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Theatralität im Alltag

Körper-Tsunami

Unmerklich choreografierte Menschenströme, kultivierte Umgangsformen, makellose öffentliche Räume, aber auch Phon-Orkane und schreiende Kunstlicht-Attacken: Großstadtbühne Tokio

Shibuya Crossing, an einem milden Februar-Abend. Wenn die Fußgängerampeln Grün zeigen, ist von den strahlendweißen Zebrastreifen, die Tokios berühmteste Straßenkreuzung zieren, nichts mehr zu sehen. Aus allen Richtungen ergießen sich gigantische Menschenwellen auf den Asphalt. Sie strömen an den Rändern des von trendigen Shopping Malls, von Wolkenkratzern und Hochbahntrassen umstellten Quadrats, wogen kreuz und quer, schwappen in der Mitte zusammen und sind im Nu wieder verlaufen. Kaum hat der motorisierte Verkehr freie Fahrt, staut sich auf den Gehwegen der nächste Körper-Tsunami. Organisiertes Chaos im Zwei-Minutenrhythmus. Was da pausenlos aufgeführt wird, ist ein streng getaktetes Live-Spektakel, eine Art spontanes Mitmach-Theater für alle, das sich immer wieder neu formiert. Und ein geschmeidiges Massenschauspiel, über das Besucher aus Europa nur staunen können.

Selbst in höchster Verdichtung gehen die Seitenwechsel ohne Rempler und Geschiebe ab. Als sei jede Bewegung von einem inneren Kompass gesteuert, der Kollisionen ausschließt. Gerade im hochfrequentierten öffentlichen Raum ist, so scheint es, die Sphäre des Einzelnen unantastbar. Umsicht, Rücksicht, Weitsicht – das sind auch im Gewimmel der Bahnhöfe Primärtugenden, an die sich alle halten. Wer auf einen der unentwegt kursierenden U-Bahn- oder einen der unzähligen Shinkansen-Turbozüge wartet, die Tokio mit den großen Städten auf der Hauptinsel Honshu verbinden, verharrt geduldig in ausgewiesenen Bereichen, bis der Ausstieg vollständig abgewickelt ist. Überhaupt liegt den Umgangsregeln, nicht nur in der Hauptstadt, offenbar eine Mentalität zugrunde, die das reibungslose Funktionieren im Kollektiv höher schätzt als die Ellbogenfreiheit des Ichs. Die zurückhaltende Höflichkeit der Japaner – sogar Zugbegleiter oder Fahrstuhlführer begrüßen und verabschieden das Publikum mit einer Verbeugung – ist Legende, doch sie ist auch seit Generationen eingeschliffene Etikette: Schmierstoff einer Zivilisation, die größten Wert auf die nicht selten radikal reduzierte Form legt. Die «leeren» Steingärten der Zen-Klöster oder Spielflächen des Nō-Theaters legen davon ebenso Zeugnis ab wie der erlesene Minimalismus der Küche oder die auf wenige Silben beschränkte Poesie der Haiku-Gedichte.

Aber die Megalopolis überfällt, attackiert auch die Sinne, schreiend, lärmend, mit gleißendem Kunstlicht. Besonders aufdringlich, ja aggressiv geriert sie sich etwa in Akihabara, dem Dorado der Manga-Kultur. Die allgegenwärtige, grellbunt flackernde Neon- und LED-Fassadenwerbung macht die Nacht hier zum Tag. An einer Straßenecke starren Tausende Gamer auf ihre Handys, um Pokémons zu fangen, digitale Fantasiewesen, die in der virtuell überformten Umgebung aufgespürt werden müssen. In Video-Spielhallen toben Phon-Orkane, die wie ein Frontalangriff auf das Ohr wirken: akustischer Dauerbeschuss jenseits der Schmerzgrenze. Viele Kunden dröhnen sich hier nach der Arbeit zu, sitzen in langen Reihen reglos vor den Screens. Draußen preisen junge Damen in kurzen Röckchen, Ringelstrümpfen, Servierschürze und Häubchen den Besuch eines der vielen sogenannten Maid Cafés an, in denen ausschließlich kleinmädchenhaft gestyltes Personal bedient – das Geschäft mit dieser auf infantil-naive Zuwendung frisierten Fantasiewelt floriert in einem Land, in dem der Gefühlsstau zum Alltag gehört wie das Läuten der Glocke und das zweimalige Händeklatschen der Gläubigen in den Shinto-Schreinen.

Das Leben, es läuft nach festen, meist ungeschriebenen, allseits befolgten Regeln. Wer hier Regie führt, bleibt im Dunkeln.

Albrecht Thiemann