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Rezensionen

Oper, Schauspiel, tanz #1

6.10.: Stuttgart, Freiburg, Berlin

Foto: A. T. Schaefer

Oper: Tschaikowsky «Pique Dame» an der Staatsoper Stuttgart

Wieder am 13., 16., 25., 31. Oktober 2017

Es ist Nacht über Sankt Petersburg. Unheilvolle Nacht, tonartenlos zunächst. Nur noch jene verlorenen Seelen, denen die Hoffnung auf ein besseres Leben längst abhanden gekommen ist, treiben sich auf den Straßen herum. Unter ihnen die einstige «moskowitische Venus». Wo früher der Lippenstift gezückt wurde, geht der Griff nun zum Flachmann; schmählicher Trost einer verblühten Schönheit. Um sie herum andere Alte, die einen mit ihren Habseligkeiten vollgestopften Einkaufswagen auf Anna Viebrocks labyrinthisch verschlungene Hintertreppendrehbühne schieben. Dürftiger ist Dasein kaum denkbar, hier wird es zum Menetekel für die alles entscheidende Begegnung zweier aussichtslos aneinandergeketteter Menschen.

Es ist das Treffen der Welterschütterung. Die Paarung gescheiterter Utopien. Aber sie ist ganz anders, als wir sie kennen. Wie magisch angezogen von der geheimnisvoll-kapriziösen Aura dieser Frau (Helene Schneiderman), von der Bezauberung, die ihr «Bild» in ihm auslöst, vielleicht auch unfähig, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, lässt sich German schon im g-Moll-Teil des dunklen Duetts, während er noch auf die Gewissheit der drei Karten drängt, auf ein amouröses Getändel ein, das von Sekunde zu Sekunde dichter, unglaublicher, entgrenzter wird. Bis die Körper sich schließlich behutsam wollüstig ineinanderschlingen, Arme, Beine, Lippen, Unterleiber, bis zur letzten Zuckung. Absurde, hypersentimentale Konstellation. Doch gerade deswegen dazu angetan, uns zu berühren.

Zum Stück, zu seinem Geist, passt die Idee. Weil sie ein Gegenbild kreiert. Denn sonst ist, nicht zuvor und nicht danach, von Liebe weder etwas zu sehen noch zu spüren. Jossi Wieler und Sergio Morabito verlegen Tschaikowskys Musikdrama mit dramaturgischer Finesse und punktgenauer Partiturlektüre in die realkapitalistisch gewendete Sowjetgesellschaft. Am Ende des dritten Bildes etwa, wenn im Libretto Zarin Katharina gehuldigt wird, tritt ein spärlich bekleidetes Tabledance-Girl auf.

Es gilt das Recht der Stärkeren. Wer Schwäche zeigt, wird entsorgt, wer sich nicht an die Regeln hält, geht unter. Und mag der einst schmucke, nun nur noch schäbige Palazzo sich drehen, wie er will, das Leben in diesem Russland ist für die Ärmsten der Armen längst Synonym für Stillstand – was gerade die rustikalen, vom Stuttgarter Chor stimmlich wie darstellerisch wunderbar ausagierten Massenszenen mit ihrer ekstatischen Befeuerung in dialektischer Volte unterstreichen.

Noch vor dem ersten Ton sehen wir Lisa im Fenster ihrer Wohnung in Verhandlungen mit einem Kunden (es ist, im Schattenriss zu erkennen, «Fürst» Jeletzki), mit dem sie bald, während mit Aplomb und sattromantischen, schicksalsbeschwerten Streicherklängen die h-Moll-Introduktion anhebt, handelseinig wird. Dieses Joch wird sie nicht mehr los. Auch German behandelt sie als das, was sie ist: eine abhängige Sexarbeiterin; er folgt damit aber nur einer «guten» (literarischen) Tradition: Schon der anonyme «Autor» von Dostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Kellerloch» trat seine Lisa erbarmungslos in den Schmutz.

Habituell erinnert Erin Caves, dessen stimmliche Muskelmasse so ganz zu seiner viril-kämpferischen Ausstrahlung passt, an einen anderen Helden dieses Autors: Raskolnikows Nervenfieber ist auch Germans, dessen aufrührerisch-zerrüttete Seele ihm wesensverwandt, das Teppichmesser in seiner Hand virulente Bedrohung, zumal für Lisa. Während ihres ersten Rendezvous, eines Moderato agitato, das allein wegen seiner Tonart d-Moll als düstere Vorahnung kenntlich wird, lässt er die Klinge von ihren Füßen über ihr (äußerst knappes, mit Katzen bedrucktes) Kleid bis hinauf zur Kehle gleiten, gleichsam den gesamten Leib der Leibeigenen ritzend.

Rebecca von Lipinski, die in Stuttgart schon die Tatjana gesungen hat, geht nicht nur in dieser atemlosen Szene bis an die Grenzen des Aushaltbaren. Im Kollektiv der Prostituierten, die tagein, tagaus um die Häuser streichen, ist sie das schwächste Glied. Und wird entsprechend gedemütigt. Polina, Anführerin der Gemeinen – Stine Marie Fischer, hier blondes Biest, gibt späterhin, im Intermezzo, an der Seite der ins Komisch-Surreale gezerrten Mascha, mit hinreißender Spiellust den Schäfer Daphnis –, entreißt ihr Handtasche und Stofftier, verhöhnt sie in ihrem eben nur scheinbar lichten es-Moll-Lied, das bereits die Schlusstonart der Oper antizipiert; die «Gouvernante» stellt derweil ihre Mädels in Reih und Glied auf. Der Straßenstrich als militärische Formation.

Raue Sitten und Rudelordnung dominieren auch die Männerwelt. Tomski ist der Anführer eines mächtigen Häufleins gestrandeter Gestalten, der Einzige, der einen Anzug trägt. Seine Untergebenen Tschekalinski, Surin, Tschaplitzki und Narumov geben die Hofnarren respektive Fieslinge, die sich die Hände dreckig machen, wenn es darum geht, German zu terrorisieren (wofür sich dieser im letzten Akt dann zu rächen weiß). Sie alle spielen sich das Leben aus dem Leib, um wenigstens etwas zu spüren, um der Sinnlosigkeit ihres Soseins (die ihnen durchaus bewusst ist) zu entfliehen, sie zu sublimieren.

«Fürst» Jeletzki ist, nicht nur seiner Geldmacht wegen, in dieser Welt ein Außenseiter. Grauer Anzug, Melone, strengverspannter Gesichtsausdruck, das nähert sich – obschon Shigeo Ishinos Bass von erlesener Würde ist – rollentechnisch der Karikatur an. Und wird vollends zu ihr, wenn er, in bester Absicht (und um ihr, con grandezza, seine Liebeserklärung «vorzulesen») zu Lisa hintritt, dabei aber eine Katzenmaske trägt, die verblüffend Lisas Stofftier ähnelt. Selbst im finalen Moment wird dieser Mann, den Geld und Stand weit mehr beflügeln als Germans Gefühlsglut, kein Sieger sein. Das Volk der dosenbiertrunkenen, kartenspielenden Männer nimmt ihn kaum zur Kenntnis.

Des Antihelden Schicksal hingegen macht sie betroffen – erst im abschließenden Choral, dann im stummen Epilog. Und nicht nur sie. Die Gräfin hat sich erholt, ihr Liebestod war vorgetäuscht, eine Fata morgana;nun steht sie vor ihm, der sein Schicksal in die Hand nahm, um es selbstverschuldet aus den Händen gleiten zu lassen, schiebt ihn in jene geheimnisvolle Schleuse ihres Windfangs, dem sie zuvor, nicht selten nackt unter teurem Pelz, stets entstieg, letzter Zufluchtsort des irren Deutschen. Es ist dieser zweite, «wahre» Liebestod, der Wielers, Morabitos und Viebrocks aus dem Geist Dostojewskis entwickelte Lesart zu einer bedeutenden, tief empfundenen, humanen Parabel werden lässt. Weil sie uns die Augen öffnet für die Brutalität einer Welt, in der nur noch Platz für Alphatiere ist. Und weil sie, ganz am Ende, diesen zarten Funken Menschlichkeit entzündet.

Jürgen Otten

www.oper-stuttgart.de

↓ Rezension 2

Foto: André Le Corre

Tanz: Sharon Eyal / Gai Behar «Love Chapter 2»

Wieder Freiburg, Theater, 28., 29. Oktober 2017

Das kommt nicht oft vor: 60 Minuten zeitgenössischer Tanz, und am Ende erhebt sich das Publikum geschlossen, pfeift und johlt wie bei einem Rockkonzert. Und das gleich zur Uraufführung und obwohl Sharon Eyal im Rund der Oper von Montpellier keine leicht konsumierbaren Körperbilder lieferte, sondern durchaus verstörende Stimmungen.

Eyal und ihr Gefährte Gai Behar hatten dort ein Jahr zuvor mit der Uraufführung von «OCD Love» das Publikum bei «Montpellier Danse» derart beeindruckt, dass das als Fortsetzung angekündigte «Love Chapter 2» im Nu ausverkauft war. Noch dazu kürten Frankreichs Tanzkritiker «OCD Love» kurz vor der Uraufführung des Nachfolgers zum Stück des Jahres. Es war Eyal am Tag vor der Premiere deutlich anzumerken, welcher Druck auf ihr lastete, denn derartige Konstellationen können zum Bumerang werden. Doch es kam anders: Eyal stieg dank der faszinierenden Energie, die von diesem neuen wie von all ihren Stücken ausgeht, endgültig zum Publikumsliebling auf.

Dabei stellt sie selbst gern ihre finstere Seite heraus. «Wenn ‹OCD Love› ein düsteres Stück ist, dann wird ‹Love Chapter 2› noch düsterer», hatte sie im Vorfeld angekündigt. Was glaubwürdig klang, strahlt die Choreografin doch selbst abgrundtiefe Melancholie aus. Allein, in die mischt sich immer wieder Licht, ob in den Stücken oder in ihren Gesichtszügen. Ausgangspunkt des Zweiteilers über Zwangsverhalten (OCD = Obsessive Compulsive Disorder) war nicht nur ihr Credo – «Ich sehe alles Schwarz und in Schatten» –, sondern vor allem ein Gedicht des Slammers Neil Hilborn aus Houston über eine Liebesbeziehung, die von Zwangsstörungen zerfressen wird. «OCD Love» schien sich sogar an Hilborns Slammer-Gestik zu orientieren. Eyals Fortsetzung knüpft zwar da an, beschreibt aber laut Urheberin den Weg ans Licht, die Befreiung aus den Klauen der Neurose. Und dieses Leuchten, das aus dem Inneren der Körper zu kommen scheint, ist in Eyals und Behars neuem Stück von Anfang an präsent.

Zu Beginn stehen die sechs Tänzer wie angewurzelt, scheinen dabei aber in lichte Höhen zu wachsen, als wollten sie mit ihren gestreckten Armen ein wenig Balanchine-Stil abgreifen. Dann wirft sich das Sextett in zwanghafte Verrenkungen und physische Zerreißproben, die nur an der extremen Elastizität der Körper scheitern. Nach der aufreizenden schwarzen Wäsche aus «OCD Love» verhüllen nun helle Farben die Körper, die sich in fließende Unisoni werfen. Die Tänzer werden fast zu Engeln, kokettieren mit dem Catwalk, finden zu wahrer Freude an der Bewegung, swingen sich in Ekstase und lassen sich von der Erinnerung an Folkdance zu Siegerposen und Rave-Ambiente tragen. Selbst die pulsierende Musik von Ori Lichtik verlässt die wummernden elektronischen Gefilde und mixt Sentimentales in ihren Minimalismus. Richtig stark! 

Thomas Hahn

www.theater.freiburg.de

↓ Rezension 3

Foto: Thomas Aurin

Schauspiel: Herbert Fritsch lässt den «Zeppelin» kreisen

Wieder Berlin Schaubühne, 25., 26., 27., 28. November 2017

Das «Programmheft» zu Herbert Fritschs Horváth-Abend an der Schaubühne braucht keine Worte: Es ist ein zweifaches Daumenkino. Lässt man es zur einen Seite flattern, huschen die Zentralgeister des Fritsch’schen Universums vorbei, seine Schauspieler. Dreht man es um und lässt den Daumen blättern, fliegt der Zeppelin heran, eine Fritsch-Zeichnung, und steigt und stürzt, dreht und windet sich. So mag ihn sich der Regisseur erträumt haben, und im Riesenkasten seiner alten Heimat, der Volksbühne, wäre einiges davon möglich gewesen: Da hätte er kippen können, sich drehen und winden, hätte steigen können und verschwinden in der endlosen Oberbühne, von der sich zum Schlussapplaus Herbert Fritsch am Fallschirm herabgelassen hätte ... Schwer, nicht ins nostalgische Träumen an die Wunderbühnenbilder aus Trampolinen und laufenden Wänden, fahrenden Treppen und gigantischen Sofas zu geraten: «Murmel Murmel» wird zum Glück demnächst in Bochum wiederauferstehen, Johan Simons heißt der Retter, «der die mann» geht an die Schaubühne, «Die spanische Fliege» und «Pfusch» aber sind geschreddert. In Fritschs erster Schaubühneninszenierung, zwei pro Jahr wird es künftig geben, steht der riesige Zeppelin, ein bronzefarbenes Walfischgestänge, seltsam eingequetscht auf der großen Bühne vor tiefem Blau. Ab und zu wackelt er zaghaft, und gegen Ende erhebt er sich schwerfällig ein paar Meter über den Bühnenboden. Im Schnipsel-Kompilat aus verschiedenen Horváth-Stücken, darunter «Kasimir und Karoline», ist das fliegende Gehäuse Glücksversprechen und gleichzeitig Symbol für die Unerreichbaren ganz da oben, dem die ganz unten, die ihr kleines Glück auf dem Rummelplatz suchen und nicht finden, hinterher starren. Der Volksstück-Erneuerer Ödön von Horváth begriff sich als Anwalt der Abgehängten, hätte also recht gut hineinpassen können in eine Schaubühneneröffnungswoche vor einer Wahl, bei der die AfD, die sich «das Volk zurückholen» will, unüberhörbar an die Parlamentstür trommelte.

Allerdings: So schlicht tickt Herbert Fritsch nicht. Horváth ist an diesem Abend kaum mehr als ein Textbausteinlieferant, um ein anderes Thema zu choreografieren, das Fritsch schon lange umkreist: der Einzelne und die Horde, Solist und Ensemble, vereint im Spiel, das sich selbst genug ist und sich jeder Verwertungs- und Interpretationslogik konsequent entzieht. Instrumentiert auch hier von Ingo Günther, der in Frack und Zylinder den Resonanzkörper Zeppelin plingen und plongen, klirren und klimpern lässt. Von den acht Schauspielern des Abends hat Fritsch sechs mitgebracht, seine alten Recken und Zicken Florian Anderer, Werner Eng, Bastian Reiber, Axel Wandtke und Ruth Rosenfeld, alle volksbühnenerprobt – und jetzt, endlich stabil vereint, feste Ensemblemitglieder der Schaubühne. Nur Annika Meier ist unterwegs verlorengegangen, an Oliver Reeses neues BE. Es gibt also doch Gewinner des Wechsels an der Volksbühne: Thomas Ostermeier, Herbert Fritsch und seine Schauspieler. Aus dem alten Schaubühnenensemble fügen sich nahtlos Alina Stiegler und die Schaubühnenfrau der ersten Ostermeier-Stunde Jule Böwe ein, die allerdings immer wieder nölt: «Mir scheint, ich bin hier überflüssig.» Doch überflüssig ist hier keiner: Fritschs liebendes Schauspielertheater bleibt Mannschaftssport und Solistenfeier, das alle eingemeindet und alle hervorhebt. Mit Störfaktoren, die den Truppengeist beflügeln. Das ist z.B. der Fußball, der nur bedingt zu choreografieren ist und den die Horde dem Solisten Bastian Reiber immer wieder von der Fußspitze stößt, um ihn immer wieder elegant zurückzuspielen. Alle zusammen und jeder für sich, das ist auch die Botschaft der Kostüme von Victoria Behr, die die Mannschaft in quietschbunte rosa, orangene, silberne Rüschenkleidchen, in kurze Hosen und Kniestrümpfe steckt, kein Outfit wie das andere und alle zum Verwechseln unterschiedlich.

Es gibt zauberhafte Bilder: Der Zeppelin wirft filigrane Riesenschatten an die Wand, Scheinwerfer fahren an der Rampe hin und her und setzen die Schatten in Bewegung. Ruth Rosenfeld lässt ihre Megazunge schlängeln, das Abnormitätenkabinett vom Oktoberfest erwacht zu neuem Leben, die Crew sinniert, was man wohl sein könnte, nach dem Tod, wenn dieses sinnfreie Gehampel mal vorbei ist: Rennpferd, Wildkatze oder Lamm? Wenn Werner Eng an der Rampe tatsächlich mal ein ganzes Stück im Zusammenhang vorträgt, den herzzerreißenden Glückstodestraum vom kleinen Hansl, «Die Legende vom Fußballplatz», dann klammern sich lauter Engel mit ausgebreiteten Flügel-Armen ans Gerüst, und hoch fiept der Ton, ein Tinnitusgeräusch. Doch je länger der Abend, desto mehr wird aus dem Glücksversprechen Zeppelin ein Gefängnis. Und manchmal nicht mehr als ein Klettergerüst, durch das die Irmas und Ernas, Kasimirs und Karolines, Oskars und Juanitas hampeln und zucken, hängen und rucken, hangeln und stürzen, um in der Reihe zwischen den anderen ihren Platz zu finden: «Einer wird erster sein, einer wird letzter.» Und alle werden immer wieder hinausfallen. Sechs haben es mit gegenseitiger Hilfe – Räuberleiter! – am Ende in den sanft schaukelnden Zeppelin geschafft und lächeln freudig. Zwei bleiben zurück. Ein sehr, sehr langer Blick ins Publikum. Zum ersten Mal geschieht – nichts. Erste vorsichtige Klatscher werden gestoppt. Immer wieder. Bis sich der Applaus nicht mehr aufhalten lässt. Aber der Volksbühnen-Jubel klang anders. Noch fremdelt das Schaubühnenpublikum mit dem Import vom Rosa-Luxemburg-Platz. Noch fremdelt Herbert Fritsch mit der tiefenlosen Bühne. Er wird einiges neu erfinden müssen, um das Glücksversprechen ganz einlösen zu können.

Barbara Burckhardt

http://www.schaubuehne.de

Mehr zum Saisonstart an der Schaubühne lesen Sie ab 30. Oktober in der Novemberausgabe von Theater heute.