Rezensionen 14. Dezember
Foto: Krafft Angerer
Hamburg: Thomas Köck «dritte republik»
Am 20. Dezember, 9., 20. Januar im Thalia Theater
Kein Wunder, dass die Landvermesserin aus Thomas Köcks Stück «Dritte Republik» sich fragt, warum sie nicht einfach in ihrem Bett liegengeblieben ist, statt diesen «hanebüchenen Auftrag» anzunehmen. Sie soll die Landesgrenzen neu vermessen. Aber das Schneegestöber, das ihr ohne Unterlass ins Gesicht bläst und das sie bald als «beschissensten aller Jahrhundertstürme» identifiziert, macht jedweden Auftragserfüllungsversuch zum aussichtslosen Unterfangen. «Was für eine höchst zerfickte Drecksscheiße», bringt Barbara Nüsse als adäquat abgekühlte Geodätin das besagte Jobprofil am Hamburger Thalia in der Gaußstraße auf den Punkt. Und zwar in einem Tonfall, der sich erfreulicherweise nicht aus diffusen Emotionsausbrüchen, sondern aus messerscharfer Status-quo-Analyse speist.
Zwei Kafka-Figuren – der Landvermesser aus dem Romanfragment «Das Schloss» und der titelgebende Mediziner aus der Erzählung «Ein Landarzt» – standen Pate für diese buchstäblich gebeutelte Protagonistin: Redliche Auftragnehmer mit Berufsethos, deren Jobs sich plötzlich in Zuständigkeitsvakuen auflösen oder unter anderweitigen mysteriösen Umständen zu Missions impossible zerbröseln. Umständen freilich, die den Auftragnehmern ersatzweise symbol- und allegoriengeschwängerte Stationendramen aufnötigen. Köcks Protagonistin absolviert ihren Weltgeschichts-(Horror-)Trip an der Seite eines Kutschers, dem die lässigen historischen Brückenschläge nur so aus dem Mund purzeln. Das Startup unserer Hipster-Tage, erklärt er ihr zum Beispiel, sei im Grunde nichts anderes als die Fortsetzung des seit Menschengedenken praktizierten Kriegshandwerks mit leidlich anderen Mitteln. «Ja, so ist das mit den jungen Leuten heutzutage», redet er auf die Landvermesserin ein. «Immer unterbezahlt, hocken sie da in ihrem Schützengraben und glauben auch noch, dass sie für eine Zukunft einstehen, dabei stehen sie nur im postfordistischen Schlamm von einem Schützengraben, zwischen den Startup-Eingeweiden von ein paar unterbezahlten Kameraden.» Logisch, dass sich der Kutscher mit derartigen Äußerungen zum Adressaten kritischer Meta-Diskurse qualifiziert: «Nein, ich bitt sie, Schluss mit dem Mansplaining», fordert die Vermesserin. Also: Vom Kutschbock zu #MeToo, vom Faustkeil zum Startup – der verbale Zeiten-Sprung, die Strukturanalogie im Jahrhundert-Sturmschritt sozusagen, ist die zentrale Bewegungsform des Textes, den der Autor zusammen mit Elsa-Sophie Jach in Hamburg selbst uraufgeführt hat. Da bleibt Kafka nicht die einzige Referenz; die «Dritte Republik» lebt geradezu von ihrer Anspielungsstreuung: von Robert Menasse über Jim Jarmusch und Thomas Pynchon bis zu Ulrike Guerot und mindestens einmal wieder zurück.
Vorbei an einer blinden Fallschirmspringerin, die nach diversen Kriegen buchstäblich in den Seilen hängt, weht es Kutscher und Geodätin weiter zum Archetypus des realkapitalistischen Selbstoptimierers – und zwar ebenfalls ganz gegenständlich, denn Wind- und Nebelmaschinen sind die großen Bühnenbild-Protagonistinnen in dem von Stephan Weber erdachten Szenario. Der Selbstoptimierer, den Köcks postkafkaeske Cast-Liste sinnigerweise als «Patient» führt, tuckert in der Thalia-Gestalt von Bekim Latifi standesgemäß manisch im vollabwaschbaren Plastik-Outfit über die Bühne und wird bisweilen von einem spektakulär kopfbandagierten Mädchenchor der «Gehilfen» akkompagniert, welcher seinerseits entsprechend martialische Empfehlungen aus Kafkas «Landarzt» zum Besten gibt: «Und heilt er nicht, so tötet ihn.»
Der Body-Mass-Index-getriebene Selbstoptimierungspatient mit seiner Vision einer «top shape society», die alles und jeden von der Optimal-(Körper-)Grenze Abweichenden «draußen» halten will aus «unserem society body», ist es denn auch, der direkt in die Herzkammer des Köckschen Stückes vordringt; zur titelgebenden «Dritten Republik»: dem einstigen (und bekanntlich ungebrochen virulenten) Jörg-Haider-Traum vom «autoritären vollverschlankten national slim fit state». So bringt es der final die Bühne enternde Reeder auf den Punkt, ein kosmopolitischer Gegenspieler des Patienten, der am Thalia in jeder Hinsicht schön kanarienvogelbunt von Tilo Werner auf die Bühne geturnt wird.
Dieser Reeder, Wiedergänger des jüdischen Hapag-Lloyd-Mitgründers Albert Ballin, steckt gleichsam in einer Zeitschleife fest: Genauso oft, wie er sich erschießen kann, ohne zu sterben, wird er auch sein Anti-Dritte-Republik-Diktum von der Überflüssigkeit neuerlicher Grenzvermessungen respektive -ziehungen wiederholen können, ohne dass die Majorität der Spezies ihn erhört.
Christine Wahl