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Rezensionen 12.10.

Schönberg: «Moses und Aron» in Dresden

Wieder am 15. Oktober

Das Schlusswort haben die Streicher. Ein Ton, der wie verlöschendes Feuer glimmt, ein letztes Mal Licht spendet, bevor es dunkel wird und still. Ein sehrend schwingender Strahl, er trifft ins Mark. Was kann jetzt noch kommen? Niemand weiß es. Auch Schönberg wusste es nicht. Mit diesem im Offenen verhallenden Ton endet «Moses und Aron», sein unvollendetes Opernoratorium. 1932, ein Jahr vor Hitlers Machtantritt und der erzwungenen Emigration nach Amerika, hatte er den zweiten der drei geplanten Akte abgeschlossen. Dabei sollte es bleiben, die finale Szene wurde nicht mehr komponiert. Der Bruderstreit über den rechten Weg des Volkes Israel aus ägyptischer Gefangenschaft, über die Bedingungen seiner Neugeburt, der Kampf um die leicht entzündbaren Herzen der namenlosen Vielen, er bricht ab. Mit diesem unglaublichen, heißkalt zitternden Klang, der wie eine Frage sticht, die man nie wieder vergisst.

Die Dresdner Staatskapelle spielt das auf der Stuhlkante, ohne die Sicherheit des Vertrauten. Zum ersten Mal hat sie mit Alan Gilbert, dem zur Elbphilharmonie nach Hamburg wechselnden Ex-Chef der New Yorker Philharmoniker, gearbeitet. Und der Neue hat offenbar alle Skepsis gegenüber den ungewohnten Anforderungen der Partitur mit geduldigem Charme und ruhiger Kompetenz zu zerstreuen gewusst. In Dresden ist das Stück seit 1975 nicht mehr aufgeführt worden – man kann also durchaus davon sprechen, dass Peter Theiler, der neue Intendant der Semperoper, gleich zum Auftakt seiner ersten Spielzeit die Musiker auf unbekanntes Terrain lockte. Konzentriert, mit emphatischer Spannung lassen sie sich auf die Expedition ein, hier und da noch etwas unsicher, doch im Ganzen staunenswert trittfest. Die rhythmische Motorik pocht präzise, die verzweigten Strukturen treten klar hervor, alles hat einen Sog von natürlich-sinnlicher Kraft. Dass die Musik aus einem abstrakten Konstrukt, einer einzigen Reihe von zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen abgeleitet ist, hört man ihrer konkreten Gestaltung kaum an: einem nicht nur in den Ausdrucksextremen (etwa beim Tanz um das Goldene Kalb) mitreißenden Klangstrom von unmittelbar physischer Präsenz.

Für die Sprechpartie des Moses hat Theiler den rollenerfahrenen John Tomlinson engagiert, eine gute Wahl: Tomlinson konturiert den Typus des gesetzestreuen, mit seiner Sprachnot ringenden Propheten in allen Schattierungen, absolut textverständlich. Das Unvermögen, die Botschaft vom «einzigen, ewigen, allgegenwärtigen, unsichtbaren und allgegenwärtigen Gott» ohne Bilder, allein durch Stimme und Wort zu verbreiten, gewinnt in seiner Darstellung die Aura einer verzweifelten, vielfarbig modulierten, tiefenscharfen Deklamation, die nie in heiliges Pathos entgleitet. Aron, in Dresden weniger das alter ego Moses’ als dessen robuster Gegenspieler, ist mit einem Wagner-gestählten Heldentenor besetzt: Lance Ryan verleiht der Figur des rhetorisch versierten Verführers eine auf Wirkung kalkulierte (allerdings nicht immer höhensichere) Kantabilität. Ein geschäftiger Menschenfänger, der in neutralem Business-Outfit (Kostüme: Ingo Krügler) mit den diffusen Erwartungen der namenlosen Menge spielt. In den kleineren Rollen kann das Haus die Stärken seines (jungen) Ensembles und Chores demonstrieren: Jungfrauen und Jünglinge, Älteste und Solostimmen – diese Aufgaben werden weitgehend aus eigener Kraft bewältigt, fokussiert in der individuellen Profilierung wie im wogenden Kollektiv.

Die raunende, rasende, nach Orientierung und Halt dürstende Masse bildet das Zentrum, um das in diesem Stück alles kreist. Schönberg hatte, als er die biblische Geschichte im selbstverfassten Libretto adaptierte, auch die Erfahrung persönlicher Bedrohung durch ein von deutschnational-antisemitischen, xenophoben Ressentiments vergiftetes Klima zu Beginn der 1930er Jahre vor Augen. Calixto Bieito spielt in seiner Inszenierung auf solche Zusammenhänge an: Er führt eine bieder-anonyme Jedermann-Gesellschaft unserer Zeit vor, die jederzeit bereit scheint, sich den Einflüsterungen eines Führers zu unterwerfen. Eines charismatischen Redners wie Aron, der mit hypnotischer Energie eine ihm in zuckender Trance ergebene Gefolgschaft hinter sich zu scharen vermag. Freilich bleibt sie unberechenbar, kann im Nu zu einem Mob mutieren, der nicht nur gegen das Neue, Andere, Fremde wütet, sondern auch dem eben noch vergötterten Guru zürnt. Im leeren, weiß getünchten, nach hinten zu einem schwarzen Horizont ansteigenden Bretterverschlag, den Rebecca Ringst auf die Bühne gebaut hat, spielt sich ein Drama von verstörender Aktualität ab. Der in einer Orgie kulminierende Götzendienst, er gilt hier den neuen Göttern: einem an Eugenik erinnernden Kult um biotechnisch optimierte Körper und der freiwilligen Auslieferung an die flimmernd rauschenden Versprechen einer alles gelebte Leben absorbierenden Digitalwirtschaft (Projektionen: Sarah Derendinger).

«Moses und Aron» in Dresden – das ist nicht nur ein künstlerisch-programmatisches Signal; es ist auch ein Kommentar zu den Verwerfungen der Gegenwart. Dass Christian Thielemann darauf verzichtet hat, diesen Aufbruch als Chef der Staatskapelle selbst mitzugestalten, ist kaum zu begreifen. Er kennt das Stück, vor bald 20 Jahren hat er es als GMD der Deutschen Oper Berlin dirigiert – damals führte Götz Friedrich Regie. Statt Strauss’ «Ariadne auf Naxos», die Thielemann im Dezember betreut, Schönbergs opus summum – es wäre ein Statement gewesen.

Albrecht Thiemann

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