Der Traum vom Zuhören

Die 30 Teilnehmer:innen beim Internationalen Forum leiden erfahrungsgemäß am stärksten unter der Zehner-Auswahl – haben aber während des Theatertreffens oft die Zeit ihres Lebens. Wie das zusammengeht? Ein Gespräch mit Aljoscha Begrich und Sima Djabar Zadegan

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Theater heute Sima Djabar Zadegan und Aljoscha Begrich, Sie beide leiten dieses Jahr das Internationale Forum beim Berliner Theatertreffen. Was ist so besonders an diesem Format? 
Aljoscha Begrich Ich war selbst 2014 Stipendiat und habe 2018 zusammen mit Akira Takayama einen Workshop geleitet sowie ähnliche Formate in Kopenhagen und Istanbul veranstaltet. Es ist immer aufregend und interessant, wenn junge internationale Künstler:innen zusammentreffen.

Aber beim Internationalen Forum ist besonders wertvoll, dass hier zwei Wochen diskutiert, gestritten und gelacht werden kann, ohne ein Produkt herstellen zu müssen. 

TH Das Internationale Forum ist ja aber doch Teil dieses Festivals der bemerkenswertesten Inszenierungen, für das es als Fenster nach außen fungiert, heraus aus der deutschsprachigen Selbstbezüglichkeit. Dabei gab es in den letzten Jahren unterschiedliche Phasen: Mal hat sich das Forum eher abgekapselt, blieb unter sich, mal wurde es in irgendeine Beziehung zur Auswahl gesetzt. Wie ist das dieses Jahr geplant? 
Sima Djabar Zadegan Wir betrachten den Bezug zur Auswahl als Herausforderung. Grundsätzlich denken wir das Internationale Forum «@ Theatertreffen», das ist unser Rahmen, wir treffen uns ja aus gutem Grund während des Theatertreffens. Wir möchten auch alle zehn Inszenierungen anschauen und ins Gespräch darüber kommen. Ich rechne fest damit, dass es zwischen der Auswahl und den jungen Künstler:innen, die alle seit etwa fünf Jahren autonom in ihren Theaterberufen arbeiten, zwangsläufig zu – hoffentlich produktiven – Reibungen kommen wird. 
Begrich Ich würde dieses Verhältnis auch erstmal als Aufgabe beschreiben. Schon im ersten Gespräch mit Theatertreffen-Leiterin Nora Hertlein-Hull hat sie als Reaktion zu unseren Ideen gesagt: «Okay, aber was ist mit dem Theatertreffen?» (Lachen) Das ist die Gretchenfrage. Die Menschen, die wir zum Forum einladen, müssen auch das Gefühl haben, dass es ihnen etwas bringt, diese zehn Stücke zu sehen – obwohl die meisten Inszenierungen, das muss man auch ganz klar sehen, von den Möglichkeiten und Ressourcen der internationalen Künstler:innen sehr weit entfernt sind. Und umgekehrt sollte auch das Theatertreffen etwas davon haben, dass diese Leute hierherkommen. 

TH Wie setzt sich das Forum genau zusammen?
 Zadegan Es haben sich sehr viele Künstler:innen auf die 12 internationalen Plätze beworben, insgesamt wohl 700, die wurden aber von den Goethe-Instituten schon vorsortiert, die diese Plätze seit Jahren finanzieren. Wir haben etwa 300 gesichtet. 

TH Die anderen 18 kommen aus dem deutschsprachigen Raum? 
Zadegan Ja, wobei etliche von diesen Stipendiat:innen «internationale Perspektiven» mitbringen. Ihre künstlerische Praxis ist oft in verschiede -nen Ländern verankert, nicht nur in Deutschland. Die Zahl der internationalen Plätze hat mit der anteiligen Finanzierung zu tun. Früher gab es 20, jetzt wegen der Kürzungen beim Goethe-Institut nur noch 12. Die restlichen Plätze sind von Pro Helvetia und dem Österreichischen Bundeskanzleramt finanziert, die Plätze aus Deutschland werden von den Kultusministerien der Länder und dem Deutschen Bühnenverein finanziert, worüber wir sehr dankbar sind.
Begrich Für uns war jedenfalls klar, dass wir nicht nur die interessantesten Künstler:innen auswählen, weil wir ja auch kein Festival kuratieren, sondern dass wir uns gefragt haben, welche Gruppe wollen wir zusammenstellen. Und wenn jemand schreibt, dass er die Berliner Clubkultur kennenlernen möchte, kann ich das zwar voll verstehen, aber möchte man ihn wirklich zehn Abende ins Theater schicken? 
Zadegan Außerdem haben wir versucht, die Auswahl der Leute divers aufzustellen, divers auch im Sinne der künstlerischen Herangehens -weisen. Wir haben ein paar Leute, die verankert sind in Stadttheaterstrukturen, bei denen wir jetzt schon zu wissen glauben, welche Inszenierungen sie toll finden werden. Aber wir haben auch Leute aus der Freien Szene, die vielleicht auf ganz anderen Wegen unterwegs sind, und trotzdem Anknüpfungspunkte haben. 
Begrich Du hast das immer sehr schön formuliert: Wir müssen uns auch fragen, «wen wir mit einladen», also welche Netzwerke und Strukturen, und wie die eingeladenen Künstler:innen als Multiplikator:innen fungieren können. Der Auswahlprozess war schon sehr schmerzhaft, weil man sehr vielen, sehr guten Künstler:innen absagen muss. 

TH Haben bei der Auswahl die Herkunftsländer eine Rolle gespielt? Waren etwa Leute aus Ländern, in denen aktuell Konflikte oder Kriege ausgetragen werden, besonders interessant – oder haben Sie versucht, das auszublenden? 
Zadegan Nein, ausgeblendet haben wir das nicht, aber wie will man einer solchen Repräsentation gerecht werden mit 12 Plätzen? Deswegen war das nur eine Frage unter vielen für die Auswahl. Wir wollten auch die Bandbreite der verschiedenen Berufe und künstlerischen Heran -gehensweisen abbilden. 
Begrich Es gibt schon Regionen, aus denen besonders viele Bewer - bungen kommen, die uns passend erscheinen. Vor allem aus Südamerika. Das Theater ist dort viel näher an europäischen Traditionen und Strukturen. 
Zadegan Das ist natürlich auch heikel, weil wir ja keine postkolonialen Strukturen fortschreiben wollen. Durch den eurozentrischen Blick auf Kunst und Theater bleibt vieles unerkannt, im «toten Winkel» sozu -sagen. Und genau in diesem Bereich wird das Internationale Forum erst richtig spannend. Wir wollen ja nicht nur einladen, was einer deutschsprachigen oder europäischen Theaterpraxis nahesteht und uns selbst spiegelt, sonst wäre das Potenzial des Internationalen Forums vertan. 
Begrich Daher gut möglich, dass es Streit gibt. Das Forum lebt davon, dass hier unterschiedlichste Perspektiven aufeinandertreffen und wir denen auch Raum zum Aufprall und Resonanz geben wollen. Gegenseitiges Interesse ist oft eine gute Grundlage für die Infragestellung der eigenen Positionen, und mehr Zuhören und Verständnis für andere Perspektiven kann, glaube ich, allen nur guttun. Daher haben wir bei der Auswahl darauf geachtet, dass die Leute ein spürbares Interesse am Forum als sozialen Prozess mitbringen. Sich über die Inszenierungen und die Theaterstrukturen zu beschweren, ist richtig, denn das Theatertreffen ist zu weiß, zu wenig divers, zu elitär. Aber schwerer ist es, gemeinsam zu erfragen, was für ein Theater wollen wir stattdessen? Und wie wollen wir miteinander arbeiten und umgehen? 
Zadegan Der diskursive und reflexive Teil wird sich von selbst ergeben, den müssen wir gar nicht groß anleiten. Die Fragen von political correct -ness und Repräsentation sind zweifellos wichtig, trotzdem sollten wir uns nicht ausschließlich auf diese Kritik fokussieren. Wir möchten an die Utopien ran und die Perspektiven dazu aus Honduras, China und Dänemark in Bezug zueinander setzen. 

TH Die Phase der Beschwerde kennen wir, aber sie ist inhaltlich ja überschaubar. Wie sieht es mit tiefergehenden Gesprächen über Ästhetiken, praktische Zwänge und Traditionen aus – da wird’s doch auch spannend. Warum klappt das relativ selten und endet sehr oft in konfrontativer Entladung, z.B. bei der Schlussdiskussion? Wie kann man das Internationale Forum, die Theatertreffenkünstler:innen und die Jury in einen konstruktiven Dialog bringen? 
Begrich Für uns hat das Forum drei Ebenen. Die eine ist das @Theatertreffen, auf dieser Ebene geht es traditionell konfrontativ zu. Schon 1972 haben Vorstellungen verspätet stattgefunden, weil Teilnehmer:innen des Internationalen Forums auf der Bühne ein Manifest verlesen haben. Das ist quasi gesetzt. Aber die Kritikpunkte möchten wir auch in internen Gesprächen mit Künstler:innen der eingeladenen Inszenierungen detailliert besprechen, es geht ja nicht nur um Konfrontation, sondern auch um Austausch. Die zweite Ebene sind die Verhandlungen und das Netzwerken der Stipendiat:innen untereinander. 

TH Der Schullagereffekt! 
Begrich Genau. Und auf einer dritten Ebene kommen wir in den Workshops ins konkrete Tun und Arbeiten, ausgehend von Spielanordnungen externer Künstler:innen.
 Zadegan Nochmal zurück zu Ihrer Frage nach dem tieferen Dialog: Ein Schritt, dorthin zu kommen, könnten gemeinsame Erfahrungen und gemeinsames Erleben sein. Deshalb glaube ich – zumindest jetzt – sehr an die Idee, dass wir zusammen ins Spiel kommen. Unsere Homebase wird «Radical Playgrounds» sein, ein von internationalen Künst -ler:innen gestalteter Kunstparcours der Berliner Festspiele vor dem Gropius Bau. Dort stand früher das ehemalige Museum für Völkerkunde, ein Bau aus dem Geist des Kolonialismus. Überhaupt ist das in Berlin ein his -torisch ungemein vielschichtiger Ort – zwischen «Topographie des Terrors», Abgeordnetenhaus, Potsdamer Platz und zeitgenössischer Kunst. Mit Benjamin Foerster-Baldenius von Raumlabor und Joanna Warsza, die das Projekt kuratieren, sind wir in engem Austausch, und diese Kooperation innerhalb der Berliner Festspiele ist für uns ein räumliches und inhaltliches Geschenk. Der Playground als Setting, Spielanleitung und Metapher eignet sich prima, um über Spiele, Regeln und deren Mecha -nismen und Geschichte nachzudenken.
Begrich Michikazu Mazune, der oft humorvoll zwischen Performance und Installation arbeitet, wird einen Workshop auf dem Playground machen. Christiane Hütter von Invisible Playgrounds kommt aus der Gaming Community und wird in den Stadtraum gehen, um dort nach Spielfeldern und Regeln zu suchen, während Amir Reza Koohestani, mit dem Sima schon viel zusammen gearbeitet hat, einen Workshop zu Playwriting geben wird. Neben den Workshops wollen wir Ausflüge machen, gemeinsam kochen und zwischendurch und nebenbei reden. Mein Traum wäre, dass alle sich so zuhören, dass sie zumindest verstehen, warum jemand anderes zu dieser Meinung gekommen ist. Die muss ich nicht teilen, es geht überhaupt nicht darum, dass alle das Gleiche denken und meinen müssen. Die spielerischen Elemente sind für uns Tools, um dieses Zuhören zu ermöglichen. 

TH Wie lassen sich die entstehenden Kontakte und Netzwerke verste - tigen? Bleibt das der privaten Initiative überlassen? 
Zadegan Wir finden den Alumni-Gedanken toll – die Liste der bisherigen Teilnehmer:innen liest sich unglaublich – und würden ihn perspektivisch gerne weiter aktivieren. 
Begrich Das Alumni-Netzwerk noch sichtbarer und größer zu machen, wäre uns ein Anliegen. Wir waren erfreut, dass etwa die Dramaturgin Sybille Meier oder der Kostümbildner Amit Epstein genau wissen, was ihnen das Forum bedeutet hat und jetzt sehr gern Erfahrungen im Gespräch mit den Stipendiat:innen zurückgeben möchten. Mit Amit treffen wir uns jetzt zum Beispiel auf dem Berliner Teufelsberg, um zwischen den Ruinen der US-Abhöranlage auf den Trümmern des zerbombten Berlins über «Bucket List» und den Umgang mit Traumata zu sprechen. Und mit Sybille Meier geht es hoch über der Stadt ins Wolkenhain nach Hellersdorf, um über «Laios» und Theben nachzudenken. 
Zadegan Der ehemalige Leiter des Forums Uwe Gössel hat mit einem Blick acht Künstler:innen ausgemacht, die an den Inszenierungen der diesjährigen Theatertreffenauswahl beteiligt sind, die mal beim internationalen Forum waren. Eigentlich müsste man mal ein Festival mit den Alumnis machen! 

TH Das wär doch mal ein schöner Projektantrag! 
Begrich Unbedingt! Nächstes Jahr feiert das Internationale Forum seinen 60. Geburtstag – da könnte man sich was Besonderes überlegen. Aber in diesem Jahr erfinden wir das Rad nicht neu, sondern orientieren uns am Bewährten. Für die Zukunft aber sind viele Fragen offen: Wie umgehen mit steigenden Hotelpreisen, was heißt Nachhaltigkeit für den internationalen Austausch, wie öffentlich soll die Arbeit des Forums sein, und wie gewährleisten wir, dass die 30 tollen Künstler:innen während des Theatertreffens sichtbarer werden? 
Zadegan Immerhin gibt es jetzt schon die Veranstaltung «The Forum’s Forum» am 11.5., wo sich alle in sechs Minuten präsentieren können – «in 180 Minuten um die Welt». Das öffnet einen Einblick in einen Ausschnitt ihres Denkens und ihrer Arbeitsweise, vor internationalen Kurator:innen, Goethe-Mitarbeiter:innen und Berliner Dramaturg:innen. Denn darum geht’s natürlich auch – weiter Fuß fassen auf dem Markt.

ALJOSCHA BEGRICH, geb. 1977, aufgewachsen in der DDR, studierte in Berlin, Buenos Aires und Mexiko City. Von 2009 bis 2014 Dramaturg und Bühnenbildner am Schauspiel Hannover, von 2014 bis 2019 am Berliner Maxim Gorki Theater, zwischen 2020 und 2022 Dramaturg und Kurator bei der Ruhrtriennale. Er ist Mitbegründer und Teil der künstlerischen Leitung des Festival OSTEN in Bitterfeld- Wolfen (2022/24). SIMA DJABAR ZADEGAN, geb. 1988 in Basel, studierte Islamwissenschaft, Nahoststudien und Germanistik in Basel, Freiburg und Teheran. Sie übersetzte diverse persischsprachige Theaterstücke und Spielfassungen (von Amir Reza Koohestani, Mahin Sadri und Azadeh Shahmiri) ins Deutsche. Von 2018 bis 2023 Teil der Dramaturgie des Deutschen Theaters Berlin.


Theater heute Mai 2024
Rubrik: Akteure, Seite 47
von Sima Djabar Zadegan und Aljoscha Begrich

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