Inhalt

Rezensionen 7. Dezember

Mülheim/Bonn: Cocoondance «vis motrix»

Am 7., 8. Dezember im Ringlokschuppen Ruhr (Mülheim), am 14., 15. Dezember im Theater im Ballsaal (Bonn)

Was für sinistre Kreaturen! Man möchte lieber gar nicht wissen, was passieren wird, wenn sie es schließlich aus ihrer merkwürdigen Rückenlage in die aufrechte Haltung schaffen, wenn sie die Königsposition des Menschseins erobern – ein Moment, den Cocoondance in seiner aktuellen Produktion nicht mehr zeigt. «Vis motrix» handelt von der Entstehung allen Lebens, von der «bewegenden Kraft». Rafaële Giovanola, die zarte, charmante Schweiz-Bonner Choreografin, wird zum Dr. Frankenstein unserer Tage. Wie üblich hat sie gemeinsam mit ihrem Dramaturgen und Cocoondance-Partner Rainald Endrass ihr Tanzlabor mit trendig-topaktuellen Theorien ausgestattet.

Vier Frauen liegen amöben-flach auf dem Rücken, scheinbar willkürlich verteilt im Raum. Schwarze Sneakers, schwarze Leggings und Shirts, die Haare so straff zum hohen Dutt gebunden, dass der Haarknubbel wie ein Einschaltknopf auf dem Kopf thront. Sie sind die Homunculi, die der düster vibrierende Elektrosound von Franco Mento langsam zum Leben erweckt. Erst wölbt sich nur der Brustkorb ballonartig nach oben als werde von außen Luft in die Lungen geblasen. Dann zucken Bewegungen wie elektrische Impulse durch die Körper, und die Tänzerinnen krabbeln auf allen vieren durchs Bühnenquadrat – aber mit dem Rücken zum Boden, das puppenhaft-tote Gesicht zur Decke gerichtet. Mit der Grazie schwarzer Spinnen huschen sie unberechenbar durch den Raum und folgen doch spürbar einer mysteriösen inneren Logik, scheinen eine Art Schwarmintelligenz zu entwickeln oder die mathematische Kombinatorik von Zellularautomaten, wie sie zur Schaffung Künstlicher Intelligenz gebraucht werden.

Eine zunächst abstrakt wirkende choreografische Studie, in der aber der uralte Menschheitstraum mitschwingt – von Prometheus, Golem, Blade Runner bis hin zum Silicon Valley, wo mit animistischem Enthusiasmus der Roboter zum besseren Mensch verklärt wird. Das Stück ist das weibliche Pendant zu der erfolgreichen Männerchoreografie «Momentum». Pulsierte hier der ganze Saal, hält das Damenquartett auf fröstelige Distanz. Die Tänzerinnen Fa-Hsuan Chen, Martina de Dominicis, Tanja Marín Friðjónsdóttir und Susanne Schneider sind die fantastischen Sci-Fi-Superorganismen, die dem Geheimnis des Lebens auf der Spur sind. Ihre riesenhaften Schatten spuken dank effektvollen Lichtdesigns von Gregor Glogowski über die Wände, und Rafaële Giovanola baut auch noch eine Systemstörung in die aufregend spröde Choreografie: Eine «Chromosomen-Tänzerin» mutiert, fällt aus der Formation und ruckelt für einen Moment zombiehaft durch den Raum, ehe sie sich wieder eingliedert. Aber der Betrachter weiß: Der Fehler wird bleiben, der Ausfall eintreten. Es sollte uns eine Warnung sein.

Nicole Strecker

www.cocoondance.de