Rezensionen 14.9.
Foto: Anne Van Aerschot
de Keersmaeker «Die 6 Brandenburgischen Konzerte»
Am 14. und 15. September in der Volksbühne
Der erste Auftritt gehört der Abteilung «Kulturelle Bildung». Ein junger Mann, T-Shirt und Jeans, betritt die leere Bühne und wendet ein großes Schild dem Publikum zu: «1. Konzert F-Dur». Diese Szene, die sich zum Amüsement des Premieren-Publikums in der Berliner Volksbühne vor jedem der sechs Brandenburgischen Konzerte wiederholt, lässt alle wissen, was sie hören und verschafft dem B’Rock Orchestra aus Gent Zeit, sich neu zu sortieren. Denn Platz für alle gibt es nicht in dem engen kleinen Orchestergraben der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Jedes Konzert ist anders besetzt, Platztausch ist angesagt. Wir befinden uns in der analogen Welt, im Theater, wo sich solche Unzulänglichkeiten nicht wegretuschieren lassen.
16 Tänzer betreten das große Halbrund, zwölf Männer, vier Frauen, drei Generationen ROSAS. Anne Teresa De Keersmaeker hat ihre Kompanie vor 35 Jahren gegründet, und diesen Erfahrungsschatz bindet sie in ihre neueste Arbeit ein. Eine schöne Geste. Alle sind schwarz gekleidet: Anzüge, Bermuda-Shorts, Netzhemden, Kleid, Turnschuhe, Pumps. Casual ist der Stil. Zwanglos und lässig. Eine moderne Gesellschaft hat sich auf der Bühne eingefunden. Und diese Entscheidung ist kein Zufall. De Keersmaeker nähert sich Bach weit entfernt von historischem Klimbim. Sie holt seine Musik in die Gegenwart. Wenn alle zu Beginn der Uraufführung nebeneinander in einer langen Linie frontal auf das Publikum zugehen, am Rand der Bühne stehenbleiben, poppen sofort Bilder im Kopf auf: Filmbilder, Modebilder. Wir sind mit unseren Augen im Hier und Jetzt und mit den Ohren im 18. Jahrhundert. Wir hören die von Bach in Köthen komponierten Instrumentalkonzerte, gespielt auf alten Instrumenten von einem Orchester, das sich der alten Musik auf neue Weise nähert. Schräge Töne inbegriffen. Mit jeder Variation der Schritte, mit jedem Wechsel des Tempos führt uns De Keersmaeker tiefer in seine Musik und eröffnet dem Publikum eine Bach-Lektüre, die kein Konzertsaal bieten kann. Die Tänzer schreiten, laufen, hüpfen, rollen über den Boden, strecken sich in die Vertikale, drehen sich, springen, gehen in den Handstand, liegen, streichen sanft über den Boden, geben kleine Zeichen – verspielt, behutsam, ohne Kraftmeierei, ohne Attitude.
De Keersmaeker geht es nicht um Virtuosität, sondern um den menschlichen Körper, um die Bewegung im Raum. Soli, Duette sind die Ausnahme. Meistens bewegt sich das Ensemble in kleineren und größeren Gruppen über die Bühne, «besetzt» den leeren Raum. Ob kindliche Freude oder Melancholie, Tempo oder Stillstand, Männer ohne Frauen, mit Frauen, Bachs Musik hat der Choreografin den Weg gewiesen durch das geordnete Chaos oder die chaotische Ordnung, die – wie sie sagt – in seinem Werk verborgen ist. Sie variiert ihr Bewegungsvokabular im Dialog mit einzelnen Instrumenten, mit Bögen und Linien, mit Stimmungen und Situationen, die Bach beschreibt. Wenn im 1. Konzert die Hörner den Ton angeben, dann wird ein Hund auf die Bühne geführt, der sich nicht ganz an seine vorgesehene Rolle hält, irritiert murrt und die Hörner ankläfft. Zur Belustigung des Publikums. Das ist ein kleiner Moment der möglichen Unordnung, den sich die Choreografin gönnt.
Denn so casual, so informell, zwanglos dieser getanzte Bach daherkommt, so lässig ist er keineswegs zustande gekommen. Sechs Monate hat Anne Teresa De Keersmaeker geprobt, ist mit Bachexperten, mit der Dirigentin und Geigerin Amandine Beyer in den Kosmos des Meisters eingetaucht und das nicht zum ersten Mal. Warum sie Bach so inspiriert? «Klarheit, Detailliertheit und kontrollierte Raffinesse» findet die Choreografin in Bachs Musik, und genauso kann man ihre Arbeit charakterisieren. Sie bewegt sich gerne in Strukturen, in komplexen Mustern, die sie wie beiläufig inszeniert. Wenn am Ende des Abends die kleine Gesellschaft von der Bühne läuft, die letzten Töne verklungen sind, haben wir Bachs Brandenburgische Konzerte, diesen Gassenhauer der Klassik, so gehört wie nie zuvor. Anne Teresa De Keersmaekers Choreografie hat uns die Ohren durch die Augen, den Tanz geöffnet.
Claudia Henne