Rezensionen 30. August
Mozart «Die Zauberflöte» in Salzburg
Um halb zehn kommen die Jagdflieger. Zeit für den Mörike-Moment: «Über das Haupt stürzt dir krachend das Himmelsgewölb’». Minutenlang ist das große Festspielhaus zu Salzburg erfüllt vom Dröhnen der Maschinen, vom Geräusch einschlagender Bomben, von undefinierbarem Geschrei. Es ist das pure Grauen des Kriegs, das sich hier, in elektronisch verstärkten Tönen und (über eine eigens dafür installierte Videowand) rennenden Bildern, ausbreitet und all jenen, die glaubten, die Welt sei vielleicht doch nicht mehr als ein lustiger Zirkus, tiefe Angstfurchen auf die Stirn zeichnet. Aber hat das alles auch etwas mit der «deutschen» respektive «großen» Oper zu tun, die hier aufgeführt wird?
Ja, sagt Lydia Steier, die erstmals in Salzburg inszeniert und sich für ihr Debüt gleich das dritte große Rätselwerk der Kultur ausgesucht hat, als das Peter von Matt Mozarts «Zauberflöte» einmal bezeichnet hat, neben Shakespeares «Hamlet» und Leonardo da Vincis «Mona Lisa». Ein Werk, das durch die Rezeptionsgeschichte des Festivals nicht eben leichtgängig wirkt, angesichts von 17 Inszenierungen in den vergangenen 90 Jahren.
Was tun? Zu neuen Ufern streben. Steier und ihr Team erzählen die «Zauberflöte» nicht für Kinder, sondern aus der Perspektive von Kindern. Entsprechend grobkörnig-überladen sind die Bilder, weitschweifig und voller Brüche, entsprechend unbehaust ist das weite Feld der Freimaurerei. Was jedoch nicht bedeutet, dass politische Implikationen fehlten. Im Gegenteil. Diese Inszenierung in der keck-klugen Dialogfassung von Steier und ihrer Dramaturgin Ina Karr ist in ihrer kühn-wilden Setzung durchaus «politisch», weil sie den kindlichen Blick dazu nutzt, historische Gegebenheiten ungefiltert abzubilden und sie zu koppeln mit dem Blick aufs Heute.
Die Bühne von Katharina Schlipf zeigt uns zunächst ein großbürgerliches Ambiente aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Familienidyll, Marke Ibsen. Man sitzt zu Tisch, starrt die Wände an und streitet sich stumm, während Constantinos Carydis die Wiener Philharmoniker nach wohlgesetztem Akkord-Beginn zur furiosen Fugato-Jagd anstiftet, die so rasant, so knäckebrotleicht kaum ein anderes Orchester spielen kann. Die Mutter wird hinausgeworfen und sich später in die Königin der Nacht verwandeln (Emma Posman, Teilnehmerin des Young Singers Project, mit einem beachtlichen Rollendebüt als kurzfristigste Einspringerin für die erkrankte Albina Shagimuratova). Am Kopfende der Großvater (Klaus Maria Brandauer), er wird den drei Jungen die Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, ein Märchen namens «Zauberflöte». Das ist der Rahmen.
Steier füllt ihn mit großartigen, zum Teil absurden Einfällen. Ihre Inszenierung ist vor allem eines: prall gefüllte Märchenstunde. Doch ist das durchaus plausibel, weil sie der bürgerlich-nostalgischen, streng rationalistischen Welt ein Traumreich bizarrer Clownerien entgegensetzt; die Bühne nun ein einziger fahrender Baukasten, mit Verweisen auf Industrialisierung und revolutionär-republikanische Tendenzen nach 1918. Die Mannschaft von Sarastro, dem Zauberer (Matthias Goerne), besteht aus lauter anmutig-verrückten, schräg-schrillen Artisten (die kaleidoskopischen Kostüme schuf Ursula Kudrna), zu denen auch Pamina zählt, als Commedia dell’arte-Figur. Man könnte meinen: Die spinnen alle ein bisschen.
Doch wer, wenn nicht das Kind, hätte die Erlaubnis dazu? Wer sonst unternähme mit großer Lust eine Reise ins Ungewisse? Mag es in diesem Grand-Guignol hier und da etwas knirschen, letztlich funktioniert die Idee, weil sie widersprüchliche Fantasien nicht nur zeigt, sondern eben auch freilegt. Und weil das Konzept von den Sängerdarstellern exzellent umgesetzt ist: brüllend komisch der Wonneproppen Papageno von Adam Plachetka; naiv, mit sanft schimmernden, weit tragenden, luziden Stimmen Mauro Peters Tamino und Christiane Kargs Pamina; sternenklar die drei Damen von der Suffragettenfront (Ilse Eerens, Paula Murrihy, Geneviève King); struwwelpeterig flink Michael Porters Monostatos, überaus gelenkig die drei jungen Nachthemd-Buben von den Wiener Sängerknaben (Jeong-min Lee, Matthew Helms, Philipp Rumberg).
Und dann ist da ja noch die Musik. Und ein Dirigent, der sich was traut. Der die Tempi bis an die Grenze des Erlaubten (und Atembaren) treibt; der in den lyrischen Momenten, so Paminas g-Moll-Lamento «Ach, ich fühl’s» und Taminos Bildnis-Arie, die Zeit so weit dehnt, als suche er nach der berühmten Schubert’schen Fermate; der seine Sänger auf Händen trägt, um dann plötzlich binnen drei Sekunden von null auf 99 zu beschleunigen; kurzum: der das Widerspiel von Traumverlorenheit und dem Einbruch des (unversöhnlichen) Realen auch klingend beglaubigt.
Und darin liegt wohl in erster Linie die streitbare Qualität dieses turbulenten Abends. Szene und Musik finden zueinander, weil sie beide bewusst ins Extreme tendieren. Das irritiert, gewiss. Aber es pointiert die strikte Ambivalenz der «Zauberflöte». Jeder Schritt von Spaß ist hier auch ein Schritt hin zur (möglichen) Barbarei. Das Schlimme daran: Sie wohnt gleich um die Ecke.
Jürgen Otten
Die Aufzeichnung der Oper ist noch bis 3. September auf arte.tv zu sehen.