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Medientipp #4

Sandrine Piau: Chimière

Ambivalente Gefühlswelten der Liebe lotet die französische Sopranistin Sandrine Piau in ihrer neuesten Solo-CD aus, die sie unter dem Titel «Chimère» – (zu deutsch: Hirngespinst, hier vielleicht besser übersetzt mit: schillernde Täuschung) – veröffentlicht hat. Mit ihr beschließt sie ihr Triptychon von Kunstlied-Programmen, das sie – stets an der Seite von Susan Manoff am Klavier – 2007 mit «Évocation» begonnen und 2010 mit «Après un rêve» fortgesetzt hat. Als Sängerin bekannt wurde Piau vor allem mit Auftritten und Einspielungen im Barockrepertoire. Dass sie eine genuine Liedinterpretin ist, stellt sie mit dieser reizvoll ausgewählten Folge deutscher, französischer und anglo-amerikanischer Lieder erneut unter Beweis. Unter den insgesamt 23 Stücken befinden sich auch zahlreiche Raritäten, so Carl Loewes Vertonung von Gretchens Szene «Ach neige, du Schmerzensreiche» aus Goethes «Faust» oder Lieder des Amerikaners Robert Baksa (*1938) und des auch als Dichter hervorgetretenen Engländers Ivor Gurney (1890-1937), deren Namen nie gehört zu haben keine Schande ist. Dabei handelt es sich gerade bei Gurneys neoklassizistisch strenger Vertonung von John Fletchers Ode an die Nacht «Sleep» oder Baksas «Heart, we will forget him» auf Verse Emily Dickinsons um eindrucksvolle Lieder. Das gilt auch für Samuel Barbers dramatische Szene «Solitary Hotel» auf ein Fragment aus «Ulysses» von James Joyce, während die drei «Dickinson Songs» des Dirigenten André Previn dagegen abfallen.

Sprachlich ist Piau dem multinationalen Programm in jeder Hinsicht gewachsen. Ihr Deutsch und ihr Englisch sind fast makellos, Debussys zerbrechliche Verlaine-Vertonungen («En sourdine», «Clair de lune») singt sie mit subtilster Wort-Nuancierung und Poulencs Apollinaire-Zyklus «Banalités» mit chansonhafter Direktheit. Auch musikalisch ist noch immer viel zu bewundern – der lässige, selbst den pathetischen Aufschwung nicht scheuende Charme bei Poulenc oder die strenge Linienführung und Legatokultur, mit der sie in den getragenen Wolf-Liedern «Verschwiegene Liebe» und «Das verlassene Mägdlein» die Worte ganz in die Melodie einbindet. Wohltuend auch das an Debussy geschulte poetisch-kühle Schwärmen, mit dem sie dem melancholischen Sehnsuchtston Schumanns und Wolfs sentimentale Affektiertheit und übertriebene Romantisierung verweigert. Andererseits geht sie in Schumanns «Lotosblume» emotional durchaus aus sich heraus und verfügt auch über den trockenen Sprachwitz für die schimärischen Verrücktheiten in Debussys «Fantoches» oder Wolfs «Lied vom Winde». Nicht zu überhören freilich ist, dass ihr schlanker Sopran in der Höhe nicht mehr immer so mühelos anspricht wie in früheren Aufnahmen. Der Ton wird dann etwas spitz und eng, gerät ins Flackern, und es schleicht sich ein störendes Vibrato ein. Insgesamt freilich wird man dies gerne überhören, denn es wiegt gering gegenüber der enormen Ausdrucksvielfalt und der großen gestalterischen Kunst, mit denen Sandrine Piau noch immer ihre Hörerinnen und Hörer in Bann schlägt – umso mehr, als sie in Susan Manoff eine Begleiterin zur Seite hat, die alle Stile von der Romantik bis zur Postmoderne beherrscht, insbesondere die pianistisch kniffligen Poulenc-Lieder mit Verve und Virtuosität vorträgt.

Uwe Schweikert

Sandrine Piau: Chimère
Lieder von Carl Loewe, Robert Schumann, Claude Debussy, Hugo Wolf, Ivor Gurney, Robert Baksa, Francis Poulenc, Samuel Barber, André Previn
Sandrine Piau (Sopran), Susan Manoff (Klavier)
Alpha Classics/Outhere Alpha 397 (CD); AD: 2017