
Die kontrollierte Extremistin
Ursina Lardi
Sie kehrte als kühle NGO-Managerin ihr Innerstes nach außen, spielte den hochbegabten «Unendlicher Spaß»-Helden Hal, verwandelte sich in Lenin und verstrickt sich als raubkatzenhafte Madame Champignol in eine irre Verwechslungskomödie: Schaubühnen-Ensemblemitglied Ursina Lardi prägt sich tief ein mit ihren Rollenfiguren. Ein Gespräch darüber, wie man als Schauspielerin zur Autorin seiner Figuren wird.
Lassen Sie uns über die Möglichkeiten von Autorschaft als Schauspielerin sprechen! Als Sie Anfang der 1990er Jahre nach Berlin an die Ernst Busch Hochschule kamen – war damals davon schon die Rede?
Nein, in der Ausbildung war das kein Thema, und auch ich habe mir erst später Gedanken darüber gemacht. Vielleicht sprechen wir lieber gleich über konkrete Beispiele, da ich mich auch in der Arbeit vor allem mit konkreten Fragen beschäftige. Schließlich entscheiden die konkreten Lösungen darüber, wie gut ein Theaterabend wird. In Milo Raus «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs» etwa war ich bei allen Interviews dabei, die wir im Vorfeld mit NGO-Mitarbeitern geführt haben, sowohl hier als auch in Griechenland und im Kongo, teilweise habe ich sie auch alleine geführt. Milo hat auch mich interviewt ...
… weil Sie selbst vor Ihrem Studium Mitarbeiterin einer NGO waren?
Ja, ich war anderthalb Jahre für eine NGO in Bolivien, daher kenne ich diese Welt der «Hilfsindustrie» sehr gut. Auch von meinen Erfahrungen ist einiges in die Spielfassung eingeflossen, wenn auch so, dass der Ursprung nicht mehr kenntlich ist. Nach diesen Recherche-Phasen wurde eine Textfassung erstellt – zwar war Milo der Autor, aber in enger Abstimmung mit mir. Er hat ja öfter schon mit autobiografischem Material von SchauspielerInnen gearbeitet; das wollte ich in dieser Weise nicht. Ich fand es interessanter, eine fiktive Figur zu entwickeln. Da es unsere erste Zusammenarbeit war, mussten wir uns dabei erstmal finden – bei «Lenin» war das dann schon ganz anders. Bei «Unendlicher Spaß» in der Regie von Thorsten Lensing gab es für die Figur Hal schon eine literarische Vorlage; natürlich hatte ich den Roman gelesen, im Dialog mit Thorsten ausgesucht, welche Stellen mich interessieren. Aber an diesem Beispiel sieht man ganz gut, worin die Autorschaft eines Schauspielers bestehen kann: Dieser Hal ist ja erst mal sehr weit weg. Er ist ein Junge, er ist dreißig Jahre jünger als ich, er ist Tennisspieler. Ich habe mit dem Naheliegenden angefangen und erst mal Sportklamotten angezogen, kurze Hose, T-Shirt, Turnschuhe. Aber über Naturalismus war diese Figur nicht zu kriegen, das funktionierte nicht. Nicht umsonst heißt sie Hal, wie der übergriffige Computer in Stanley Kubricks «2001 – Odyssee im Weltraum». Sie brauchte etwas Künstliches, Maschinelles, eine Art Prothese vielleicht. Also habe ich Hal mit Rollschuhen und in einem Neopren-Anzug zu spielen versucht.
Eine wacklige Sache …
Es kriegte sofort etwas Revuehaftes, das auch nicht stimmt. Was schließlich übrig blieb, waren diese viel zu hohen Turnschuhe, die dem Gehen seine Selbstverständlichkeit nehmen, das fand ich für Hal richtig, da er, obwohl – oder vielleicht weil – er Spitzensportler ist, ein gestörtes Verhältnis zu seinem Körper hat. Auf den Dingern zu gehen ist richtig gefährlich, da muss ich in jedem Moment hellwach sein. Der Neopren- Anzug fiel auch weg, zurück blieb aber ein Kostüm, das wie eine zweite Haut die reale Haut bedeckt.
Sie posieren in dieser Rolle anfangs wie eine Statue vor dem Publikum, ein Denkmal, das mit der Sprache kämpft.
Ein Denkmal wollte ich nicht spielen, aber eine in sich eingesperrte Figur, das schon. Wie gesagt, ich glaube, dass Hal ohne diese Künstlichkeit seine Dringlichkeit verliert. Hal ist eine Zumutung, und das muss ich als Schauspielerin einfach aushalten. In diesem Prozess der Erfindung einer Figur, auch wenn es eine literarische Vorlage gibt, verstehe ich mich auch als Autorin. In diesem Selbstverständnis dürften SchauspielerInnen durchaus selbstbewusster werden, finde ich.
In «Lenin» spielt die Verwandlung selbst eine wichtige Rolle – im Lauf der Aufführung gleichen Sie sich mit Hilfe von Kostüm und Maske immer stärker der historischen Figur an.
Trotzdem steht am Ende kein täuschend echter Lenin da. Der eigentliche Bruch in der realistischen Ästhetik der Aufführung ist genau der Umstand, dass Lenin von einer Frau gespielt wird. Genau das, was im Film noch nicht möglich ist, weil man da so ans eigene Gesicht, Geschlecht und Alter gekettet ist, diese ganzen Äußerlichkeiten, um die es ja eigentlich nicht geht beim Spielen. Hier vollzieht sich die Verwandlung in zwei Stufen. Natürlich betrete ich gleich zu Anfang diese Figur ohne optische Veränderung. Die nächste Stufe, also das Anlegen der Maske, übte eine große Gewalt gegen mich als Schauspielerin aus. Damit wird Lenins Kraftverlust übersetzt, wenn er am Ende seines Lebens nicht mehr der sein kann, der er war. Die Gewalt, die einem der Verfall, der Verlust an Vitalität antut, die hat auf mich auch diese Maske ausgeübt. Sie hat mir das Heft aus der Hand genommen.
Wurde Ihnen mit der Maske auch die Männlichkeit aufgezwungen?
Nein, ich bleibe auch mit Glatze und Bart dezidiert eine Frau, die Lenin spielt. Ödipus habe ich sogar mit freier Brust gespielt, sehr, sehr weiblich.
Sie sind in ihrer Autorschaft eingebunden in ein Kollektiv. Stiftet das nicht gleich wieder Begrenzungen und zwingt dazu, Kompromisse zu machen?
Im Gegenteil, zumindest mit Kollegen, die ihren Beruf genauso ausüben, wie ich das versuche. Darum mache ich doch Theater, weil wir zusammen Dinge erreichen, die wir allein nie und nimmer hinkriegen würden.
Welche Rolle spielt dabei die Regie?
Ganz unterschiedlich. Thorsten zum Beispiel bereitet sich jahrelang auf etwas vor, dann will er wissen, was wir, die Schauspieler, dazu zu sagen haben. Für ihn ist das, was wir vorschlagen, das eigentliche Material, damit arbeitet er, darauf reagiert er. Er glaubt einfach, dass das, was wir spielen, komplexer ist als alles, was man sich ausdenken kann. Er stellt uns nicht im herkömmlichen Sinne Aufgaben, weil er nicht will, dass wir in die Not des Erfüllens kommen, sondern selbst die Verantwortung übernehmen. Das ist ja nicht normal. Oft sieht man Schauspielern bei der Erfüllung von Aufgaben zu, ich höre dann beim Zusehen quasi noch die Anweisungen des Regisseurs.
Haben die Schauspieler dann wenigstens einen Widerstand im Raum, mit dem sie spielen können?
Was meinen Sie mit wenigstens? Ich sehe die Aufgabe des Regisseurs nicht darin, uns SchauspielerInnen Widerstand zu leisten, weil wir ohne ihn träge in die Irre gehen würden. Der Widerstand entsteht durch die Inhalte. Wir kämpfen ja nicht gegeneinander, sondern miteinander um die beste künstlerische Lösung. Das ist anstrengend genug. Jeder Schauspieler hat ja auch das Ganze im Blick. So habe ich es auch gerade bei den Proben zu Herbert Fritschs «Champignol» erlebt: Das Ensemble macht sich untereinander Vorschläge, jeder versucht jeden zu fördern. Was die Bühne angeht, war bei «Unendlicher Spaß» nur die Stahlwand gesetzt, alles andere haben wir während der Proben ausprobiert; dabei wird dann auch vieles verworfen, weil es nicht funktioniert. Es ist eine Bühne, durch die man uns alle besser sieht als ohne, und die Welten entstehen dann allein durch das Spiel.
«Unendlicher Spaß» setzt sich aus vielen Soli zusammen – gibt es da überhaupt so viele Momente des gemeinsamen Spiels?
Das liegt an der Struktur des Romans. Die Kommunikation zwischen den Figuren ist gestört, daher monologisieren sie aufs Schmerzhafteste aneinander vorbei. Es handelt sich also nicht eigentlich um Monologszenen, sondern um verhinderte Begegnungen, und die spielen wir eben. Hinzu kommt, das Thorsten eigentlich den Nebendarsteller abgeschafft hat, dass also alle Mitspieler Protagonisten sind. Das finde ich eine gute Sache.
Muss man für diese Art des Aussitzens nicht wahnsinnig viel Zeit mitbringen? Funktioniert das nur im Rahmen einer freien Produktion?
So viel länger als an festen Häusern proben wir gar nicht. Allerdings proben wir – wie übrigens auch Milo Rau – in zwei Blöcken, und das hat sich unbedingt bewährt. Man probt vier Wochen, lässt es zwischendurch drei bis vier Wochen sacken, und bringt es dann in höchstens vier Wochen zur Premiere. Milo schreibt in dieser Pause aus dem in den ersten Wochen gesammelten Material das Stück. Aber auch in anderen Projekten hat sich dieser Rhythmus als sinnvoll erwiesen. Für «Unendlicher Spaß» hatten wir in der ersten Phase einen riesigen Pool von Szenen, der in der Pause noch mal durchgegangen und aussortiert werden konnte. Dafür Zeit zu haben, ist schon luxuriös; aber auch am Stadttheater möglich. Ansonsten ist das Ungewöhnliche bei Thorsten eher, dass er sich so viel Zeit nimmt, um den Stoff zu durchdringen, bevor er überhaupt anfängt zu proben – ohne dass dieses lange Brüten zu einer fixen Vorstellung davon führt, wie die Inszenierung aussehen soll. Er kennt einfach nur das Textmaterial sehr, sehr gut.
Aber haben nicht auch konkrete Vorstellungen der Regie ihre Vorteile? Und sei es, dass man gegen sie ankämpfen, sich an ihnen reiben kann?
Indem Thorsten André Jung als behinderten 18-Jährigen besetzt oder Sebastian Blomberg einen Vogel spielen lässt, der mitten im Flug an einem Herzinfarkt stirbt, zeigt sich schon eine konkrete Vorstellung davon, in welche Richtung der Abend gehen soll. Und Reibung entsteht in einer Truppe wie dieser auch so! (Lacht) Durch die Inhalte und auch durch die Mitspieler. Wenn die richtig loslegen – da muss man sich was einfallen lassen! Gemütlich ist das nicht. Aber so verschieden wir auch sind, wir schätzen uns alle immens. Und dadurch sind diese Proben extrem befördernd.
Sie haben auch mit ganz anderen Regisseuren gearbeitet und kennen auch klassischere Modelle von Regie, wo die mitgebrachten Vorstellungen sehr viel konkreter sind. Gleich ihre erste Hauptrolle haben Sie am Düsseldorfer Schauspielhaus bei Einar Schleef gespielt, 1997 als Salome.
Auch Schleef war ein Extremist. Die ziehen mich einfach an! Fritsch ist auch ein Extremist. Fritsch kommt aus der Freude, Schleef kommt aus dem Kampf. Ich kann mit beidem etwas anfangen. Schon bei Schleef habe ich erlebt, was Autorenschaft sein kann. Ich verdanke ihm unheimlich viel, weil mir durch ihn direkt nach der Schauspielschule eine komplett neue Welt aufgerissen wurde. Was ist Theater überhaupt, oder ein Text? Material! Das war auch bei Schleef nicht einfach Oscar Wilde. Meine Figur entstand eigentlich auf ein, zwei Proben. Wir haben die voll ausgestattete Probebühne gar nicht betreten. Wir sind die ganze Zeit in einem winzigen Konversationsraum geblieben, mit offenen Fenstern und Türen, damit wir auch ja alle stören – das war ihm ganz wichtig. Erst zu den Endproben auf der Bühne haben wir dieses 12-Quadratmeter-Kämmerlein verlassen.
Dabei hatte die Inszenierung ja riesige Dimensionen quer durch den Bühnen- und Zuschauerraum ...
Allerdings! Damals habe ich begriffen, dass die Erscheinung so wichtig ist. Schleef hat ja auch die Kostüme entworfen. Nachdem wir Tausende von Mark in Stoffe und Modelle gesteckt haben, trug ich am Ende das löchrige und geflickte Nachthemd vom ersten Probentag. Das teure Prachtgewand tauchte nur kurz für zehn Minuten im Mittelteil auf ... Von Schleef konnte man lernen, künstlerische Entscheidungen aus Überzeugung zu treffen, ungeachtet dessen, ob sich dabei bereits investierte Gelder oder geleistete Arbeit als umsonst erwies.
Dafür muss man aber auch eine gewisse Macht haben. Hat Sie das nicht eingeschüchtert?
Gar nicht. Ich hatte ein schwieriges Anfängerjahr, in dem mich niemand richtig besetzen wollte; ich fand einfach, ich bin dran! Dabei hatten wir gar keine Gesprächsebene. Auch wenn ich ihn besucht habe, saßen wir einander manchmal nur schweigend gegenüber, weil wir überhaupt nichts miteinander anfangen konnten. Wir konnten nur miteinander arbeiten. Das aber durchaus partnerschaftlich und nicht als Befehlsgeber und Erfüllungsgehilfin.
Herbert Fritsch, bei dem Sie gerade die untreue Madame Champignol spielen, hat vermutlich sehr konkrete Vorstellungen von dem, was seine Spieler auf der Bühne machen sollen?
Zumindest hat er sehr klare choreografische Ideen, die aber auch bei ihm erst auf der Probe entstehen. Bei Fritsch mitzuspielen, war eine Mutprobe für mich. Das ist bei mir in 20 Bühnenjahren tatsächlich noch nicht vorgekommen, dass ich mich auf die Bühne stelle, um in erster Linie die Leute zum Lachen zu bringen. Ich habe mich immer um Inhalte bemüht, durchaus und zunehmend mit Humor, aber nicht mit der anarchischen Freude, die Fritsch zu seiner Mission gemacht hat. Jetzt habe ich einen diebischen Spaß, das zu spielen. Für Herbert ist alles, was Freude macht, extrem sinnvoll – eben, weil es Freude macht.
Seit sechs Jahren sind Sie im Ensemble der Schaubühne, dessen Intendanten Thomas Ostermeier Sie noch von der Ernst Busch Schule her kennen.
Wir haben vier Mal miteinander gearbeitet, zuletzt in «Die kleinen Füchse». Birdy ist eine meiner Lieblingsfiguren, Thomas hat ihr viel Raum gegeben. Den Monolog, den Birdy an zentraler Stelle betrunken, aber hellsichtig spricht, habe ich geschrieben. «Leg mal los», meinte Thomas nur. Ich habe wochenlang improvisiert, am Ende kam ich dann darauf, dass die lebensfremde, aus der Zeit gefallene Birdy über den Triumph der Nutzlosigkeit philosophieren könnte und darüber, was Materie eigentlich ist und ob sie überhaupt existiert. Die Verliererin Birdy ist einen Moment lang allen überlegen, das fand ich schön.
Sie sind aber auch nicht zimperlich. Bei ihrem «Mitleid»-Monolog etwa pinkeln Sie auf die Bühne, in «Lulu» spielten Sie die nach Lulu schmachtende Gräfin Gschwitz, die sich in fast schon masochistischer Selbsterniedrigung an den Brustwarzen zerrt. Sind das dann Ihre Ideen, oder die der Regisseure?
(lacht) Oh mein Gott! Aber: Sie haben es sich gemerkt! So etwas hätte Thomas nicht von mir verlangt, das kam von mir. Ich habe nach etwas gesucht, das das totale Verfallensein dieser Frau an Lulu ausdrückt. Für Lulu ist sie bereit, mit einem Mann zu schlafen – obwohl sie das widerwärtig findet und auch gar keine Vorstellung davon hat, worauf Männer überhaupt stehen könnten. Dafür habe ich so etwas wie einen Moment, eine Geste der größtmöglichen Erniedrigung gesucht, die pornografisch und außerdem auch auf eine schreckliche Weise komisch ist. Es ist aber nicht so, dass mich so etwas nichts kostet. Und ich möchte auch von mir, dass es mich etwas kostet! – Auf das Pinkeln in «Maschinengewehr» wäre ich übrigens nicht selbst gekommen. Das war Milos Idee, eine Szene, die er mal geträumt hat. Da musste ich mich schon sehr überwinden. Aber ich fands richtig. Diese Figur ist angeschossen durch die ihr dämmernde Erkenntnis, sie ist leck. Aus der kann es nur rausfließen.
Pinkeln Sie wirklich, oder ist das ein Trick?
Klar ist das echt! Ich trinke vor und während der Vorstellung einen Liter, und dann geht das auf Stichwort. Solche Sachen – Küsse, Schläge – kann man schwer faken, es hat einfach mehr Kraft, wenn es mich eben wirklich etwas kostet.
Dieses Gefühl, dass etwas richtig oder zwingend ist, wie entsteht das? Regisseur oder Regisseurin und auch die Zuschauer haben ja eine andere Perspektive auf die Bühne als Sie. Lernt man als Schauspielerin durch die Erfahrung irgendwann, sich diese Sichtweise vorzustellen?
Ich muss, was ich tue und sage, schon über den Kopf verstehen und richtig finden. Während der Probenzeit habe ich auch immer wieder mal das Ganze im Blick. Wenn ich spiele, kann ich das aber glücklicherweise ausschalten. Da ist, wenn’s gut läuft, nur reine Gegenwart. Bis auf das Gespür fürs Publikum. Da krieg ich alles mit, jeden Räusperer, jeden Huster. Diese Tatsache ist zum Beispiel in dem Prolog von «Mitleid» zu meinem Figurentext geworden.
Sie haben im Theater hauptsächlich mit männlichen Regisseuren gearbeitet. Anders im Film, wo sie unter anderem in Angela Schanelecs «Mein langsames Leben» (2001) mitgespielt haben, in «Lore» (2012) von Cate Shortland, in «Traumland» (2013) von Petra Volpe und «Unter der Haut» (2015) von Claudia Lorenz. Ist die Kinobranche weiter als das Theater?
Fast die Hälfte meiner Filme habe ich mit Frauen gemacht. Schanelec zum Beispiel ist auch eine Extremistin, die jedes Wort ganz genau setzt und einen sehr radikalen, aber auch sehr harten Weg geht. Solche Positionen bewundere ich. Im Theater habe ich zum Beispiel mit Katie Mitchell und Christina Paulhofer gearbeitet, dann noch zwei, drei andere. Ja, viele waren es nicht. Aber das sind die bekannten strukturellen Probleme, die ja nun glücklicherweise in Angriff genommen werden. Ich fände es aber wichtig, auch von der künstlerischen Seite her zu argumentieren. Die Hälfte der Menschen sind Frauen, und die kommen nicht in angemessener Weise vor. Nicht nur in den Strukturen, sondern auch in der Literatur, in den konkreten Texten; das heißt, da verschließen wir die Augen vor der Wirklichkeit, das kann ja der Kunst nicht guttun. Da wird Potenzial verschwendet. Ich habe jetzt öfter Männer gespielt – Hal, Ödipus, Lenin – das ist schon okay, aber gegen ähnlich machtvolle, starke, eigenwillige Frauenfiguren hätte ich nichts einzuwenden. Worauf ich hinaus will: Meine Muttersprache ist ja Romanisch, und in vielen romanischen Sprachen ist Mensch und Mann dasselbe Wort. So tief sitzt das. Wenn man eine allgemeine Geschichte erzählen will, wird sie von einem Mann gespielt. In dem Moment, wo eine Frau im Zentrum steht, wird es ein Frauenstück. Das ist ein Riesenproblem, das mich stört, seit ich denken kann. Und wahrscheinlich wird es selbst dann noch eine ganze Weile bestehen, wenn die Zahl der Chefinnen mit denen der Chefs gleichauf ist.
Haben Sie Männer gespielt, weil es keine guten Frauenrollen gab?
Ich habe diese Rollen gespielt, weil sie mich interessiert haben. Aber ich habe auch vorher nicht groß gelitten, da ich mir die Aufgaben einfach selbst gesucht habe. Zum Beispiel auch im Musiktheater, vor vier Jahren als Elsa in Salvatore Sciarrinos «Lohengrin» in der Werkstatt der Staatsoper. Die Partitur ist ein Dialog einer Frau mit dem Orchester. Die Musik Sciarrinos spielt mit den Grenzen der Hörbarkeit und stellt sämtliche Hörgewohnheiten in Frage. Da stand die Gefahr, dass ich mich unendlich blamiere, im Raum – wie auch bei «Lenin», bei «Mitleid». Ich versuche sehr bewusst, mich in Gefilde zu begeben, die dieses Risiko mit sich bringen.
Könnte man sagen, Sie suchen als sehr kontrollierte Person den Kontrollverlust?
Privat bin ich eher eine Chaotin, aber als Schauspielerin muss ich natürlich mein Handwerk beherrschen, damit ich spielen kann, was ich spielen will. Wie die Sportlerin oder der Pianist, die einfach diszipliniert üben müssen, damit sie sich beim Konzert, beim Wettkampf nicht mehr mit Technik beschäftigen müssen. Das ist das Paradox: Ich versuche die Kontrolle auf kontrollierte Weise abzugeben.
Sie waren zehn Jahre im Ensemble, davon sechs an der Berliner Schaubühne, und zwölf Jahre frei: Konnten Sie sich immer aussuchen, was Sie machen und mit wem Sie arbeiten wollten?
Ja – allerdings um den Preis, dass es zwischendurch echte Durststrecken gab. Auch materiell. Diese Phasen waren nicht lustig, aber wenn ich danach wieder aufgetreten bin, war es sehr wertvoll zu wissen, dass das nicht selbstverständlich ist. «Mach, als wär es das letzte Mal» – in diesem Bewusstsein spielt und lebt man anders.
Keine MeToo-Fälle, keine Kompromisse, die Sie bereuen?
Sexuelle Belästigung habe ich nicht erlebt; dass Leute ihre Macht missbraucht haben, oder es zumindest versucht haben, leider schon. Kompromisse habe ich natürlich auch gemacht, wie auch nicht, aber die gehen auf meine Kappe.
Das Gespräch führte Eva Behrendt
Ursina Lardi, geboren 1970 in Samedan/Graubünden, studierte bis 1996 an der Berliner Ernst-Busch-Hochschule Schauspiel. Nach Engagements u.a. am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Schauspiel Frankfurt arbeitete sie wiederholt am Hamburger Schauspielhaus und an der Berliner Schaubühne, wo sie seit 2012 festes Ensemblemitglied ist. Regelmäßig hat sie außerdem in Inszenierungen ihres Mannes Thorsten Lensing gespielt, u.a. als Catherina von Siena, als Ranjewskaja (in Tschechows «Kirschgarten») und hier im Bild als Hal Incandenza (nach David Foster Wallace «Unendlicher Spaß») in den Sophiensælen Berlin 2018