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Rezensionen 29. April

Lina Beckmann, Gala Othero Winter, Foto: Lalo Jodlbauer

Hamburg: nach Thomas Bernhard «Die Übriggebliebenen»

Wie steht es heute eigentlich mit Thomas Bernhard, dem vor 30 Jahren verstorbenen österreichischen National-Nestbeschmutzer? Seine Stücke waren zuverlässige Skandalanlässe, als noch die Filbingers und Waldheims öffentliche Ämter bekleideten, die furchtbaren Juristen und Mitläufer, die nach dem Krieg ihre SS-Uniformen auszogen und mehr oder weniger bruchlos in bürgerliches Respektspersonal hinüberwechselten – ohne erkennbare Anzeichen von Bedauern. Sind Bernhards hochmanierierte Texte, in denen sich manische Vielredner – Unterdrücker und Unterdrückte – mit Monologen überschütten wie aus Zubern, die im typischen Bernhard-Sound aus apodiktischen Urteilen im Superlativ um den «Herkunftskomplex» kreisen, den ewig-österreichischen Katholizismus, Opportunismus und Nationalsozialismus, sind diese Stücke heute mehr als seltsame Erinnerungen an die Verbrechen der Groß- und Urgroßväter?

Im Hamburger Schauspielhaus unternimmt Karin Henkel einen großangelegten Test. Gleich drei kanonische Bernhard-Werke – die Stücke «Vor dem Ruhestand», «Ritter, Dene, Voss» und der letzte Großroman «Auslöschung. Ein Zerfall» – werden verarbeitet. Alle drei teilen ähnliche Konstellationen: terroristische Kleinfamilienhöllen, gerne auch inzestuös befruchtet, die sich nicht aus sich befreien können und gefangen bleiben in Nazi-Vergangenheit, Herkunft, Besitz und Tradition.

In «Vor dem Ruhestand», dem noch von Claus Peymann zum Abschied aus Stuttgart uraufgeführten Filbinger-Stück, feiert Gerichtspräsident Höller, ein ehemaliger KZ-Kommandant, alljährlich Himmlers Geburtstag mit seinen beiden Schwestern – die eine seine stramm-mütterliche Gesinnungsgenossin, die andere nach einem Bombenangriff zu Kriegsende verstümmelt und wehrlos, aber voller Verachtung für das SS-Treiben.

In «Ritter, Dene, Voss» holen zwei schauspielernde Schwestern mal wieder ihren Bruder Ludwig, den Philosophen, aus der Nervenheilanstalt nach Hause, wohin er sich gerne zurückzieht, um den Zumutungen des Elternhauses und allem damit verbundenen Stumpfsinn zu entkommen. In «Auslöschung» schließlich kehrt der Sohn und Alleinerbe nach dem tödlichen Verkehrsunfall der Eltern zur Beerdigung ins Familienschloss Wolfsegg zurück, wo seine Erzeuger in der Nachkriegszeit gerne fliehende Nazis versteckt hielten, die ihm als inzwischen wieder angesehene Honoratioren angemessen feierlich kondolieren werden. Aber auch in Wolfsegg leben noch zwei devote Schwestern, die das NS-Andenken in Ehren halten. – Dreimal drei Geschwister, die sich in soliden Familiengefängnissen umkreisen und belauern.

Muriel Gerstner und Selina Puorger haben dafür eine Bühne gebaut, die auch weniger zartbesaitete Kombattanten in die sofortige Depression stürzen muss: eine pechschwarze Puppenstube, fast leer bis auf die nötigsten, ebenfalls schwarzen Möbel, darunter ein paar gruselige Kindheits-Reminiszenzen – ein Laufstall, ein Gitterbettchen, ein Schaukelpferd. Dieses hochtraumatische Zurichtungs-Ambiente wird zu Beginn noch von einer lieblichen Kinderschar in Fifties-Kostümen als Spielplatz benutzt; später wird der Chor der Hamburger Kinder- und Jugendkantorei St. Petri/St. Katharinen brav bezopft in dunklen Traueroutfits noch mehrfach Musikalisches beisteuern.

Die Schauspieler kommen schließlich aus dem Keller. Ein vollgepackter Bühnenfahrstuhl fährt sie aus ihrer Unterwelt auf die Bühne, wo sie sich als liebevoll herausgeputzte Walking Dead verteilen: frische Leichenblässe im Gesicht, gelegentlich wegdrehende Augäpfel, somnambule Bewegungsroutinen. Einmal freigelassen, werden sie die nächsten zwei Stunden lang den Saal druckvoll mit Bernhard-Text beprasseln – ein hochenergetisches, von Verachtung getriebenes Widergängervolk.

Dabei treten die auf Handlungskerne zusammengestrichenen Bernhard-Texte nicht in geordneter Reihe, sondern bunt zusammengeschnitten auf. Oft sind alle neun Geschwister gleichzeitig auf der Bühne, der Fokus springt ansatzlos zwischen den drei Texten hin und her. Die Wolfsegg-Schwestern (im Partner-Düsterlook: Jean Chaize und Brigitte Cuvelier) und ihr angesichts der offenen Elternsärge – «Katafalkismus» – um Luft ringender Bruder (Tilman Strauß) sitzen ebenso unverrückbar in ihrem Existenzkerker wie André Jungs übergriffig-brutaler Höller und dessen Zombie-Familienangehörige Angelika Richter und Jan-Peter Kampwirth (mit malerisch entstellter Gesichtshälfte). Alle spucken ihre Sätze voll Wut und Hass, egal gegen wen.

Nur in «Ritter, Dene, Voss» läuft unter der wortreichen gegenseitigen Geschwisterverachtung und -erniedrigung eine Komödien-Spur mit, wenn sich Bettina Stucky (Dene!) als Drei-Minuten-Schauspielerin vorstellt («Ich kann drei Minuten gut sein, mehr nicht»), Gala Othero Winter mit der bösartigsten Selbstverachtung in unerschütterbarer Nüchternheit eine Flasche Wein nach der anderen in sich hineinschüttet oder Lina Beckmann (Ludwig) Thomas Bernhards grimmige Bürgerspäße zum Leuchten bringt: «Kann ich in diesem Einfamilienhaus mal was zu trinken haben?» Aber man soll sich nicht täuschen: Noch die witzigsten Bernhard-Geschöpfe lauern mit suadenreicher Bösartigkeit auf mögliche Opfer, die dann gnadenlos niedergeredet und abgeurteilt werden.

Die Nazis erweisen sich dabei schnell als mindestens so fürchterlich, unbeugsam und autoritär wie die Nicht-Nazis: Ideologien sind austauschbar, Mentalitäten nicht. Es gehe ihm nicht nur um die Nazis, es gehe um den autoritären Charakter, hat Bernhard selbst immer wieder betont, einen aus Wiederholungszwängen und übermächtiger Vergangheit kompromisslosen Typus Menschenfeind. Den hat dieser Schriftsteller zwar nicht erfunden, aber in immer noch eindrucksvolle Textgebirge gegossen. Wenn man sie etwas streicht und ihre schlimmsten Manierismen tilgt, sind diese Monumente der rücksichtslosen Selbstermächtigung nach wie vor erschreckend imposant.

Franz Wille

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