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Raus aus dem Tutu

Maria Seletskaja ergreift den Takt-Stock

Dem Ballett ist sie auch nach dem Umzug treu geblieben, der sie von der Bühne in den Orchestergraben führte. Denn jetzt ist die Ex-Tänzerin Maria Seletskaja als Dirigentin unterwegs

April 2018, beim Stuttgarter Ballett steht das Ballett mit den Hühnern und dem Pony auf dem Spielplan. Im ausverkauften Haus lacht das Publikum bei Frederick Ashtons «La Fille mal gardée», die Musik von Ferdinand Hérold sprudelt. Am Ende, wo sonst  ältere Herren im Frack auf die Bühne kommen, den Applaus entgegennehmen und das Orchester aufstehen lassen, verbeugt sich eine energische junge Frau im schwarzen Anzug, sie ist -schmaler als manche Ballerina. Die Tänzer klatschen an diesem Tag besonders heftig für die musikalische Leitung: Maria Seletskaja ist eigentlich eine von ihnen und hat gerade ihre Feuertaufe bestanden, sie hat ihre erste Aufführung dirigiert. Tatsächlich gehört die Tänzerin aus Estland am Abend ihres Debüts mit Taktstock offiziell noch als Solistin zum Ballet Vlaanderen in Antwerpen; erst Monate später wird sie ihre Bühnenkarriere beenden, um sich ganz ihrem «zweiten Leben» zu widmen, mit dem sie wahrhaft Neuland betritt: Eine Tänzerin als Dirigentin, das gab es noch nie.

Wie tritt man als Balletttänzerin, als blutige Anfängerin vor sechzig hochbezahlte, wesentlich ältere Staatstheater-Routiniers? Wie bekommt man die dazu, dass sie einen ernst nehmen? «Als ich vor dem Orchestergraben wartete – da gibt es ein rotes Licht –, da dachte ich: ‹Renn weg. Maria, was tust du da?› Ich hatte so viel geträumt von diesem Moment – ich dachte, ich gehe auf so einem Fashion Catwalk hinein, dann geht das Licht an, und ich verbeuge mich mit großer Geste, sage ‹Hallo› zum Konzertmeister und begrüße meine lieben Freunde, die Musiker … Als die Tür aufging, fühlte ich mich wie im Raumanzug. Köpfe drehten sich, Augen folgten mir, ich dachte: ‹Nicht hinfallen – oh Gott, dieses Licht, ich kann nichts sehen – vergiss nicht den Konzertmeister! Maria, das ist der Moment. Ich hab nichts zu verlieren, jetzt steh ich schon mal hier …› Und mit dem ersten Auftakt fühlte ich mich wie ein Fisch im Wasser! Das hatte ich nicht erwartet, nicht so schnell. Die ersten zehn Minuten stellten sie mich noch auf die Probe, sie spielten nicht mit mir, sondern mit dem Konzertmeister, das ist normal – und dann hab ich gesehen, wie die Blicke nach und nach zu mir wanderten, am Ende des ersten Bildes musizierten wir alle zusammen.»

Als junge Ballerina beginnt man irgendwo hinten im Corps de ballet, in der schützenden Gruppe. Als Tänzer kann man in jeder Rolle, ob als fünfter Schwan von rechts oder als Schwanenkönigin, ab und zu draußen ausruhen. Als Dirigent steht man gleich beim ersten Mal allein an vorderster Front und trägt zwei, drei Stunden lang die volle Verantwortung für den Abend, ohne ein winziges Nachlassen der Aufmerksamkeit. «Für uns Tänzer sind die Musiker Halbgötter, und der Dirigent ist ein Gott», sagt Maria Seletskaja. Ihr erstes Ballettdirigat bestritt die heute 34-Jährige ohne eine einzige Probe mit dem Stuttgarter Staatsorchester. Ihre Geigenlehrerin erklärte sie vorab für bescheuert, berichtet die ehemalige Solotänzerin mit ihrem trockenen Humor: «Es gab 14 ‹Fille›-Vorstellungen und ich bekam die 13. – die werden doch nicht einen Tag vorher extra für mich kommen und proben.» Drei Wochen vorher hatte sie erfahren, dass sie dirigieren wird; als «Cover Conductor», so heißt die Position, für die sie in Stuttgart engagiert war, assistiert man dem Dirigenten und leitet eventuell auch Proben, eine eigene Vorstellung aber nur dann, wenn der Maestro ausfällt.  

Seletskaja wusste sehr gut, dass die Chance einmalig ist: Ein Debüt an einem der großen Opernhäuser Deutschlands, mit einem A-Orchester (von D bis A gibt es hierzulande vier nach Größe und Tarifvergütung eingeteilte Kategorien für Profi-Orchester): Andere Dirigenten würden sich ein Bein dafür ausreißen. «Natürlich stand ich schon ein paarmal vor einem Orchester, aber immer mit einem Dozenten an der Seite. In der Masterclass dirigiert man einen Symphoniesatz, kleinere Stücke.» Obwohl sie zahlreiche Proben der «Fille» im Ballettsaal geleitet hatte, dort nur mit einem Pianisten und den Tänzern, lernte sie noch mal wie besessen, kannte die Partitur in- und auswendig, jeden einzelnen Einsatz. «Es war allgemeine Begeisterung beim Orchester», berichtet der Stuttgarter Ballett-Musikdirektor James Tuggle: «Normalerweise fängt man etwas bescheidener an – es ist ein langes Stück,  kompliziert zu dirigieren, das ist sehr gut gelungen!»

Von Furtwängler über Karajan bis Dudamel: Kein einziger weiblicher Name findet sich unter den legendären Pultgöttern, deren Charisma der britische Musikkritiker Norman Lebrecht als «die Inkarnation der Macht in den Augen der Mächtigen» beschreibt. Die Männerdomäne bröckelt erst in den letzten Jahrzehnten, noch 2013 verstieg sich der Russe Vasily Petrenko zu der Aussage, Orchestermusiker könnten von der «sexuellen Energie» einer Dirigentin verstört werden. Erst seit den 1980er-Jahren setzten sich Dirigentinnen wie Simone Young oder Marin Alsop durch, in der jungen Dirigenten-Generation sind die Frauen mächtig im Kommen. Während manche Pultstars durchaus herumtänzeln, waren nur selten ausgebildete Balletttänzer unter ihnen. Rudolf Nurejew dirigierte am Ende seines Lebens mehrere Konzerte, der Brite Leighton Lucas tanzte in den Ballet russes, bevor er Dirigent wurde, Aleksandr Lavrenyuk- im Bolschoi-Ballett. Maria Seletskaja aber ist ihres Wissens die erste Tänzerin, die auf diesen jahrhundertelang von Männern monopolisierten Beruf umschult.

Sie spielt Klavier, seit sie vier Jahre alt ist, ihre Lehrerin wollte sie damals lieber zur Konzertpianistin machen als zur Tänzerin. «Es war immer leicht. Ich spielte gern Klavier, aber ohne große Liebe. Ich verstehe jetzt, 30 Jahre später, dass es einfach nicht mein Instrument war, die Geige ist mein Instrument.» In Estland wie in Russland gehört zur Ballettausbildung das Erlernen eines Instruments, Seletskaja übte also weiter und spielte auch als Tänzerin Klavier: «Meine Mutter sagte: Behalte deine gute Technik, spiel wenigstens eine halbe Stunde am Tag.» Schon als ganz junge Tänzerin sprach sie mit den Orchestermusikern über Tschaikowskys «Nussknacker», eine Musik, die sie ihr Leben lang begleitet. Irgendwann in ihrer Zeit beim Staatsballett Berlin setzte sich der Gedanke ans Dirigieren fest. «Aber wo sollte ich anfangen? Ich wusste, ich kann nicht ans Konservatorium gehen, weil Balletttanzen hart genug ist.» Überall, wo sie war – erst als Solistin beim Staatsballett Berlin, dann als Erste Solistin in Heinz Spoerlis Zürcher Ballett und schließlich in Antwerpen – sprach Seletskaja mit den Ballettdirigenten, sie saß ja direkt an der Quelle. Paul Connelly lächelte nicht, wie befürchtet, sondern nahm sie ernst, ging die «Nuss-knacker»-Partitur mit ihr durch, gab ihr eine Liste von wichtigen Büchern. Für die theoretischen Grundlagen fand sie schließlich ein Fernstudium am Berklee College of Music in Boston: «Das war ein krasses Studium. Ich musste jeden Tag vier bis fünf Stunden dafür arbeiten, jeden zweiten Tag etwas schicken, jede Woche eine große Aufgabe.» Seletskaja trainierte tagsüber, trat abends auf und studierte nachts Musik. «So habe ich die letzten zehn Jahre gelebt. Deshalb bin ich auch froh, dass ich jetzt mit dem Tanzen aufhöre, weil ich endlich wieder weiß, was Freizeit bedeutet!» Denn einen kleinen Sohn hat sie zwischendurch auch noch bekommen. 

Sie studiert die vier Dinge, die man als Dirigent braucht: Musiktheorie, Gehörtraining, Harmonie und Orchestrierung. Und sie beobachtet weiter die Ballettdirigenten, bewundert in Antwerpen den Briten Dominic Grier am Pult: «Das war einfach ein Märchen. Er sprach kaum ein Wort, aber er zeigte alles mit seinen Händen.» Auch Grier hilft ihr weiter, er meldet sie als Teilnehmerin zu ihrer ersten Masterclass in England an: «Und da hat diese spannende Zeit begonnen. Ich bin Balletttänzerin und weiß, wie ein Relevé geht, aber ich wusste nicht, wie man mit der Fünften von Schostakowitsch umgeht. Ich dachte, ich würde ertrinken. Allein mein Auftakt dauerte zwanzig Minuten, aber ich war so inspiriert, ich war mitgerissen – ich wusste, das ist es, was mich lebendig macht.» Zwei Sommer lang studiert sie bei Rodolfo Saglimbeni («eine Bibliothek der Musikwissenschaft»), später bei ihrem Landsmann Paavo Järvi.

Dann kam James Tuggle nach Antwerpen, um Demis Volpis Inszenierung des «Nussknacker» musikalisch zu leiten. Er lädt sie mit einem «Okay, young lady» zum Trockendirigieren ein – in Stille, die Musik klingt nur im Kopf, es ist wirklich hart. Zwei Stühle mit einem Schneidebrett dienen als Notenpult, sie dirigiert den «Nussknacker», was sonst: «Wenn es keine Musik gibt, wenn sie nur in deinem Kopf ist, dann weiß man wirklich, ob man die Musik kennt oder nicht. Ich dachte, ich weiß einfach nicht genug, ich bin nicht fähig. Aber James schien ganz zufrieden zu sein. Er sagte: ‹Maria, du beherrschst deinen Körper so gut, du kannst locker mit dem Orchester tanzen. Aber ich will nicht, dass du tanzt. Du musst alles hier im Kopf haben und dann das Orchester provozieren. Das ist deine Aufgabe›.» Wichtig, so sagt sie, ist eine sehr klare, pünktliche Schlagtechnik – wenn man die nicht beherrscht, dann spielt das Orchester nicht mit.

Tuggle lädt sie dann als Cover Conductor für «La Fille mal gardée» nach Stuttgart ein, die Generaldirektorin der Antwerpener Oper findet ihre Ambitionen großartig und macht die vielen Abwesenheiten möglich. Seletskaja dirigiert Proben, und die Tänzer sind glücklich, weil die Noch-Kollegin immer genau das richtige Tempo für sie wählt. «Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis dafür, genau das Tempo wiederzugeben, das sie schon im Ballettsaal gewählt hat», sagt James Tuggle und fügt hinzu: «Viele Dirigenten haben diese Begabung gar nicht, die sind in Konzerten gut aufgehoben. Man muss die Körpersprache lesen können, das muss ein Dirigent wie ich zuerst lernen. Wir sind trainiert, Musik zu verstehen, die nimmt man akustisch wahr. Aber Tanzschritte mit den Augen wahrnehmen, die Tänzer verstehen – das dauert, manchmal sogar Jahre. Maria versteht schon die Bewegung an sich.» Tamas Detrich, damals noch stellvertretender Ballettdirektor in Stuttgart, gibt ihr schließlich die wichtige Chance auf einen eigenen Abend. 

«Maestra» würde eigentlich der passende Titel lauten, gehört hat sie ihn aber noch nie. Fünfzehn Spielzeiten lang hat Maria Seletskaja getanzt, all die großen Rollen, es war eine schöne Karriere – aber das Dirigieren ist noch schöner, die äußerlich so strenge, disziplinierte Frau glüht regelrecht dafür. «Mein Vorteil ist, dass ich getanzt habe. Ich habe viel Respekt vor den Tänzern und weiß, wie anders das ist, wenn Musik lebt und dich nicht drängt. Ich werde das Orchester in den Proben gerne daran erinnern.» Sie hofft, dass Ballettdirektoren ihr besonderes Verständnis für Tänzer schätzen werden – dann kann sie «die Musik wieder durchleben und mitleben. Ich will keine Weltkarriere machen, mein Ziel ist nicht, ein großer Name zu werden. Ich werde einfach glücklich sein, wenn ich dirigiere, wenn ich das jeden Tag tun darf.»

Angela Reinhardt

Maria Seletskaja dirigiert am 8. und 9. Juni «Mayerling» von Kenneth MacMillan beim Stuttgarter Ballett; www.mariaseletskaja.com