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Ein bisschen in Mode

Bejun Mehta über Countertenöre

Seit den Zeiten Alfred Dellers hat sich viel getan für Countertenöre. Aber noch immer prägen Vorurteile, Missverständnisse und mangelnde Sachkenntnis die öffentliche Wahrnehmung.

Herr Mehta, Sie sind als Sänger seit fast 20 Jahren im Geschäft, damit gehören Sie inzwischen zu den dienstältesten Countertenören. Wie geht es Ihnen momentan?
Die Stimme läuft besser denn je, und meine Körperspannung ist in sehr guter Balance. Dadurch kann ich übrigens auch besser entspannen. Und durch Entspannung kommen mehr Farben in die Interpretation und in die Stimme selbst.

Dabei heißt es ja oft, Countertenöre könnten nicht so lange singen.
Es ist ein Vorurteil, dass Countertenöre wie Balletttänzer sind: Mit 40 ist es aus. Das ist bei manchen so gewesen, weil sie keine gute Technik hatten, muss aber nicht so sein. Ich bin doch ein Beispiel dafür, dass die Stimme bleiben kann und soll. Es gibt aber sehr wohl das Problem, dass die Karrieren von Sängern allgemein heute immer kürzer werden. Das ist wahnsinnig schade. Denn nur durch Erfahrung gewinnt man an Tiefe.

Meinen Sie emotionale Tiefe?
Damit auch zartere Farben wirklich gut klingen, muss man die Luft wie von selbst hineinströmen lassen. Man darf nicht eng werden. Das ist aber nicht so einfach, besonders wenn einem dabei mehr als 2000 Leute zusehen. Es geht nur mit viel Erfahrung. Deshalb gewinnt die Stimme mit dem Alter an Farben, und man kann tiefer in die eigene Seele hineinlauschen.

Sie haben als Bariton begonnen. War der Umweg auch damaligen Umständen geschuldet?
Gesangslehrer kamen damals nie auf die Idee: Der ist ein Countertenor. Dabei lag es bei mir auf der Hand, nachdem ich schon als Knabensopran zehn Jahre lang mit einer Stimme auf dem Markt präsent war, die deutlich kräftiger war als die eines Kindes normalerweise. Es ist genau die Stimme, die ich bis heute benutze, auch wenn sie mit der Pubertät ein wenig nach unten gerutscht ist.

Haben es Countertenöre heute leichter?
In der Ausbildung schon. Sie brauchen solche Umwege wie ich nicht. Der Umweg, den viele jetzt machen, besteht darin, dass sie behaupten, Countertenöre zu sein, ohne es wirklich zu sein. Sie verwechseln den Countertenor mit einem Falsettisten, obwohl es nicht dasselbe ist.

Das müssen Sie jetzt erklären …
Eine Sopranistin singt im Wesentlichen mit der Kopfstimme, also nicht im selben Register, in dem sie spricht. Exakt dasselbe machen ich und viele andere Countertenöre auch. Aber nicht alle. Ich kann überhaupt nicht als Bariton singen, meine Stimme trägt in diesem Bereich nicht und ermüdet sofort. Es gibt aber umgekehrt Falsettisten, die eigentlich Baritone oder Tenöre sind. Sie verstärken einfach ein wenig das Falsett. Diese Stimmen sind kleiner, farbarmer und halten nicht so lange. Viele Hörer können das aber nicht unterscheiden, nicht einmal in der Branche. So entsteht dann das Vorurteil, dass Counterstimmen generell zerbrechlicher sind oder nicht so lange halten wie andere Stimmen.

Warum sollte jemand Countertenor werden wollen, der eigentlich nicht die Begabung dafür hat?
Der Countergesang ist ein bisschen in Mode. Es gibt immer noch einen Hauch von Zirkus um diese Branche, der manche anzieht. Ich dagegen finde den Zirkus höchst widerlich. Denn er beruht auf der Idee, dass wir am Ende nicht so echt sind wie die anderen Stimmfächer.

Sie meinen die Sache mit dem Mann, der mit einer hohen Stimme singt?
Man muss sich nur ansehen, wie Journalisten über Countertenöre schreiben, auch da, wo sie es gut meinen. Sie werden ständig miteinander verglichen. Das kommt in anderen Stimmfächern viel seltener vor. Kürzlich ist meine neue CD «Cantata» erschienen. Gleich die erste Kritik, die ich las, bescheinigte mir, meine Stimme sei offener und freier als die aller anderen Countertenöre. Ich bin natürlich dankbar für das Lob. Aber ich finde, wenn Countertenöre als Künstler wirklich wahrgenommen werden, sollte es eher um das individuelle Schaffen gehen.

Hängen diese Vergleiche nicht auch damit zusammen, dass Countertenöre häufig in Barockopern auftreten, wo das Element des sängerischen Hahnenkampfs besonders ausgeprägt ist?
Möglich, aber Barockdirigenten werden ja auch nicht in der gleichen Liga gehandelt wie die «richtigen» Dirigenten mit dem Schwerpunkt im 19. Jahrhundert. Natürlich können manche der bisherigen Barockdirigenten körperlich nicht richtig dirigieren, aber Dirigieren bedeutet auch mehr als nur reine Schlagtechnik. Zum Beispiel braucht es für Barockmusik mehr Hintergrundwissen und Fantasie. Ich habe selbst gerade wieder mit dem Dirigieren begonnen, nicht hauptsächlich Barockrepertoire, sondern vor allem Mozart und Haydn. Da werde ich ständig darauf angesprochen, ich hätte doch zuvor «nur» Barockmusik gemacht.

Sie waren unter anderem Gastdirigent bei der Dresdner Philharmonie, im kommenden Jahr stehen die Kammerakademie Potsdam und das hr-Sinfonieorchester auf dem Dirigierplan.
Ich habe schon als Student ein eigenes kleines Orchester gegründet. Daneben habe ich Cello studiert und das ganze romantische Repertoire für dieses Instrument gespielt, unter anderem eine Saison lang im San Francisco Symphony Orchestra. Aber damals habe ich mich entschieden, wieder Sänger zu werden, weil man dafür jung sein muss. Ich habe mir überlegt, dass ich zum Dirigieren zurückkehren kann, wenn die Zeit reif dafür ist. Jetzt ist sie es.

Wenn Sänger dirigieren oder inszenieren, ist das oft eine Form der Altersversicherung.
(lacht) Glauben Sie mir: Ich bin mit meinem Geld sehr gut umgegangen, deswegen muss ich das echt nicht machen. Außerdem will ich nie in Pension gehen – ich liebe die Musik zu sehr! Für mich ist es einfach ein natürlicher Schritt. Es fühlt sich wie eine Rückkehr in ein Repertoire an, das ich seit 20 Jahren vernachlässigt habe. Ich sehne mich nach Brahms und Rachmaninow.

Bedauern Sie, dass es für Sie als Sänger in dieser Epoche nichts zu tun gibt?
Es gibt dort immerhin ein gewaltiges Liedrepertoire. Nur: Wenn ich Lieder singe, geht es in den Kritiken am Ende immer noch eher um die Frage, ob ein Counter überhaupt Lieder singen sollte, und weniger um die Inhalte und Interpretationen. Deshalb mache ich das nicht so oft.

Immerhin schreiben zeitgenössische Komponisten für Countertenöre. Für Sie selbst zum Beispiel haben George Benjamin oder Toshio Hosokawa ganze Opernpartien entworfen.
Und ich bin sehr dankbar dafür! Aber selbst im neueren Opernrepertoire wird die Rolle des Counters häufig als Engel, als unwirkliche, überirdische Gestalt betont. Es gibt noch immer wenige Rollen, in der ein Counter einen ganz alltäglichen Charakter darstellen dürfte, und unter diesen gar keine, wo die Counterpartie die Oper trägt.

Ist es so schlimm, der Engel vom Dienst zu sein? Bässe müssen ja auch oft Väter singen, und die Soprane sind im 19. Jahrhundert fast immer hingebungsvoll und leidend. 
Einverstanden, aber ihre Rollen haben immer eine Geschichte. Sie bekommen die Gelegenheit, einen Einblick in die Seele ihrer Figur zu geben. Der Counter kommt dagegen meistens von außen, er bleibt geschichtslos.

Dennoch hat sich der Umgang mit dem Fach normalisiert. Bei Barockopern erwartet das Publikum inzwischen geradezu, einen oder mehrere Countertenöre zu hören.
Das stimmt, aber lassen Sie mich dazu eine Geschichte erzählen: Ich sang mich einmal in der Garderobe eines großen deutschen Opernhauses ein, als der Intendant an die Tür klopfte. Nachdem ich geöffnet hatte, imitierte er meine letzte Übung mit seinem lächerlichen, widerlich klingenden Falsett. Er fand das lustig. Glauben Sie, bei einem Weltklassetenor hätte er das auch getan? Unvorstellbar! Countertenor-Gesang mag beim Publikum etwas normalisiert worden sein, aber es gibt immer noch viel zu tun!

Das Gespräch führte Michael Stallknecht