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Von Schönkirchen nach Wunderbarhofen

Mit dem Theater auf Tournee

Von Christian Kaiser

Als man mir vorschlug, eine Art Tagebuch oder Reisebericht über mein Leben als Schauspieler auf zahlreichen Tourneen zu schreiben, habe ich mich spontan gefreut. Und die Idee genauso spontan wieder rigoros verworfen – und ich war mir überhaupt nicht sicher, warum ich gleich so sicher war, dass ich unmöglich vom Tournee-Leben berichten und damit das Wesen des Tourneelebens richtig schildern kann:

Seit 35 Jahren bin ich Schauspieler: ich habe mit jeder Form von Gastspielen, Theatern auf Reisen und Tourneen Bekanntschaft gemacht und kann sagen, dass ich meinen Beruf als reisender Schauspieler gern, immer noch gern, ausübe. In den letzten vier Jahren bin ich mit verschiedenen Tournee-Unternehmen gleichzeitig mit fünf verschiedenen Stücken unterwegs gewesen: eine Situation, um die ich mich manchmal selber beneidet habe, so anstrengend sie manchmal auch war.

Warum lässt sich Tournee-Theater so schwierig beschreiben?

Meine ersten Erfahrungen mit Gastspielen, die wir seinerzeit unternehmungslustig als «Abstecher» bezeichneten, habe ich während meiner zehn Jahre als Ensemblemitglied bei der bremer shakespeare company gemacht: wir haben damals die Hälfte unseres Jahresetats daheim im Theater am Leibnizplatz und die andere Hälfte mit Gastspielen im gesamten deutschsprachigen Raum verdient. Allerdings war es meistens so, dass wir ein Stück zu Hause produzierten, es dort vielleicht zehn Mal spielten und dann damit für jeweils ein oder zwei Tage auf Reisen gingen, danach das Stück gleich wieder in unserem Stammhaus in Bremen spielten. Selten waren wir länger als eine ganze Woche mit einem Stück unterwegs und die Stücke hatten ein Zuhause. Wir Schauspieler (und Techniker) auch.

Ein typischer Abstecher spielte sich so ab: man fuhr vormittags los, war nachmittags am jeweiligen Spielort, besprach, wie das Stück auf diesen Raum am besten anzupassen ist, richtete Kostüme und Requisiten ein, spielte die Vorstellung und packte, unmittelbar nach Applausende, in Windeseile alles zusammen, damit wir nachts schnell wieder nach Bremen fahren konnten. Von den Städten haben wir meistens nichts oder sehr wenig mitbekommen.

Ein klassisches Tourneetheater funktioniert anders: Normalerweise probt man etwa vier Wochen lang ein Stück (ohne Proben-Honorar) auf einer Probebühne – irgendwo. Dann ist Premiere. In einer der vielen Städte, die zwar ein Theater, aber kein eigenes Ensemble haben. Gleich danach begibt man sich mit dem Ensemble, der Maskenbildnerin, dem Requisiteur, manchmal auch mit eigenem Fahrer, auf Tournee: d. h. man fährt morgens um zehn in Schönkirchen los, verbringt meistens drei bis vier Stunden auf der Autobahn, kommt gegen 14 Uhr in Wunderbarhofen an, bezieht das Hotel, erkundigt sich, wo das Theater ist und verbringt den Nachmittag allein oder mit Kollegen zusammen in dem neuen Städtchen. Wenn man großes und unwahrscheinliches Glück hat, gibt es ein interessantes Museum zum Beispiel über die Papierknickkunst im 16. Jahrhundert, eine tolle Ausstellung eines zu Recht nur in der jeweiligen Landschaft ausstellenden Malers oder ein architektonisches Highlight wie das Postgebäude aus dem 18. Jahrhundert zu besichtigen, meistens gibt es aber einfach nichts weiter als die Hotelzimmerinnenwände und die mitgeführte Lektüre oder Filme zu betrachten. Um circa 18:30 Uhr trudeln dann alle Schauspieler im Theater ein, wo der Techniker mit den Haustechnikern das Bühnenbild schon aufgebaut hat und die Maskenbildnerin, die sich meistens auch um die Kostüme kümmert, alles in den Garderoben hergerichtet hat. Dann spielt man die Vorstellung, nimmt am Schluss den hoffentlich wie immer langen Applaus entgegen und trifft sich – so vorhanden – noch an der Hotelbar, geht gegen Mitternacht aufs Zimmer und fährt am nächsten Morgen von Wunderbarhofen wieder los zum nächsten Gastspielort, wo wir gegen 14:00 Uhr eintreffen, uns auf die Hotelzimmer verteilen ...und das täglich etwa so. Dazu schwimmt, joggt oder wandert der Tourneeschauspieler zwischendurch irgendwie und irgendwann, um sich fit zu halten, weil täglich fahren täglich sitzen heißt.

Was den Techniker betrifft, muss der Vollständigkeit halber erzählt werden, dass er nicht wie die Schauspieler in Wunderbarhofen übernachtet, sondern nach der Vorstellung damit beschäftigt ist, das gesamte Bühnenbild in den großen Lastwagen des Tournee-Unternehmens zu laden und dann so rasch wie möglich loszufahren, da nachts die Autobahnen frei sind und er somit hoffen kann, dass es ihm gelingt, angesichts einer Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h, zu einer „vernünftigen“ Zeit im nächsten Ort anzukommen. Dort legt er sich in der Fahrerkabine noch drei bis vier luxuriöserweise auch mal sechs Stunden aufs Ohr und wartet darauf, dass die Technik-Mannschaft des Theaters ab circa 14 Uhr bereitsteht, um das Bühnenbild aufzubauen, damit er die um circa 18:30 Uhr eintrudelnden Schauspieler mit einem perfekt aufgebauten und mit allen Lichtstimmungen versehenen Bühnenbild erfreuen kann. Diese Abläufe sind jeden Tag ungefähr gleich und wir durchpflügen dabei den gesamten deutschsprachigen Raum, von Flensburg neben Dänemark bis Leoben kurz vor der Adria. Da ich in den letzten fünf Jahren sehr häufig auf Tournee war, wundere ich mich manchmal, dass es wirklich tatsächlich immer noch Orte geben soll, an denen ich noch nie aufgetreten bin.

Und wo ist jetzt das Schilderungsproblem? Eine Theatertournee besteht tendenziell aus einer kleinen Gruppe von Menschen. Manchmal sind es nur zwei, meist aber sechs bis zehn Leute, die wohl oder übel zusammen viel Zeit, oft den ganzen Tag miteinander verbringen müssen. Wie sollte dies durchweg harmonisch, konfliktfrei vonstattengehen? Die romantischen Vorstellungen vom rollenden Thespiskarren haben natürlich mit der Realität nichts zu tun. Da ist Kreativität gefragt, schon aus Gründen des Selbsterhaltungstriebs.

Ein Beispiel: Da ist die Kollegin, die mir, als ich sie kennenlernte, schon seit x Jahren auf Tournee war, streng verkündete, dass es jeweils um 17:00 Uhr Abendessen gebe – sie koche! Wann immer das irgendwie möglich sei. In den kleineren Spielorten ist es schlichtweg unmöglich, sich vor, geschweige denn nach der Vorstellung vernünftig zu ernähren! Da ich von der aus zwei Schauspielern bestehenden Tourneeproduktion gehört hatte, die bereits nach den ersten Aufführungen so zerstritten waren, dass sie den Rest der Tournee nach der Vorstellung zwar gemeinsam das einzig noch geöffnete Lokal ansteuerten, aber schweigend an getrennten Tischen saßen, stimmte mich das optimistisch.

Abenteuer! Wir wurden einmal nachts um drei vom Feueralarm geweckt und hinaus auf die Straße getrieben. Kein Rauch nirgends. In der Hotellobby erfuhren wir dann, dass ein schlafwandelnder Gast den Feuermelder gedrückt hatte.

Doch solche putzigen Begebenheiten, unterhaltsamen Schnurren schildern das wahre Wesen einer Theatertournee nicht. Wirklich interessant, berichtens- und lesenswert wären naturgemäß die Fehler, das Schreckliche, das, was von der Norm abweicht, das Unvorhergesehene, das Unappetitliche, das Nervende und das, worüber man sich sehr aufregt. Aber weder wäre es klug noch anständig, das im Detail zu erzählen: Erstens sind das meistens einfach private Dinge, und zweitens gibt es so etwas wie einen Corps-Geist, der es schlicht verbietet Ungereimtheiten von der Hinterbühne vor den Vorhang zu tragen.

Es sind ja immer sehr eigenwillige Personen miteinander unterwegs und es steht einfach niemandem zu, über Kollegen zu tratschen, die ja auch schon berufsbedingt mit ihren mitunter auch eitlen, egomanischen, skurrilen und obsessiven Charakteren aufeinanderprallen und mit denen man auf der Bühne Tag für Tag um Erfolg kämpft! Damit würden wir unsere Arbeit also das Theaterstück, das wir spielen, beschädigen. After show is show!

Aber wenigstens über den einen oder anderen Skandal könnte man doch berichten? Sex, Drugs and Rock’n’Roll? Das muss doch ungemein spannend sein, wenn erwachsene, freie, unprüde Menschen so miteinander unterwegs sind: Ja, es soll dies und jenes… Aber das geht nun wirklich niemanden etwas an, und auch da wird mehr geredet als erlebt! Und sooft man (also ich) während des Applauses in Schönhofenhausen vielleicht insgeheim gehofft habe, dass die schöne Zuschauerin aus der vierten Reihe vielleicht wenigstens noch auf einen Schwatz ins Theatercafé kommt, umso weniger hat so etwas wirklich jemals stattgefunden.

Ein Kollege erzählt, dass er nachts um drei friedlich schlafend aus seinem Hotelzimmer mit den Worten gebrüllt wurde: «Diese ganze Theatertruppe haut jetzt sofort ab, meine Betten kann ich mir selber kaputt bumsen!» Ist das wirklich passiert? Oder ist es Tourneegarn?

Als ich letztes Jahr die Tourneeleitung fragte, warum wir denn nicht in dem wunderbaren Hotel in der Altstadt dieser wunderschönen Stadt untergebracht seien, bemühte sich die Tourneeleitung doch noch schnell um dieses Hotel und bekam die Auskunft, dass unser Tourneeunternehmen dort Hausverbot habe. Ich wollte es nicht glauben und habe sofort selbst dort angerufen. Woraufhin mir die Inhaberin in asiatisch klingendem Englisch erklärte: Sir, these people from your Company are terrible, they make trouble, when they come, they make trouble, when they go!» Als ich sie fragte, wer Sie denn so verärgert habe, bekam ich zu Antwort: ‹It was in February!› Damit war klar: ich selber mit fünf anderen Kollegen war das gewesen: Wir hatten uns ein paar Wochen vorher dort sehr wohl gefühlt, und waren uns keiner Unflätigkeiten oder Troubles bewusst. Beschreibt das Tournee? Wohl eher eine nervöse Hotelbesitzerin.

Noch ein Versuch: Wäre es interessant, wenn ich davon berichten würde, wie und was hier und dort an diesem und jenem Theater nicht geklappt hat? Einmal war die Technik unfreundlich oder unfähig, ein andermal der Hausmeister gar nicht erschienen und damit das Theater einfach geschlossen, die Garderoben klein, eng, schmutzig ... Natürlich übertrifft die Realität manchmal das Vorstellbare, nur hätte das ausschließlich zur Folge, dass kein noch so wunderschönes Theater in keiner noch so wunderschönen Stadt mich jemals wieder einladen würde, würde ich mit Nennung von Ross und Reiter davon berichten.

Apropos wunderschön: Als ich vor Jahren einen Kollegen traf, dem gerade eine dreimonatige Tournee bevorstand und ich ihn fragte, ob er sich darauf freue, antwortete er: «Ja riesig! Dann habe ich drei Monate lang jeden Tag ein frisch bezogenes Bett!»

Und wie ist das Leben sonst so? Man bereist während einer Tournee wochenlang den deutschsprachigen Raum, meistens Westdeutschland – in der ehemaligen DDR gibt es, Gott sei Dank, noch sehr viele eigene Stadt- und Staatstheater, so dass Tourneeunternehmen bisher kaum in diesen Markt eindringen konnten. Man spielt meistens in Städten unter 200.000 Einwohnern, unter 100.000 Einwohnern, unter 50.000 Einwohnern, unter 20.000 Einwohnern ... und muss auch mal an Tschechow denken: «Die Stadt war klein und schlimmer als ein Dorf.»

Der deutschsprachige Raum, Deutschland, Österreich und die Schweiz, gehören zu den schönsten Ländern Europas – allerdings sind ihre wunderschönen Städte, in denen meistens auch wunderschöne Theater stehen, oft sehr verbaut und meis­tens auch architektonisch versaut: die Hässlichkeit zersiedelter (Stadt-)Land­schaften schlägt mir persönlich während einer Tournee am meisten aufs Gemüt. Doch möchte ein Bewohner von Wunderschönhofen das lesen? Gott, wie provinziell es bei denen zugeht?

Und wie hässlich diese Stadt ist? Welche Lampe leuchtet nicht besonders hell? Die Lampevölkerung! Ein doofer Scherz, der vor allem nicht wahr ist: An unseren Spielorten kommen wir oft mit durch und durch gebildeten und weltoffenen Menschen in Kontakt. Ja, häufig stimmt sogar der umgekehrte Fall: Je kleiner der Ort, desto interessierter, neugieriger, aufmerksamer zugewandter die Zuschauer!

Über Tournee zu berichten, heißt auch, eine Status-Frage stellen zu müssen: Tournee hat nicht immer den besten Ruf. Wir spielen auf Tournee oft in außer­ordentlich schönen Häusern und meistens vor fast ausverkauften Sälen. Das orga­ni­sieren die ortsansässigen Theaterleiter mit ihren Abonnentenorganisationen meistens sehr gut. Und natürlich gibt es mehr oder weniger gelungene Aufführu­gen – wie an jedem Theater auch.

Die landläufige Meinung aber ist: Da spielt eine Fernsehnase als Publikumsmagnet, und dann holzen die mitspielenden Kollegen fröhlich drauf los, Regie findet fast nicht statt. Das ist landläufig ­– und falsch.

Mit meiner Lieblingskollegin B. war ich vor vielen Jahren mit einem Kinderstück zum 100-jährigen Jubiläum eines Kulturvereins irgendwo in der Pfalz eingeladen. Die Gage war angenehm hoch, wir trafen in bester Spiellaune ein. Wir fanden aber keinen auch nur irgendwie bespielbaren (Theater-)Raum vor, außer einer Ankündigung auf kopierten DIN A4 Zetteln war rein gar nichts vorbereitet. Da das Wetter schön war, bauten wir unser Bühnenbild draußen unter einem großen Baum auf und damit die Kinder nicht auf der feuchten Wiese sitzen mussten, schufen wir so an die 200 Sitzgelegenheiten indem wir leere Getränkekästen mit Sitzkissen bestückten: die Zuschauer kamen, die Vorstellung war schön, wir kehrten wieder nach Hause zurück – ich nach Berlin, B. nach Wien, zu den Endproben am Burgtheater. Natürlich erzählte sie von unserem Abenteuer. Woraufhin die in Wien weltberühmte Burgschauspielerin ausrief: «Ach, B.! Was du da immer machst! Ich bewundere Dich! Ich könnte das nicht!» - «Und dann», sagt meine Lieblingskollegin, «ist man beleidigt.»

Ich bestätige das. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich Tournee und Tourneetheater nicht beschreiben kann. Tourneetheater fühlt sich von innen vollkommen anders an, als es sich nach außen darstellen lässt. Der Missver­ständnisse über diese Existenzform des Schauspielers gibt es viele. Aber welchem man sich dabei am wenigsten aussetzen möchte, ist gönnerhafte Bewunderung.