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Rezensionen 7. Dezember

Foto: Matthias Horn

Stuttgart: Wajdi Mouawad «Vögel»

Am 7., 20., 21. Dezember, 6., 7., 8. Januar im Schauspiel

Zur Saisoneröffnung hat Burkhard C. Kosminski die deutschsprachige Erstaufführung von Wajdi Mouawads Erfolgsstück «Vögel» nach Stuttgart geholt und daraus einen fesselnden Abend gebaut. Schrecklich aktuell wirkt das Drama des libanesisch-kanadischen Autors und Theatermachers, der in Paris seine eigene Spielstätte betreibt. Der Nahostkonflikt ist eines seiner Lebensthemen. In «Vögel» bringt ein Attentat verschiedene Mitglieder einer in der Welt verstreuten israelischen Familie nach Jerusalem, um die Abgründe von Vergangenheit und Gegenwart auszuloten. David ist Jude und ein fast schon fanatischer Vertreter seines Volkes. Deshalb findet er es unerträglich, dass sein Sohn Eitan, der in den USA forscht, die arabischstämmige Amerikanerin Wahida liebt. David selbst lebt in Berlin und ist verheiratet mit Norah, die in der DDR aufgewachsen ist – als Tochter von Kommunisten, die keine Juden sein wollten. Nach Deutschland hat ihn als Jugendlicher sein Vater Etgar gebracht, der – dem Dritten Reich entkommen – eigentlich in Israel mit Leah seine Familie gegründet hatte. Die beiden sind aber schon lange geschieden, und Leah wohnt als einzige noch dort. In Rückblenden enthüllt sich das Schicksal der Familie, weil ein DNA-Test, den Eitan mehr zufällig vorgenommen hat, Undenkbares ans Tageslicht gebracht hat.

In seinen Stücken – allesamt große Welt- und Theatererzählungen – erzählt Mouawad immer wieder vom Verlust: Verlust der Geschichte, Verlust der Sicherheiten, Verlust der Identitäten – und in letzter Konsequenz: Verlust des Lebens. Keiner kommt unversehrt davon. Eitan schreit es heraus: «Ich werde keinen Trost finden.» Mouawads Texte sind immer auch Pathosmaschinen voller märchenhafter Momente. Für «Vögel» haben aber vermutlich zugleich Ibsen, Lessing, Sophokles, die großen Lebenslügenentlarver, Pate gestanden. Wie bei ihnen hängen auch über seinem Stück identitätspolitische Fragen: Gibt es wirklich kein echtes Leben im falschen? Ist alles Makulatur, weil eine Lüge am Anfang stand? Schnörkellos setzt Kosminski den hoch aufgeladenen Text auf die Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses. Raumfüllende weiße Papierwände, die Figuren und Settings ver- und enthüllen, dienen als Projektionsflächen und Abgrenzung zwischen verschiedenen Szenen und Zeiten. Tisch, Sofa, Stuhl, Koffer – viel mehr braucht Florian Etti nicht, um einzelne Orte zu markieren. Der Minimalismus ist das Prinzip der Inszenierung, allerdings nur, was die Ausstattung angeht. Schauspielerisch lässt Kosminski durchstarten. Mit der Besetzung gelingt ihm ein großer Wurf, weil jeder der Akteure seine Figur mit bedrückender Intensität auf die Bühne bringt und alle so selbstverständlich in verschiedenen Sprachen parlieren, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Selten hat das Stuttgarter Schauspiel so kosmopolitisch gewirkt wie an diesem Abend. Mühelos und virtuos wechselt besonders Martin Bruchmann als Eitan zwischen den Welten und Idiomen: Englisch, Hebräisch, Deutsch und eine verletzliche Unmittelbarkeit – der 29-jährige Schauspieler beeindruckt nicht nur mit seiner Multilingualität.

Kosminski hat seine Akteure grenzüberschreitend suchen lassen, mit Hilfe professioneller Casting-Agentinnen und eines internationalen Aufrufs. Das hat sich ausgezahlt. Aus Israel sind Dov Glickman und Evgenia Dodina zu Gast, die die erste Generation in diesem Familien- und Völkerkonflikt besetzen. Glickman gibt den jovalen Großvater, der sich als Vermittler zwischen den Fronten versucht, Dodina seine hart-weiche (Ex-)Frau, die das Schicksal zynisch gemacht hat. Irgendwie steht jeder und jede hier zwischen den Stühlen und Loyalitäten. Silke Bodenbenders Norah ist eine dauerangespannte Mutter und Ehefrau, Amina Merais Wahida eine Liebende, die an den Unversöhnlichkeiten der anderen scheitert.

Und dann wäre da noch Itay Tiran, der im ersten Teil des Abends recht naturalistisch den strengen, unnachgiebigen Vater gibt. Als im zweiten Teil die Familienfassade vollends bröckelt und sein David darüber temporär wahnsinnig wird, spielt der israelische Schauspieler wie befreit auf. Mit subtil-aggressiven Gesten und in den Körper eingegrabenen Emotionen erzählt er die Verzweiflung seiner Figur. Die besonders gute Nachricht für Stuttgart: Tiran ist festes Mitglied des neuen Ensembles und ein Garant für die Internationalisierung des Theaters, die Kosminski anstrebt. Dessen Regie ist präzise und dabei angenehm zurückhaltend. Gebannt folgt man dem schauspielerischen Feuerwerk. Jede Szene erscheint als Tableau, in dem ein Stückchen Zwiebelhaut weggeschält wird. Auch wenn Mouawad komplex und sprachblumig erzählt, erscheinen seine Figuren zwingend, obwohl es ihm nicht immer gelingt, allen Klischees aus dem Weg zu gehen: Norah, die Deutschjüdin, ist «natürlich» Psychoanalytikerin; Wahida, die vielgereiste, großstädtische US-Akademikerin, erkennt beim Besuch in den Palästinensergebieten plötzlich, wie sehr sie Araberin ist und «dazugehört». Das irritiert, weil Mouawad in «Vögel» eigentlich ein Plädoyer gegen ethnischen Essentialismus hält. Das Stück bleibt allerdings in vielen Setzungen ambivalent und regt deshalb zum Denken wie auch zum Widerspruch an.

Kristin Becker

https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/voegel/