikalische Begleitung geht über die Songs hinaus. Macheaths Abschied von Polly z.B. ist fast durchkomponiert mit kontinuierlicher Musikbegleitung (musikalische Leitung am Klavier: Franz Leander Klee). Und bei den Songs zeigen die Damen des Düsseldorfer Ensembles Außergewöhnliches: Cennet Rüya Voß in der Mackie-Messer-Moritat ist schon stimmlich enorm und peppt ihren Song durch intensiven Körpereinsatz noch auf, aber Lou Strengers «Seeräuberjenny» (in der Rolle der Polly Peacham) ist der Höhepunkt: opernreif, mit strahlendem Vibrato.
Nur die Brüche zur trockenen Prosa, die Weill einkomponiert hat, könnten schärfer sein. Und so geht es weiter: eine sanfte Lucy (Tabea Bettin), eine freche Spelunkenjenny mit Metall in der Stimme (Sonja Beißwenger), eine routinierte Frau Peachum (Claudia Hübbecker). Alle stimmlich exzellent. Weg mit allem Theoriegehobel, weg mit aller politischen Didaktik. Weg mit aller geheuchelten Kritik an irgendwas und irgendwem. Was bleibt dann von Brechts Opernparodie? Die Oper und die Musik.
Gerhard Preußer
Hannover: Strauss «Salome»
Wieder am 7. Januar, 3. Februar im Opernhaus
Weniger ist für ihn mehr. Das hat Regisseur Ingo Kerkhof in Hannover mehrfach bewiesen. Zusammen mit seiner Bühnenbildnerin Anne Neuser holte er hier «Eugen Onegin» aus dem Russlandbilderbuch, stellte den «Figaro» in einen Theaterprobenraum und spiegelte bei «Ariadne auf Naxos» diese Spiel-im-Spielweise nochmals.
Dass es jetzt für «Salome» weder Palast noch Zisterne gab, überrascht demnach kaum. Nur das wesentliche Requisit fehlt nicht: der Kopf des Jochanaan. Zum Schluss erfolgt zwar der Schuldspruch; dessen Vollstreckung aber dürfte unwahrscheinlich sein: Salome, von Annemarie Kremer mit großer Präsenz verkörpert, entschwindet durch eben jenen weißen Perlenvorhang, durch den sie zu Beginn den Schauplatz betreten hatte.
Wenn zu Beginn der verliebte Narraboth (eindringlich: Simon Bode) und der besorgte Page (konturiert: Hanna Larissa Naujoks) ihren Dialog vom 1. Rang aus führen, erinnert das zwar an Benedikt von Peters Distanzierungsgestus, unterstreicht aber mehr den voyeuristischen Blick, den beide (und wir alle) auf Salome haben. Sie steht denn auch ganz und gar im Mittelpunkt: Alles dreht sich um sie. Das weiß sie, das will sie. Alle(s) könnte sie haben, nur einen eben nicht. Brian Davis zeichnet Joachanaan mit tonstarkem Sendungsbewusstsein. Seiner Sache ist er sicher, seiner selbst nicht. Diese Angst vor der unberechenbaren Sinnlichkeit wird von der Regie herausgearbeitet, von Davis sehr stimmig dargestellt.
So karg sich diese Inszenierung in der Bildersprache gibt, so konzentriert ist sie in der Personenführung. Im Zweifelsfall ist Interaktion wichtiger als Aktion. Was Wirkung zeitigt: Selten wurde das Spannungsverhältnis zwischen Salome und ihrem Stiefvater derart schillernd ausgeleuchtet. Da zahlt es sich aus, dass Herodias und Herodes nicht aus dem Austragshäusl des Ensembles besetzt werden, sondern sehr zielgerichtet. Khatuna Mikaberidze ist eine erfahrene Manipulateurin der Macht, Robert Künzli ein viriler Herodes, der mit tenoraler Potenz unterstreicht, dass er noch nicht der notgeile Alte ist, auch wenn er sich zum Narren machen lässt. Und das ausgerechnet beim Schleiertanz, der in diesem Rahmen natürlich keine verführerische One-Woman-Show mit sieben Schleiern ist. Stattdessen stachelt Salome die Hofgesellschaft zu einem bacchantischen Treiben an, das an eine durchgedrehte Betriebsfeier erinnert. Das ist komisch, aber nicht albern. Was entscheidend daran liegt, dass Annemarie Kremer die Szene körpersprachlich so präzise zeichnet, wie sie anschließend ihre hochneurotische Beziehung zum unerreichbaren Propheten artikuliert: zwischen Begehren und Verzehren. Die Niederländerin verfügt über einen intensiven, aber nie schneidenden Sopran, der auch über die Klangmassen der Strauss-Partie trägt.
Unterstützt wird sie dabei von Ivan Repušić, der das Niedersächsische Staatsorchester mit kluger Übersicht steuert. Er kennt den Effekt, er muss ihn nicht heischen. Bei Farbdifferenzierung lässt der GMD des Hauses anklingen, wie bewusst und zielsicher Strauss hier seine Mittel einsetzt. Insgesamt ein starker Abend.
Rainer Wagner
Nürnberg: Montero «Dürers Dog»
Wieder am 13., 15., 20., 28., 31. Januar im Opernhaus
Dürers Hase getanzt? Da müssten die Tänzer, zwar aufmerksamen Blicks, ununterbrochen in Entspannungshaltung auf der Bühne kauern. Das geht gar nicht. Und wie steht es mit «Dürer’s Dog»? So nennt Goyo Montero sein jüngstes Stück. Seit zehn Jahren ist er Ballettchef in Nürnberg – klein, agil, kahler Schädel, lebhafte schwarzen Augen und eine beachtliche Tänzer-Karriere im schmalen Kreuz.
Würde man den Hund in seinem Stück finden? Würde man überhaupt darauf kommen, dass sich sein bewusst abstrakt gehaltenes Tanzstück mit Dürer befasst, stünde Nürnbergs berühmtester Maler nicht im Titel? Nun, das sei die Frage, lächelt Montero. Darauf sei er selbst gespannt. Manchmal könne man Dürer in einem Tänzer erkennen, manchmal in einer Tänzerin, manchmal in mehreren zusammen, orakelt er kryptisch. Und liefert auch einen pragmatischen Grund: «Alle meine Tänzer sind Solisten», sagt er, der, wie das an kleinen Kompanien mit um die 20 Mitgliedern nur fair ist, in jeder neuen Produktion das gesamte Ensemble beschäftigt. Hier werden die Darsteller vielfach umweht von bauschigen Vorhängen aus luftiger Fallschirmseide, oder sie agieren vor einem wie ein Lift auf und ab fahrenden, zu diversen Projektionsflächen aufklappbaren Gaze-Kubus. Es ist der geometrische Raum im Raum, der den Mann, der vielleicht Dürer sein soll, wie ein dreidimensionaler Bildrahmen fasst. Monteros und Eva Adlers Bühne gibt den Tänzern viel Luft und befördert die eigenen, frei fliegenden Gedanken, die Frieder Weiss‘ wabernde Projektionen noch beflügeln. Letztere taugen als optischer Verweis auf kunsthistorische Röntgenuntersuchungen berühmter Gemälde.
Dürer und Nürnberg, das ist so wie München und Orlando di Lasso; oder Spanien und Francisco de Goya. Bereits 2010 hatte Montero sein Stück «El Sueño de la Rázon – Der Traum der Vernunft» diesem Maler gewidmet, der ihm als gebürtiger Spanier zunächst näherlag als Dürer. Aber seit 2012, seit der großen Dürer-Ausstellung in Nürnberg, hat er über Dürer nachgedacht und darüber, was von seiner Kunst in Tanz zu übersetzen möglich sei. So also ist Goyo Montero auf den Hund gekommen. Oder auf des Pudels Kern.
Man macht sich in Erwartung von «Dürer’s Dog» folglich auf die Suche nach Hunden in Dürers Werk, wird erst einmal fündig auf dem berühmten Kupferstich «Melencolia I». Aber den schlafenden Jagdhund zu Füßen eines Putto als ruhendes Element der irritierenden Allegorie meint der Choreograf nicht. Es ist ein kleines vorwitziges Hündchen, so unfrisiert wie ein Malteser, das sich vom grausigen bildfüllenden Lynch- und Marter-Geschehen dieses Holzschnittes ab- und dem Betrachter zuwendet, das es Montero angetan hat. Der Schoßhund am vorderen Bildrand, an der Rampe sozusagen, war der Auslöser für das Tanzstück.
Über die Rolle dieses Hündchens, das, lebhaft um Aufmerksamkeit heischend, im Vordergrund der «Geißelung» aus der Serie «Die große Passion» den Zuschauer fixiert, ist viel gerätselt worden. Manche sehen in ihm die Camouflage des Künstlers selbst, der den Betrachter als Voyeur entlarvt, welcher nun wiederum bei einem Bild wie diesem kaum die Chance hätte, in das Geschehen einzugreifen.
Montero greift diese Szene auf, gestaltet sie zum wohl stärksten Bild im letzten Drittel seines nur 85-minütigen und dennoch in seiner gewichtigen Vielfalt abendfüllenden Stücks. Ein Tänzer, Oscar Alonso, eine der denkbaren Dürer-Verkörperungen, streift sein dunkelgraues Trikot ab zugunsten eines weißen, mit schwarzen Linien markierten. Die Häutung macht deutlich, wie genau Dürer einst Körper segmentierte, um sie naturgetreu und doch in fantastischer ästhetischer Überhöhung ätzen, zeichnen oder malen zu können. Eine Frau, Rachelle Scott, bis dato madonnenhaft in ein blaues Tuch verhüllt, wirft dieses ab und steht nun da in einem ebenfalls schwarzweiß gemusterten Ganzkörperstrumpf, Schulter an Schulter mit Alonso, nur seitenverkehrt. So dass sie beide, janusköpfig voneinander abgewandt, aussehen wie die zwei gegenläufigen, mobilen Hälften eines einzigen Körpers – Yin und Yang. Und dabei signalisieren ihre Körper wie auch ihre Trikots, worauf Goyo Montero, Albrecht Dürer folgend, sich in seinem Tanzstück konzentriert: auf die Schönheit des Körpers, wie sie der bildende Künstler durch Raster zu erforschen suchte, um sie dann akribisch nachzubilden. Alonso und Scott umkreisen einander auf leerer Bühne wie zwei ferne Planeten. Auf der linken Bühnenhälfte steht das Corps de ballet im Halbprofil mit dem Rücken zum Publikum. Es ist auf dem Quivive, um mit dem Einsatz der Geige beim stürmischen «Winter» von Antonio Vivaldis «Vier Jahreszeiten» loszuwirbeln wie ein vielgestaltiger furioser Spiralnebel in diffusem Licht. Genauso abrupt, wie die Gruppe losstürmt, erstarrt sie in loser Reihe an der Rampe und starrt ins Publikum. Sie schaut dabei nicht ganz so frech wie das Hündchen in der «Geißelung», aber doch provozierend genug, sodass man sich für den Bruchteil einer Sekunde in der Rolle des passiv konsumierenden Zuschauers unwohl fühlt. Dürers Hund, so viel ist nun endgültig klar, schwebt in «Dürer’s Dog» nur als Idee über allem. Und was nun die Bildmotivik angeht, so sieht man an einer Stelle, in den Spektralfarben Blau, Rot und Grün längs gerastert, eine Tänzer-Reihe mit einem wild springenden Narren vorn dran und weiß, dass es sich dabei nur um ein bewegtes Replikat von Dürers breitgefiedertem «Blaurackenflügel» handeln kann. Goyo Montero also setzt starken Bildern starke, verfremdete Bilder entgegen, auch akustisch nochmals verstärkt von einer klangmächtigen, von der Staatsphilharmonie Nürnberg unter Guido Johannes Rumstadt dynamisch musizierten Musikmischung: raumfüllend Elektronisches von Owen Belton, Max Richters dramatisch verstärkte Bearbeitung von Vivaldis «Vier Jahreszeiten», Pendereckis «Passacaglia» aus der dritten Symphonie.
«Dürer‘s Dog» aber endet mit «Dylan’s Dog». Patti Smith besingt darin ein Fabelwesen wie den «Blaurackenflügel» − so geheimnisvoll und vielfältig deutbar wie Dürer selbst.
Eva-Elisabath Fischer
Wiesbaden: Wagner «Tannhäuser»
Wieder am 10., 28. Januar im Großen Haus
In István Szabós Film «Zauber der Venus» (1991) mit der großartigen Glenn Close geht es um eine spektakuläre Pariser «Tannhäuser»-Premiere mit den obligaten erotischen Verstrickungen, Künstlerhybris und dem Wahnsinn des Glamour-Kunstbetriebs: All das wird im Zeichen der «Großen romantischen Oper» satirisch huldigend vergegenwärtigt. Der Künstler zwischen Himmel und Hölle, Charisma und Provokation, Genie und Konvention, Lust und Moral trägt die Stigmata des Outcasts, dem weder auf Erden noch andernorts zu helfen ist. Tannhäuser ist der radikale Utopist, der sich nicht verbiegen lässt, der im entscheidenden Moment nicht die Klappe halten kann, sondern das jeweils Fehlende rabiat benennt: dem Sex satt so wenig genügt, wie ihn die Keuschheitsheuchelei der Ritter anwidert. Er bleibt der Mann der Extreme, für die er bewusst einsteht. Darin ist gerade er der integerste «Held» Wagners.
Für diesen war er denn auch, als Figur wie Werk, ein Dilemma. Die konträren Fassungen (Dresden, Paris) zeugen davon, ebenso der Pilgerchorschluss im pompösen Es-Dur. Wenn Wagner 1883 fand, «er sei der Welt noch den ‹Tannhäuser› schuldig», markierte er eine nicht nur ästhetische Wunde: Stehen die Doppeltode von Holländer/ Senta und Tristan/Isolde für die Erlösung durch Liebe, so bleibt die sakrale Konnotation von Tannhäusers Ende seltsam vage, kompositorisch verlegen-aufgesetzt. Zumal Wagner in «Die Kunst und die Revolution» (1849, ein Jahr nach Karl Marx’ «Kommunistischem Manifest»!) proklamierte, dass Industrie, Geldwirtschaft und Christentum die Hauptfeinde einer befreiten Gesellschaft seien. Insbesondere Tannhäusers Romerzählung ist eine grimmige Attacke auf die Allherrscherin Kirche. Wagner und die Religion bleibt denn auch ein heikles Thema, im «Parsifal» eher noch verschärft als gelöst.
Wiesbadens Staatstheaterintendant Uwe Eric Laufenberg hat die sündig-heilig-Polarität des «Tannhäuser» subversiv konterkariert. Sein Wartburg-Saal (Rolf Glittenberg) ist, ganz 19. Jahrhundert, mit Hirschgeweihen und Maxi-Adler zünftig drapiert. Doch die Züchtigkeit hat ihre Kehrseite. Per Video erscheinen Rom und Päpste, aber auch Kopulation, Terror, Naturgewalt und leibhaftige Nackte: Der Edelmenschen-Palast zeigt sein wahres Gesicht verdrängter Lüste. Laufenberg und GMD Patrick Lange haben sich für das in jeder Hinsicht radikalere Pariser Bacchanal entschieden: Erscheint in der Dresdner Urfassung Tannhäuser als Büßer ohne rechte Sünden, so wirkt das virtuelle paradis artificiel (Baudelaire) der Erotik triftiger als manch verlegen stilisierte Sex-Gymnastik. Wer in dieser repressiven Hof-Welt wirklich liebt, ist schon so gut wie tot: Elisabeth liegt im Giga-Schneewittchen-Sarg. Die Sinnlichkeit muss perfekter verdrängt werden als die Gewalt. Dem Tabubrecher droht der Lynchmord: «In seinem Blute netzt das Schwert.» Aber drastischer schärfen wollte Laufenberg den zweiten Akt nicht. Im dritten lässt er Elisabeth tatsächlich ihre irdische Hülle fallen und nackt entschreiten, derweil Wolfram fetischistisch ihr weißes Kleid festhält. Ein großes liegendes Kreuz markiert massiv Erlösung, doch Tannhäuser geht unentsühnt ab. Konventionelles und Originelles halten sich die Waage.
Für die Titelpartie, tenoral zu Recht gefürchtet, bringt Lance Ryan eine stabile Höhe mit, bewegt vor allem in der Romerzählung mit der Intensität einer suchenden Leidensballade (von Wagner später nicht übertroffen): Da findet er den stockenden Ton eines wahrhaft Geschlagenen. Benjamin Russell macht Wolfram mit hellem Prachtbariton zum gefährdeten Schöngeist. Sabina Cvilak gibt der Elisabeth lyrisches Ebenmaß, Jordanka Milkovas Venus liefert die perfekte mythische femme fatale, wie denn überhaupt die Hölle attraktiver ist als die Pseudo-Tugend, die Young Doo Park als Landgraf Hermann wuchtig vorgibt. Unter Patrick Lange präsentieren sich Chor und Orchester in guter Verfassung, präsent und farbig, zumal die Holzbläser.
Gerhard R. Koch
http://www.staatstheater-wiesbaden.de/programm/spielplan/tannhaeuser-2017-2018/3381/