Peter Lund, Sie arbeiten seit 1987 als freier Regisseur und Autor, seit 2002 sind Sie Professor im Studiengang Musical/Show an der Universität der Künste Berlin. Was macht Ihnen mehr Spaß, Regie führen oder Unterrichten?
Das hält sich Gott sei Dank die Waage. Das -Unterrichten war allerdings nie mein Lebensziel, ich wollte immer unbedingt Regisseur werden. Ich habe aber auch schnell gemerkt, dass ich den universitären Rahmen sehr zu schätzen weiß – ein bisschen akademischen Rückenwind zu haben, forschen zu dürfen, die Freiheit zu haben, Dinge auszuprobieren. Ich selbst war ja nie auf einer Kunsthochschule, ich habe Architektur studiert. Als ich hier an der UdK anfing, noch mit Lehrauftrag, da war ich selber erst 27 Jahre alt, also nur wenig älter als die Studenten. Ich bin dann langsam in meine Rolle hineingewachsen und habe natürlich auch einiges vom akademischen Verwaltungsalltag kennengelernt – zugegeben nicht der allerschönste Aspekt des Lehrberufes. Aber auch als Leitungsmitglied der Neuköllner Oper weiß ich ja, dass man gewisse bürokratische Hausaufgaben machen muss, um sich künstlerische Freiräume zu verschaffen. Übrigens bin ich selbst an dieser Hochschule zweimal durch Aufnahmeprüfungen gefallen. Umso mehr freut mich natürlich, dass ich schließlich doch noch hier gelandet bin.
Professor für Show
Peter Lund trainiert dreifache Darsteller
In welche Einzelbereiche gliedert sich der Studiengang Musical/Show?
Unser Studium umfasst vier Bereiche, neben Tanz, Gesang und Schauspiel gibt es noch den Bereich «Integral», quasi die Zusammenführung der übrigen drei Teilbereiche. Es nützt ja nichts, wenn jemand alle drei Sektionen beherrscht, aber gar nicht begreift, was das eine mit dem anderen zu tun hat oder wie man den Übergang vom einen zum anderen gestaltet, kurz: was man womit am besten erzählt. Das alles mündet im dritten Jahr organisch in die erarbeitete Uraufführung. Hinzu kommt das von meinem Vorgänger gegründete Fach -«Labor», da widmen wir uns der Erforschung des eigenen Selbst, der Psyche, um herauszuarbeiten: Wie funktionierst du, wie reagierst -du, was liegt dir, was kannst du besonders gut, wo sind deine -Blockaden …
Müssen Studierende bei Ihnen eigentlich auch Bücher lesen?
Zu -wenig, wie ich finde. Aber das hat damit zu tun, dass der Stundenplan sehr voll ist und alle unter großem Zeitdruck stehen, denn es ist ja das Markenzeichen unserer Ausbildung, dass wir versuchen, drei Künste in derselben Zeit zu unterrichten, die etwa einem Gesangsstudenten in seinem gesamten Studium zur Verfügung steht. Unsere Studenten haben eine 40-Stunden-Woche, und wenn sie dann noch zusätzlich privat Gesangsübungen machen, an der Stange trainieren oder eine Choreografie einstudieren, dann kommen die locker auf 60 Stunden in der Woche. Lektüre beschränkt sich da zumeist notgedrungen auf die Stücktexte, aber auch auf Dramaturgisches, auf das musikalische Repertoire und natürlich auf die Grundlagen von Theater- und Musicalgeschichte.
Wie laufen die Aufnahmeprüfungen zum Studium Musical/Show an der UdK ab? Muss man sich das ein bisschen wie ein Casting vorstellen?
Na ja, das Casting ist natürlich durch Formate wie «DSDS» und Ähnliches inzwischen recht stereotyp bebildert, aber gewisse Parallelen gibt es schon. Selbstverständlich ist eine Aufnahmeprüfung umfassender und gründlicher. Wir suchen ja nicht den Superstar, sondern dreifach begabte Menschen, die es ernst meinen mit ihrem Berufsziel. Wir, das sind bei der Aufnahmeprüfung neun Lehrende, drei vom Schauspiel, drei vom Gesang und drei vom Tanz. Und dann schauen wir uns sieben Tage lang an, was die Bewerber uns innerhalb einer Viertelstunde alles so zeigen. Darstellerische Begabung hat ja unglaublich viel mit Instinkt zu tun, man merkt recht schnell, wer diese Ausstrahlung und Spielfreunde auch wirklich mitbringt. Was den -Gesang angeht, besitzen die meisten in unserer heutigen medialen -Gesellschaft ohnehin schon die eine oder andere Form der Vorbildung. Naturtalente sind da eher die Seltenheit. Im Tanz sind die Vorbedingungen – vor allem bei den Herren der Schöpfung – am wenigsten selbstverständlich, daher verfahren wir dort auch am großzügigsten. Was die Auswahl der einzelnen Prüfungsstücke angeht, die vorgesungen, vorgetanzt und vorgespielt werden, können die Bewerber ihr eigenes Programm anbieten, aus dem wir dann drei Nummern aussuchen.
Wie ist das Geschlechterverhältnis bei den Aufnahmeprüfungen?
Nur einer von zehn Bewerbern ist männlich. Wenn sich die Jungs allerdings wirklich zur Prüfung entschließen, dann sind sie meist auch außergewöhnlich gut vorbereitet.
Fällt bei Ihnen oft der Satz: «Versuch‘s lieber nächstes Jahr noch mal»?
Auf jeden Fall, gerade bei ganz jungen Kandidaten. Vielen 17-Jährigen müssen wir raten, erst einmal zu sich selbst zu finden, insbesondere wenn sie, oft auf eigene Faust, nach Berlin gekommen und plötzlich ganz auf sich gestellt sind. Das allein ist für so junge Menschen schon ein ziemlich hartes Brot. Und im Studium, das muss man sich klar machen, wird man einfach jeden Tag unentwegt bewertet, jede Regung, jeder Blick, jeder Ton, jede Bewegung. Steck das mal weg als Teenager!
Und der Satz: «Komm besser gar nicht wieder»?
Der fällt auch. Bei den Vorrunden können wir leider keine persönlichen Einzelgespräche führen, aber in den späteren Prüfungsphasen sagt man schon mal: Meines Erachtens hat es wirklich keinen Sinn. Andererseits irrt man sich aber auch oft. Ich habe schon Leute Karriere machen sehen, die anfänglich keinen Funken Talent erkennen ließen. Da zeigt sich wieder, dass eben auch der unbedingte Wille eine bedeutende Rolle spielt. Warum sollte man vorschnell sagen: Deine Stimme wird nie ausreichen? Es gibt großartige Künstler mit merkwürdigen Stimmen, wenn auch selten im klassischen Opernbereich. Aber selbst Maria Callas hatte eine merkwürdige Stimme, wenn man so will. Man kann also wirklich nur sagen, und ich finde, das ist auch die Aufgabe einer Hochschule: Für uns hier, an diesem Ort, bist du nicht die oder der Richtige. Aber was heißt das schon? Unter Umständen gar nichts.
Wie schätzen Sie den Konkurrenzdruck unter den Studierenden ein?
Der ist schon sehr hoch, aber wir versuchen natürlich immer, ihn ins Produktive zu wenden. Indem wir zum Beispiel sagen: «Tu dir das nicht an, du kannst das Bein nicht so hoch heben wie Beate, du kannst den Ton nicht so gut singen wie Philip, konzentrier dich stattdessen auf das, was du kannst wie kein anderer Mensch auf der Welt. Und die anderen Sachen übst du eben trotzdem weiter.» Natürlich gibt es auch immer mal wieder die «triple threats» ...
Triple threats?
Ja, die «dreifachen Bedrohungen», also die, die alles gleich gut können. Eine Ute Lemper zum Beispiel.
Vor wenigen Tagen haben Sie in Chemnitz mit Ihrer Absolventenklasse das Musical «Drachenherz» uraufgeführt – ein Stück über «Ehre, Verrat und Treue», wie man im Vorfeld der Premiere lesen konnte. Sie sind der Autor, Ihr langjähriger künstlerischer Partner Wolfgang Böhmer hat die Musik komponiert. Wie lief’s denn?
Ziemlich gut! Wir haben zum ersten Mal unsere erprobte Zusammenarbeit mit der Neuköllner Oper, mit der wir bislang unsere Absolventen-Uraufführungen bestritten haben, erweitert. «Drachenherz» ist also eine Kooperation von drei Häusern, die Oper Chemnitz hat sich in punkto Produktionsmitteln großzügig gezeigt, im Gegenzug fand nun dort die Premiere statt. Und wir wurden sehr gefeiert, was umso erfreulicher ist, wenn man bedenkt, dass wir dem Chemnitzer Opernpublikum mit «Drachenherz» etwas vorgesetzt haben, an das es im Grunde überhaupt nicht gewöhnt ist: Unser Stück kommt sehr aus der Schauspielästhetik, spielt im Heute und ist bisweilen auch recht brutal. Immerhin haben wir uns die Siegfried-Sage ausgesucht, inklusive Mord am Schluss – für das Chemnitzer Opernpublikum also durchaus starker Tobak. Zumal beim Musical ja in der Regel ein Happy End erwartet wird. Den Reaktionen haben wir dann aber entnommen, dass wir uns als Stückeschreiber nicht geirrt haben, und dass die Absolventen die Sache ganz toll gewuppt haben. Es war eine klassische Uraufführung am Opernhaus Chemnitz, da ist das Gros des Publikums 60 Jahre und aufwärts. Aber das Interesse an einem Stück über Jugendliche war doch deutlich spürbar.
Ehre, Treue, Verrat. Wie kamen Sie auf diese Nibelungen-Themen?
Mit dem Siegfried-Stoff habe ich mich schon einmal vor zehn Jahren auseinandergesetzt, weil man mich gefragt hatte, ob ich für die Wormser Festspiele eine Musical-Variante erarbeiten könnte. Das -Projekt kam damals zwar nicht zustande, aber ich merkte sofort, was für ein großartiger Jugendstoff das eigentlich ist. Das gilt eigentlich für alle Sagen, die kommen ja gewissermaßen aus der Jugend der Menschheit. Solche archaischen Konkurrenzverhältnisse lassen sich überraschend gut auf heutige Jugendliche ummünzen, die nicht genau wissen, wohin mit ihrer Kraft. Das betrifft insbesondere auch die Jungs, die sich fragen: Wie werde ich Mann, und was bedeutet Mann-Sein heute eigentlich? Das führt dann wiederum zu der Frage: Wer oder was ist heute eigentlich ein Held? Als junger Mensch ist man ganz schön gefordert, den eigenen Platz in der Gemeinschaft zu -finden.
Welche Rolle spielt der Tanz in «Drachenherz»?
Ich denke, eine ganz besondere. Es sind nämlich gerade die Tanzszenen, die bei aller Dras-tik des Stückes die Herzen der Zuschauer auf direktem Wege erobern. Das ist eben das Tolle am Musical, da schleichen sich dir Gesang und Tanz ins Herz, ob du’s willst oder nicht. Selbst wenn jemand am Ende zum Mörder wird. Ich glaube, als reines Schauspiel hätte man den Stoff irgendwie analytischer ertragen, aber dass die dann auch noch tanzen und singen …
Unerhört!
Ja, wenn man böse Leute schöne Lieder singen lässt, dann provoziert man die Zuschauer anscheinend richtig. Das habe ich schon oft erlebt. Die sind dann regelrecht wütend mit dir als Theatermacher, weil sie sich quasi hintergangen fühlen. «Drachenherz» ist jedenfalls auch ein Kampfstück, und Kampf ist Tanz. Tanz kann unglaublich emotionalisierend wirken und ist hervorragend dazu geeignet, Kaputtheit, Zerstörung oder körperliche Extremzustände auszudrücken. Deshalb begrüße ich es auch, dass Hip-Hop und diverse verwandte Techniken mittlerweile bei uns im Lehrplan zunehmend eine Rolle spielen. Überraschenderweise ist Musical nämlich ein vergleichsweise konventioneller Bereich, der lange braucht, um zeitgenössische Strömungen zu integrieren. Wenn das klassische Ballett die Vision vom Fliegen, von Eleganz und Schwerelosigkeit ist, dann verdeutlichen die modernen Formen – Body Isolations im Hip-Hop beispielsweise – sehr wirkungsvoll den Zerfall unserer heutigen Welt. Solche Chiffren von Isolation oder Auflösung kann einem gerade der Tanz in Sekundenschnelle vor Augen führen.
Also gibt es in «Drachenherz» keine stilistischen Ausflüge ins klassische Idiom?
Oh doch! Während sich die Jugendgang mit modernem Bewegungsvokabular vorstellt, haben wir lange überlegt, wie sich der hinzukommende Held eigentlich einführen könnte. Der springt ja seinem Kumpel Woda, einem Migranten aus Afrika, zu Hilfe – sozusagen ein Spiderman-Effekt –, für den Wolfgang Böhmer einen kleinen -Swing à la Fred Astaire komponiert hat. Und die kesse Sohle, die unser Held da hinlegt, die zeichnet ihn als eine Figur von ungewöhnlichem Zuschnitt aus. Später im Stück gibt es dann noch eine Szene, in der sich Woda mit einem Mädchen anfreundet. Die beiden haben da ein flüchtiges, kleines Duett, das noch nicht in Richtung Liebe oder Sex geht, sondern erst mal nur vorsichtig von gegenseitiger Sympathie kündet. Diese Begegnung haben wir in einen klassischen Pas de deux gekleidet.
Sie sagten vorhin, Sie greifen motivisch auf die Siegfried-Sage zurück. In der Ankündigung heißt es dazu: «Siegfried musste sterben, weil es damals offensichtlich keinen Platz gab für echte Helden. Gibt es diesen Platz heute?» Haben Sie eine Antwort auf diese Frage gefunden?
Wir betrachten das Stück zunächst mal als Zustandsbeschreibung: Alle wären so gerne Helden, aber die Welt ist nun mal nicht so, keiner will sie haben. Und derjenige, der wirklich einer sein könnte, wird auch ganz schnell wieder kaltgestellt, damit auch überall schön wieder Nivellierung herrscht. Helden sind heute vielleicht 16-jährige Aktivistinnen, die sich für das Klima engagieren. Trump ist jedenfalls keiner. Dieser blonde Haudrauf wäre wahrscheinlich früher ein Held gewesen, mit solchen Menschen hat man einst Kriege gewonnen. Ich glaube, ein richtiger Held wäre jemand, der unsere komplexe Welt in den Griff bekommt und trotzdem noch einigermaßen anständig als Mensch funktioniert.
Das Gespräch führte Marc Staudacher
«Drachenherz» am 4. und 26. April an der Oper Chemnitz; ab 13. Juni an der Neuköllner Oper in Berlin
www.udk-berlin.de; www.peterlund.de