Rezensionen 14.9.
Foto: Clemens Maria Schönborn
René Pollesch «Cry Baby» in Berlin
Am 21. September, 5., 11., 17., 25. Oktober im Deutschen Theater
Die Verteilung der Konkursmasse der alten Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz ist inzwischen abgeschlossen. Frank Castorf nimmt seine Berlin-Termine schon seit letzter Spielzeit im Berliner Ensemble wahr, Herbert Fritsch hat sich in die Betonräume der Schaubühne am Lehniner Platz gefügt, nur Sophie Rois und René Pollesch mit Team waren noch auf der Suche. Zum Einstand im Deutschen Theater steht jetzt «Cry Baby» auf dem Programm, der Titel eines tiefironischen John-Waters-Films von 1990 über den 50er-Jahre-Bandenkrieg zwischen den Squares und den Drapes, den Spießern und einer grundsympathischen Rockergang mit dem jungen Johnny Depp.
Sophie Rois als moderne Räuberhauptfrau in einer Parabel über den Umzug vom verruchten Rosa-Luxemburg-Platz in die stadttheaterlich gepflegte Wohlanständigkeit des Deutschen Theaters – das wäre sicher lustig geworden, war Pollesch vermutlich aber dann doch zu platt. Der Abend heißt zwar jetzt immer noch «Cry Baby», zu Deutsch «Heulboje», hat aber mit John Waters nicht das Geringste zu tun.
Stattdessen breitet Pollesch in seiner Vorstellungsinszenierung einen der Grundkonflikte seines Werks in vielen Facetten aus. Das Problem ist Folgendes: Seit Foucault und Butler und einer mittlerweile unüberschaubaren Zahl von kulturalistischen Philosophen hat sich herumgesprochen, dass unsere Welt eine soziale Konstruktion sei, der nur scheinbar Natürliches anhafte mit dem Zweck, verdeckte Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren, die sich im Spätkapitalismus meistens ökonomisch und warenförmig gestalten.
Gleiches gilt selbstverständlich auch fürs Individuum, dessen Glaube ans selbstbewusst handelnde, vollauthentische Sein auch nur eine fromme Lüge beziehungsweise eine schöne Illusion sei. Mit diesem Wissen im Gepäck stolpert der spätmoderne Mensch aber dummerweise immer wieder in Situationen, die sich ziemlich authentisch anfühlen. Zum Beispiel die Liebe oder das Künstlertum oder den Erfolg oder – wie in «Cry Baby» – den Schlaf. Im Schlaf nämlich, so erklärt Jean-Luc Nancy im Programmheft, gleite man «als Ganzes in sein Innerstes» und ist dann eben ganz bei sich, wenn auch nicht mehr voll da. Aber spätestens wenn Sophie Rois wieder aufgewacht ist und ausgegähnt hat, fängt das Pollesch-Theater an.
Bühnenbildnerin Barbara Steiner hat die Proszeniumslogen und das Schmuckportal des Deutschen Theaters gleich noch einmal nachgebaut und auf die Bühne gestellt, dahinter einen allerliebsten Boudoir-Prospekt, der sich neckisch spaltet und den Blick auf ein seidenbezogenes Traumbett freigibt. Die letzten Blicke fangen düster geraffte, glänzende Stores, bis das neoklassizistische Stadttheater in der Schumannstraße endgültig als die schwüle Bonbonniere kenntlich wird, die es eigentlich ist. Auf dem Kingsize-Bett räkeln sich gleich zu Beginn in seiden fließenden Pyjamas und Morgenmänteln (Kostüme Tabea Braun) Sophie Rois sowie ihre Mitstreiterinnen Christine Groß und Judith Hofmann und ein 12-köpfiger Mädchenchor, vornehmlich Studentinnen der Ernst-Busch-Schauspielschule. Bernd Moss macht auch mit, darf aber nicht ins Bett und muss zwischendurch immer wieder aus einer der Logen Zuschauer spielen.
Da im schlampigen Edelboulevard die abgründigen Verwirbelungen zwischen authentischem Seinsgefühl und puderquastig konstruiertem Bühnenschein am zweifelhaftesten aufblühen, beginnen dann 75 Minuten ziemlich brillante Dialog-Spiegelfechtereien, die zum Konzentriertesten gehören, was René Pollesch in den letzten Jahren zusammengeschrieben hat – unter gelegentlicher Zuhilfenahme markanter Textschnipsel von Jean-Luc Nancy, Marcus Steinweg, Luc Boltanski, aber auch Bunuel, Brecht und Adorno, vor allem aber von Kleists «Prinz von Homburg», der nicht nur eine entlarvende Traum/Schlaf-Szene hat, in der Prinz Friedrich endlich ganz bei sich ist, sondern auch eine Hinrichtungsszene, in welcher der Titelheld endgültig in den preußischen Heldenschein sozialisiert wird.
Der Mädchenchor, der zwischendurch immer mal wieder in albernen Entertainment-Choreos herumturnt und sich selbst subjekt-dezentrierte Teamfähigkeit bescheinigt, legt hierbei eindrucksvolle Musketen auf Sophie Rois an, was zur Flucht in die Seitengasse führt: der letzte Bühnenseinsausweg. In wilden thematischen Sprüngen, die vollste Zuschaueraufmerksamkeit verlangen, geht es von den Paradoxien der Schlafphilosophie zum ontologischen Status eines Liebhabertheaters – Theater von, für oder mit Liebhabern? –, den Bedingungen für authentischen oder scheinhaften künstlerischen Erfolg zu einem florettbewehrten Verbalduell zwischen Schein (Rois) und Sein (Moss), bei dem Bernd Moss natürlich keinen Stich macht.
Es steht die Frage des Bezahlens im Raum, denn Sophie Rois will auf der Bühne zwar bezahlt werden, würde aber für das Kostbarste in ihrem Leben, das Theater, auch selbst bezahlen – was zu einigen weiteren Verwicklungen führt. Die Schauspieler lassen dabei nie den leisesten Zweifel aufkommen, dass sie sind, wer sie sind: Schauspieler, die schauspielen und mit beiden Beinen souverän in der Realität der Bühne stehen – was immer die gerade bedeutet. Sophie Rois bleibt wie erwartet der unerschütterlich stimmdunkle Eigensinn, der sich perfekt ins Ensemble fügt – gleichzeitig vollauthentisch und hochkünstlich – und gönnt sich nur eine einzige heulbojenartige Diven-Nummer, die im Vollzug angemessen ironisiert wird.
Das Premierenpublikum hat in der ersten Dreiviertelstunde noch gut mitgelacht, war dann aber bald stumm und schwindelig geredet. Jürgen Kuttner – selbst ein begnadeter Schnellredner – beklagte beim Hinausgehen, man sei vor lauter Zuhören gar nicht zum Schlafen gekommen.
Franz Wille