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Rezensionen 30. August

Vandevelde «Paradise now (1968 – 2018)» in Berlin

Am 31. August und 1. September in den Sophiensälen 

1968 wurde beim «Festival d‘Avignon» ein Stück des 1947 von Judith Malina und Julian Beck in New York gegründeten, postdramatischen Living Theatre uraufgeführt, das sowohl für die Kompanie als auch für die Theaterkunst einen künstlerischen Wendepunkt markierte. Sein Titel: «Paradise Now». Es basierte auf einem Ritual, das eine Gruppe blutjunger Künstler um die beiden Mittvierziger Malina und Beck ersonnen hatte. 

Maßgeblich von den Gedanken des Dramatikers und Theatertheoretikers Antonin Artaud inspiriert, trug das Kollektiv zur Etablierung des Begriffs «Performance» in der Kunst bei. Das damalige Stück von quälend langer Aufführungsdauer war in acht Teile gegliedert, die sämtlich der Struktur These–Antithese–Synthese folgten. Während der erste Teil die Welt der Kultur in ihren damals aktuellen Erscheinungsformen porträtierte, bot der zweite Teil einen «ästhetischen Angriff» als Alternative an – seinerzeit ein Schockerlebnis für das Publikum, da sich die Performer wiederholt entkleideten und nackt unter die Zuschauer mischten. Der dritte Teil schließlich widmete sich der Diskussion sowie einer weiteren Alternative in Form einer paradiesischen Vision.

Der junge Choreograf Michiel Vandevelde hat mit «Paradise Now (1968 – 2018)» mehr als ein bloßes Reenactment der Vorlage von 1968 geschaffen: Wie die in Klammern aufgeführten Jahreszahlen im Titel andeuten, handelt es sich vielmehr um eine Reflexion der gesellschaftlichen Fortschritte, die seit jenem «Schrei nach Freiheit» vor nunmehr 50 Jahren erzielt worden sind. Vandeveldes 13 sehr junge Performer stellen dabei durchaus auch sich selbst dar, indem sie stellvertretend für die heutige junge Generation agieren. 

Vandevelde optiert für eine Reduktion des ursprünglichen Plots auf einen zentralen dialektischen Dreischritt und eröffnet sein Stück mit einem Überblick über die fünf Jahrzehnte seit 1968. Sie werden als Tableaux vivants epochaler Momente visualisiert – von Donald Trumps Wahlsieg über das Erscheinen des ersten i-Phones bis hin zu einer eindrücklichen Aneinanderreihung jener schrecklichen Kriege, Terrorattacken und Kriegsverbrechen – Intifada, Ruanda, Kambodscha, Soweto, Srebrenica –, die die vergangenen, sogenannten «friedlichen» fünfzig Jahre prägten. Das letzte dieser Bilder zeigt das entsetzliche Massaker, das US-amerikanische Soldaten im südvietnamesischen My Lai an mehreren Hundert Zivilisten verübten. An dieser Stelle wendet sich Vandeveldes Stück denn auch erkennbar ins Reenactment seines historischen Vorgängers – umso faszinierender übrigens, weil sich nun auch auszahlt, dass Vandevelde Jugendliche zwischen 14 und 24 Jahren auf die Bühne schickt.

Der Hintergrund: Der belgische Tänzer-Choreograf, selbst Jahrgang 1990, war von der -in Leuven beheimateten Theaterkompanie -fABULEUS (die Bühnenprofis mit jungen Amateuren zusammenbringt) eingeladen worden, ein Stück über den Mai ’68 zu machen. Auch deshalb, weil die Universitätsstadt Leuven damals selbst von heftigen Unruhen erfasst wurde. Schaut man sich «Paradise Now (1968  – 2018)» an, wird deutlich, dass Vandevelde vornehmlich an der Arbeit mit Jugendlichen interessiert ist, die er – trotz des zum Teil erheblichen Altersunterschieds von bis zu zehn Jahren – zu einem erstaunlich homogenen und reif wirkenden Ensemble zu formen versteht. Allesamt noch Schüler, scheinen diese Kids wenig gemeinsam zu haben mit den Drogen konsumierenden Drop-outs des damaligen Living Theatre, deren Exzesse sie heute, fünfzig Jahre danach, durchexerzieren. 

Als besonders publikumswirksam erweist sich ihre Reflexion dessen, was vom damaligen Traum des «Paradise now» übrig blieb – auch wenn die komplexen Überlegungen zu Themen wie Hoffnung, Verzweiflung und Rebellion nicht ihrer eigenen Gedankenwelt entsprungen sein dürften. Sie sind vielmehr die Früchte von Vandeveldes Lektüre, etwa der Schriften von Giorgio Agamben oder Donna Haraway. Und dennoch: Die Youngsters verteidigen dieses Gedankengut mit ungewöhnlichem Herzblut, als wär’s das eigene. Was zeigt, dass die Arbeit an dieser Produktion ihr Leben berührt, wenn nicht verändert haben muss. Vandevelde verabreicht uns mit «Paradise Now (1968 – 2018)» ein wirksames Mittel gegen den zumeist pessimistisch getrübten Blick auf zukünftige Generationen.

Pieter T‘Jonck
Aus dem Englischen von Marc Staudacher

tanzimaugust.de/paradise-now-1968-2018