Engel in Berlin
Ute Mahler fotografiert die Ballerina Jutta Deutschland
Ein Bahnsteig. Eine Ballerina. Sie steht auf Spitze, leicht gestützt auf eine Bank, schaut entrückt aus dem Bild. Auf der Bank sitzt teilnahmslos eine Dame mit Gepäck. Die Ballerina scheint unsichtbar. «Es ist früh am Morgen in Ost-Berlin», sagt Ute Mahler, eine der interessantesten Fotografinnen der letzten vierzig Jahre – stilprägend und sozial engagiert.
Diese Serie ist im Frühsommer 1980 für die «Sibylle» entstanden, Zeitschrift für Mode und Kultur, für die Mahler viele Jahre lang gearbeitet hat. Sie war vielleicht eine Art ostdeutsche «Vogue», eine Institution in Sachen Geschmack, Mode und Kunst. Aber sie ging auch subtil darüber hinaus. «In jeder Ausgabe gab es Porträts von Frauen in ihren Berufen, Künstlerinnen wurden vorgestellt … Es ging den Redakteuren darum, den Leserinnen Anregungen zu geben, Mut zu machen zur Individualität.
Mode wurde verstanden als Unterstützung der Persönlichkeit. Als Fluchtmöglichkeit, ohne fliehen zu müssen. Auch die Schnittmuster im Heft waren beliebt, nach diesen Vorbildern haben sich Frauen Kleider selber genäht … Sicher war die Redaktion einer gewissen Kontrolle ausgesetzt, das Heft wurde den Zensurbehörden vorgelegt. Aber irgendwie rutschten wir durch. So frei wie ‹Sibylle› war, denke ich, keine andere DDR-Zeitschrift. Sie mag eine Modezeitschrift gewesen sein, unpolitisch war sie nie.» Eine Zeitschrift mit viel Subtext und – ohne Werbung.
Auch künstlerisch gibt es große Freiheiten: «Wir Fotografen haben gemeinsam mit den Redakteuren Ideen entwickelt und realisiert und großen Einfluss auf die Auswahl und Präsentation der Bilder gehabt.» Die Idee für diese Serie (erschienen in «Sibylle», 2/1981) stammt von Thomas Greis, damals Moderedakteur: Ein Engel fällt eines Morgens um fünf Uhr in Berlin auf die Erde. Der Engel ist Jutta Deutschland, 22 Jahre alt und «veritable Ballerina» an der Komischen Oper. Nur vier Jahre später wird sie zur Primaballerina ernannt. Künstlerischer Leiter des Tanz-Ensembles ist Tom Schilling, ganz sicher der kreativste und ästhetisch prägendste Choreograf des Landes, international geachtet und verehrt.
An drei Morgen wird fotografiert, mit natürlichem Licht (und natürlich analoger Kamera). «Die Straßen sind leer, es ist eine sehr spezielle Atmosphäre. Jutta schwebt wie eine Außerirdische auf die Erde – ich mache das Foto, und sie schwebt wieder weg. Diese Idee hatten wir im Kopf. Es war sehr ein schönes Erlebnis für uns. Auch zu sehen, wie Menschen in dieser Situation, zu dieser Zeit auf eine Tänzerin reagieren. Zum Beispiel am S-Bahnhof Prenzlauer Allee. Die Leute fahren zur Arbeit, müde. Der Zug fährt ein, manche schauen aus dem Wagen und sind völlig verblüfft – als wenn sie ein Traumbild sehen. Es war eine sehr unwirkliche Situation, ein magischer Moment.»
Die Kleider werden in der Redaktion entworfen und genäht. Beim Shooting sind es schließlich nur die drei: Fotografin, Ballerina und Redakteur. Der morgendliche Zauber ist nahezu körperlich in den Fotografien spürbar. Die feingliedrige Tänzerin ist konzentriert, ganz bei sich und zugleich ganz fremd. Unwirklich sind auch die Orte: nicht nur der saubere menschenleere Bahnsteig. Mahler: «Sieht man sich das Foto in der Stargarder Straße an – heute könnte man so ein Bild nicht mehr machen, die Straße ist jetzt voller Bäume, sie wurden ja nach der Wende gepflanzt.» Ein magischer Moment. Eine untergegangene Welt. In jeder Hinsicht.
Marina Dafova
Ute Mahler (geb. 1949), Fotografin und Gründungsmitglied der Fotoagentur Ostkreuz, ist Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Dozentin an der Ostkreuzschule. «Sibylle», 1956 gegründet von Sibylle Boden-Gerstner, erschien bis 1995 sechsmal im Jahr.
Als Katalog erschienen: «Sibylle – Zeitschrift für Mode und Kultur», Hg. Ute Mahler + Kunsthalle Rostock, 336 S., ca. 570 Abb., 39,80 €, Stuttgart 2016.
Noch bis 5. Januar 2019 in der Galerie Springer Berlin: Ute und Werner Mahler, «Essenzen – Fotografien aus 4 Dekaden». www.galeriespringer.de