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Monte Verità

Spielplatz der ersten Hippies

Von Pia Koch

Lebensreformerische Gemeinschaft abseits von Globalisierung, Krieg, Kapitalismus – was nach Kommunen-Alltag der 68er oder dem ehrgeizigen Plan einer heutigen Berlin-Mitte-WG klingt, wurde schon um 1900 von eine Gruppe junger Menschen erprobt: Voll Tatendrang ließen die Pianistin Ida Hofmann, ihr Lebensgefährte Henri Oedenkoven, die Brüdern Karl und Gusto Gräser sowie einige andere Freiwillige die überfüllte Großstadt hinter sich, um einen Ort zu finden, an dem sie ihren Gedanken und Ideen zur Veränderung der Welt endlich einen praktischen Ausdruck verleihen konnten. In der südlichen Schweiz, bei Ascona, entdeckte die Truppe schließlich unweit des Lago Maggiore ein solches Fleckchen Erde in Form eines Hügels. Bescheiden wie sie waren, tauften sie diesen auf den Namen «Monte Verità», den «Berg der Wahrheit», auf dem schon bald mit dem Kapital der gut betuchten Unternehmereltern ein Naturheil-Sanatorium in Kolonieform entstand, in dessen Kurprinzip Vegetarismus, freie Liebe, selbstversorgende Arbeit in der Natur und strenger Verzicht auf Alkohol, Kaffee und andere «schädliche» Dinge programmatisch festgelegt wurden. Trotz medialer Skandalisierung, öffentlicher Ächtung und Spannungen innerhalb der Wahrheitsgemeinschaft ging das Konzept vorerst auf; die Kolonie wuchs, und die Realisierung eines Lebenskonzeptes unabhängig von den gängigen gesellschaftlichen Normen schien möglich zu werden.

Dass der Monte Verità keineswegs nur auf träumerische Naturliebhaber*innen anziehend wirkte oder gar als Ort für weltfremde Aussteiger*innen bezeichnet werden kann, zeigt auch die lange Liste prominenter Patient*innen und Besucher*innen. Von (natürlich) Hermann Hesse bis D.H. Lawrence, von Hugo Ball und (angeblich) Lenin bis C. G. Jung – sie alle kamen auf diesen Berg, der offensichtlich nah am Puls der Zeit war. Hier auf dem Monte Verità sollten die empfindlichen, kreativen, neugierigen Seelen abseits gesellschaftlicher Zwänge, städtischer Hochgeschwindigkeit und trist-dekadenter Langeweile ein anderes, der Natur und Gesundheit zugewandtes Leben kennenlernen. Nicht für jede*n beinhaltete das Programm des Wahrheitsberges allerdings die richtige Sinnstiftung, so dass einige – nach einem mehr oder weniger beschwerlichen Aufstieg in die luftigen Sanatoriums-Höhen – die Rückkehr ins dunkle Tal nicht fürchteten.

Für die Oben-Gebliebenen galt: Auch äußerlich sollte sich der inhaltliche Kolonie-Konsens zeigen, so dass lange Bärte, wehendes Haar, Blumenschmuck, Haarkränze und die weite, praktisch-luftige Kleidung den eingängigen Look der Gemeinschaft bildeten. Dieser erfuhr später durch die Hippie-Bewegung ubiquitäre Berühmtheit und konnte sich noch viel später im popkulturellen Mainstream-Design sowie als Inspirationsquelle für Kostümierungen auf Festen aller Art wunderbar bedeutungsentleert festsetzen – wodurch sich schließlich die Welt der damaligen Bewohner des Monte Verità mit der Lebensrealität heutiger, mit Haarband, Peace-Zeichen und weitem Kleid ausgestatteter Besucher einer Faschingsparty im dörflichen Bürgerhaus verbinden lässt. Stichwort Kleidung: Die konnte natürlich auch als überflüssig erachtet und komplett weglassen werden. Da gruben frau und man dann nicht nur nackt in den Gemüse-Beeten, sondern konnten auch mit anderen (Nackten oder Angezogenen) auf den Wiesen um das Sanatorium oder am Ufer des Lago Maggiore tanzen. Es fanden nämlich nicht nur Literat*innen oder Psychoanalytiker*innen ihren Weg auf den Monte Verità, sondern auch Tänzer*innen, Tanzreformer*innen und Tanzpädagog*innen, unter ihnen Rudolf von Laban und Mary Wigman.

Rudolf von Laban gründete schließlich 1913 auf dem Monte Verità die «Schule für Kunst Coopérative individuelle», innerhalb derer die unterschiedlichsten Formen des modernen ‚Ausdruckstanzes‘ in Abgrenzung zu konventionellen Tanzstilen entwickelt wurden. Die Schüler*innen sollten allerdings über viel Körper-, Rhythmus- und Hörarbeit nicht nur ihr tänzerisches, sondern auch ihr allgemeines künstlerisches Vermögen ausbauen, weshalb zusätzlich Fächer der bildenden und handwerklichen Kunst angeboten wurden. Richtig zur Sache ging es dann bei den großen Events, den «Tanzdramen»: stunden-, zum Teil auch nächtelang wurde durchgetanzt und performt. Mit Kostümen, Masken und jeder Menge Teilnehmer*innen wurden diese Spektakel auf dem Monte Verità zu Festen, die nicht nur die Körper und ihren ganz individuellen Ausdruck in der Natur sprechen lassen, sondern ebenso nationale und soziale Grenzen überwinden sollten. Eigentlich keine schlechter Plan für unsere heutige Welt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Monte Verità also vor allem eine Art Fluchtpunkt, an dem sich, neben der Realisierung bestimmter lebensreformerischer Ideen, die unterschiedlichsten Strömungen aus bildender, performativer und literarischer Kunst mehr oder weniger produktiv treffen konnten. Dass sich die Gemeinschaft aufgrund vieler interner Probleme im drohenden Schatten des Ersten Weltkrieges auflöste, ist kein Geheimnis – und dennoch scheint die Begeisterung für diesen merkwürdigen Ausnahmezustand auf einem Hügel bei Ascona, der es mit der Wahrheit aufnahm, bis heute nicht versiegt. So findet sich eine breite Rezeption des Monte Verità nicht nur in Literatur, Film und Malerei, sondern (und vor allem) auch im Theater- und Tanz-Bereich. Ein verträumtes ‚Was-wäre-wenn‘ hat sich vom Berg herunter durch die Jahrzehnte ausgebreitet auf der Suche nach ästhetischer Verwirklichung und wissenschaftlicher Aufarbeitung – und herausgekommen sind dabei vielfältige Ausstellungen und Publikationen.

Den Berg gibt es natürlich auch noch, und was dort oben an spartenübergreifenden Performances, Kunstaustellungen und coolen Aktivitäten geboten wird, atmet weiterhin die etwas süßlich-modrig gewordene Sanatoriums-Luft; und der einstige, nun zu Hochkultur verarbeitete Veränderungsdrang der Alternativ-Pioniere gibt dem befreienden, ungebundenen Urlaubsfeeling einer interessierten Gästeschar Raum. Ja, es ist der Geist der damaligen Gemeinschaft, der den heutigen Museums- und Hotelkomplex auf dem Monte Verità durchfährt und trägt.

Der Historiker Andreas Schwab hat die Geschichte des Monte Verità und vor allem die dortigen Entwicklung des Ausdruckstanzes noch einmal genauer untersucht: Den kompletten, sehr informativen Artikel gibt es hier.