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Strauss im Glück

Shootingstar seit Salzburg: Asmik Grigorian

Frau Grigorian, in zwei Stunden werden Sie auf der Bühne der Oper Frankfurt als Iolanta auftreten. Vor zwei Tagen haben Sie in Stockholm Madama Butterfly gesungen, gestern sind Sie für ein Konzert mit Opernarien nach Genf geflogen. Und jetzt geben Sie noch ein Interview. Sind Sie verrückt?
(lacht) Nein, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Und die Iolanta ist ja zum Glück, was die Anforderungen betrifft, nicht vergleichbar mit der Butterfly. Das Einzige, was mich wirklich ermüdet, ist Reden. Aber ich will es versuchen.

Blicken wir noch einmal zurück in den Salzburger Sommer 2018. Da gab es am Ende der «Salome»-Premiere diesen berückenden Moment: Der Regisseur Romeo Castellucci ging vor Ihnen auf die Knie und bedankte sich. Hat Sie das überrascht?
Nicht wirklich. Denn es war das Resultat von sechs Wochen Proben, bei denen wir, die Solisten, ständig vor ihm auf die Knie gegangen sind – und er vor uns. Das war einfach ein fantastisches Team, eine tolle, schöne Arbeit.

Können Sie die Aura dieses Künstlers beschreiben? Was macht Castellucci anders? Seine Arbeiten sind ja anders, ihre Perspektive ist es.
Zunächst hat er enormen Respekt vor jedem Werk, das er inszeniert, und ebenso vor den Sängerinnen und Sängern. Er fragt während der Proben sehr viel: «Geht das? Fühlst du dich hiermit oder damit wohl? Sage mir, wie du die Szene siehst.» Durch diese Art der Kommunikation werden alle Beteiligten sehr offen für seine Ideen. Das ist das eine. Das andere sind seine Metaphern. Ich habe so etwas nie zuvor erlebt: diese überbordende Bildfantasie, die beispielsweise ganz anders ist als diejenige von William Kentridge, mit dem ich ein Jahr zuvor in Salzburg Bergs «Wozzeck» erarbeitet hatte. Den Sinn all der Bilder, die Castellucci in seinem Kopf hat, ihre Symbolik, vermag wohl niemand wirklich in Gänze zu durchschauen. Aber mir half das, die Figur Salome psychologisch wie musikalisch deutlicher zu fassen.

Wie nahe ist Ihnen diese Mischung aus kleinem unschuldigen Mädchen und kaltem Racheengel persönlich?
Ich glaube, wir alle haben das in uns – den Racheengel und das Kind. Wichtiger aber ist für mich, über das konkrete Beispiel Salome hinaus, dass ich in jeder einzelnen Rolle – manchmal tiefer, manchmal etwas weniger tief – die Figur bin, die ich spiele. Ich werde zu dieser Figur. Ich bin ein Typ, der alles, was in ihr steckt, aufsaugt. Und nicht nur auf der Bühne. Auch außerhalb. Nehmen wir diese Stadt, Frankfurt. Ich wohnte während der Probenzeit zu «Iolanta» in einem Appartment mitten im Bahnhofsviertel. Jeden Tag ging ich an Prostituierten, Obdachlosen und Junkies vorbei. Und jedes Mal dachte ich: «Ich könnte eine von ihnen sein. Es ist doch nur ein Zufall oder Schicksal, dass ich Sängerin bin. Es ist Glück.» Und diese Erfahrung hat mich eines gelehrt: Ich kann mich in andere Figuren auch und gerade deshalb so gut hineinversetzen, weil ich sie tatsächlich sein könnte. Ich spürte förmlich, wie ich da auf der Straße stehe und meinen Körper feilbiete. Und das ist mir nicht fremd; das ist ein Teil von mir, ein Teil meiner Empfindungen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich bin ich glücklich, dass ich Opernsängerin bin, dazu noch eine erfolgreiche. Aber es könnte schon morgen ganz anders sein; das weiß man nie. Und wenn ich auf der Bühne sterbe, fühle ich den Schmerz. Er ritzt sich gleichsam in meine Haut ein.

Hat diese Intensität der Empfindung womöglich mit Ihrer Herkunft zu tun? 
Nein, das glaube ich nicht. Es ist wohl eher mein Charakter. Ich glaube, ich bin einfach hypersensibel. Auf der Bühne erzeugt das eine Extraportion an Energie – abseits davon ist es nicht immer ganz leicht. Die größere Herausforderung besteht für mich definitiv darin, diese Gefühle im normalen Leben richtig zu sortieren (lacht).

Die Reaktionen auf die Salzburger «Salome» waren enorm. Plötzlich waren Sie in aller Munde, obwohl Sie bereits in der Saison davor als Marie brilliert hatten. Hat diese Produktion etwas verändert in Ihrem Verständnis von Kunst, in Ihrem «normalen» Leben, vielleicht sogar im Denken über sich selbst? Oder haben Sie einfach nur Ihren Job gemacht und Extraportionen Gefühle verteilt?
Beides ist richtig: In gewisser Hinsicht hat diese Produktion gar nichts verändert, weil sie das Resultat einer hochkonzentrierten Arbeit war. Aber ich habe noch ein anderes Leben, und in diesem Leben bin ich Mutter zweier Kinder, die sich natürlich jeden Tag die gleiche Frage stellt: «Muss ich wirklich so viel arbeiten?» Man hat ja immer die Wahl ... Ich versuche einfach immer, das Beste zu geben, als Sängerin und als Mutter. Andererseits war es ein großes Geschenk, diesen Erfolg beim Publikum zu haben, zu wissen, dass alle Beteiligten mir vertraut haben, dass ich es schaffe. Aber zurück zum Kern Ihrer Frage: Es ändert sich jeden Tag alles, unabhängig von der «Salome». Natürlich hat mir diese Produktion viele Türen geöffnet. Ich kann unter vielen Angeboten auswählen, was geradezu luxuriös ist. Aber es ist zugleich eine conditio sine qua non. Denn eines ist mir ganz wichtig: Ich brauche genügend «Quality Time».

Was verstehen Sie darunter?
Mit den Künstlern zusammenzuarbeiten, die ich liebe, und bei denen ich weiß, dass die Proben so angenehm wie intensiv sind – und das Resultat am Ende ein besonderes ist. Was das angeht, verdanke ich Salzburg sehr viel. Auf der anderen Seite ist der Druck gewachsen. Er ist riesig. Und zwar nicht von außen. Sondern von innen.

Weil jeder von Ihnen nun das Ultimative erwartet?
Das weniger. Jeder erwartet das, immer. Und ich gebe jeden Abend 100 Prozent – was kein Problem ist, wenn ich weiß, dass die Leute mich dafür lieben. Aber innendrin sieht es manchmal anders aus. Vor einigen Monaten beispielsweise hatte ich eine kleine Krise. Mein Körper steckte irgendwie fest. Und ich wusste auch, warum: Ich hatte mich zu sehr gepusht, weil ich fälschlicherweise glaubte, ich müsste, sobald ich nur eine Bühne betrete, großartig sein. Irgendwann schlug ich die Augen auf und dachte: «Das ist doch gar nicht möglich, das kannst du doch gar nicht!» Und ich wusste, was zu tun war. Ich musste einfach so weitermachen wie vor der «Salome», dann würde es wieder gut werden. Ich hatte während dieser Zeit ein Gespräch mit einer Freundin, die in einem Opernorchester spielt. Sie ist immer im Graben. Aber wenn das Orchester ein Symphoniekonzert spielt, dann kann man die Musiker alle sehen, wie Schmetterlinge, die plötzlich durch die Luft schwirren. Und während ich mich mit dieser Freundin unterhielt, verstand ich plötzlich: Mir ging es genauso wie ihr. Eigentlich tue ich das Gleiche wie vorher, nur sind jetzt sämtliche Kameras auf mich gerichtet. Ich hoffe, dass ich damit umgehen kann.

Aber was ist das für ein Leben zwischen Bühne, Hotel und Flughafen?
Ich kenne es nicht anders. Meine Eltern waren beide Opernsänger, allerdings sehr bald geschieden, so dass ich eigentlich immer unterwegs war. Natürlich ermüdet das. Und vielleicht bin ich dieses Dasein eines Tages auch leid. Doch momentan genieße ich dieses Leben – noch.

Macht die Tatsache, dass Sie eine Familie mit zwei Kindern haben, die Kunst leichter? Sie können ja zur Not immer in dieses zweite Leben entfliehen ...
Ich kann nicht prophezeien, was wäre, wenn ich keine Kinder hätte: Ich habe welche. Aber ich würde es, wäre ich kinderlos, nicht anders machen. Zugegeben, es gibt Produktionen, die ich nicht mag. Aber der Respekt vor dem Team und vor dem Opernhaus, das mich engagiert hat, gebietet mir in solchen Fällen durchzuhalten. Ich kann ja nicht revoltieren und verkünden: «Das ist Bullshit, ich gehe!» Aber die Zukunft organisiere ich sorgfältiger: Ich weiß, dass meine Tochter 2023 sechs Jahre alt sein wird; meine Opernpläne reichen bis in dieses Jahr. Ich muss das abstimmen. Natürlich suche ich jetzt sehr vorsichtig die Rollen aus, die ich singen möchte, denn ich will bei meiner Tochter sein, wenn sie in die Schule kommt. Zwei Produktionen pro Jahr, im Einzelfall vielleicht drei, aber mehr werde ich nicht machen.

Kommen wir noch einmal kurz zurück auf Salzburg. Nach einer solch ungewöhnlichen Arbeit dürfte es schwer sein, in eine, sagen wir, «gewöhnliche» Produktion einzusteigen. Anders gefragt: Lässt sich das Glück wiederholen?
Sie sprechen damit einen für mich sehr wichtigen Punkt an. Ich glaube, das Glück kann man nur dann finden, wenn man nicht danach sucht. Und das gilt für alle Bereiche des Lebens. Wenn beispielsweise im Sommer die «Salome» wiederaufgenommen wird, darf ich auf keinen Fall das imitieren, was ich im vergangenen Jahr gemacht habe. Es wäre der größte Fehler. Ich muss mit einer neuen Energie, mit neuen Ideen daran gehen. Wenn wir versuchen, etwas Schönes zu wiederholen, klappt das garantiert nicht. Im Leben nicht. Und in der Kunst auch nicht. Nehmen wir den «Wozzeck» in Köln. Es war ein extrem starkes Team: Ingo Kerkhof führte Regie, Florian Boesch gab den Wozzeck. Und das war außergewöhnlich. Es war grandios.

Solche Erfahrungen bleiben in Kopf und Körper. Können Sie sie irgendwann ausblenden?
Das ist undenkbar. So wie es mir auch unmöglich ist, noch einmal in Prokofjews «Feurigem Engel» aufzutreten. Ich habe die Renata an der Seite von Dmitri Hvorostovsky gesungen. Als er im November 2017 starb, wusste ich, dass ich es nicht mehr machen kann. Ich habe zu diesem Stück nichts mehr zu sagen.

Was bedeutet das für Salome? Sie werden die Figur demnächst in New York verkörpern.
Mit der «Salome» ist es etwas anders. Ja, es gibt eine neue Produktion an der Met, mit Claus Guth. Ich liebe ihn als Regisseur. Auch mit Christof Loy könnte ich mir das Stück sehr gut vorstellen.

Romeo Castellucci, Claus Guth, Christof Loy und auch Peter Konwitschny: Sie spielen anscheinend gerne mit den Jungs aus der Champions League!
Ist das nicht fantastisch? Ich habe – mit wenigen Ausnahmen – stets nur mit den besten Regisseuren gearbeitet. Das macht mich sehr glücklich. Und wenn ich meinen Kalender für die nähere Zukunft anschaue, bin ich immer noch glücklich.

Namen von Stücken und Daten verraten Sie natürlich nicht ...
Nein. Ich kann nur so viel sagen: Es sind sämtlich Künstler, vor denen ich größten Respekt habe. Das Schöne daran: Ich kann mir bei jedem Vertrag genau überlegen, ob ich ihn unterschreibe oder nicht. Das ist ein Privileg, das ich sehr zu schätzen weiß.

Sie werden von allen großen Häusern dieser Welt angefragt. Dennoch kehren Sie jetzt ans Opernhaus Ihrer Heimatstadt Vilnius zurück – a sentimental journey?
Es ist stets etwas Besonderes, nach Litauen zu kommen. Das ist mein Zuhause, auch wenn ich nur sehr selten dort bin. Mein Sohn geht da zur Schule, ich bin dort aufgewachsen. Und die Oper in Vilnius ist für meine Familie ein ganz besonderer Ort. Einmal pro Jahr finden wir da zusammen.

Ihre Eltern, die Sopranistin Irena Milkevičiūtė und der armenische Tenor Gegham Grigorian, kennen das Haus sehr gut. Gab es da bei der Berufswahl Druck?
Sagen wir es so: Sie haben nichts forciert. Aber mein Vater wollte immer, dass ich Sängerin werde – wofür ich ihm heute sehr dankbar bin. Er hatte eine große Karriere. Aber er half mir nie mit «Vitamin B», obwohl er das gekonnt hätte, schließlich war er eng mit Plácido Domingo und Valery Gergiev befreundet. Ich hatte keine Sonderstellung. Aber ich musste mich deswegen auch nie verstellen, ich durfte immer ich selbst sein. Entsprechend normal verlief meine Entwicklung.

Ihr Debüt haben Sie 2000 in der georgischen Schwarzmeerstadt Batumi gegeben, als Desdemona. Was für ein kecker Einstieg!
(lacht) O ja, das kann man wohl sagen. Doch damit verbindet sich auch eine der schönsten Geschichten meines Lebens. Ich war Studentin, da kam eines Tages Badri Maissuradze zu mir, der wunderbare georgische Tenor. Er fragte mich: «Asmik, singst du Desdemona? Und ich antwortete ihm wahrheitsgemäß: «Ich singe gerade keine einzige Rolle. Ich studiere Rollen.» Ihn ließ das völlig kalt: «In drei Tagen singst du Desdemona in Batumi.» Ich stand vor einem kleinen Problem: Maissuradze war ein Freund der Familie, ich konnte nicht ablehnen. Zum Glück lerne ich sehr schnell. Also studierte ich die Partie binnen drei Tagen, allerdings im Glauben, es sei eine szenische Aufführung. Ich flog dann über Moskau, wo ich Stunde um Stunde in einem Café am Flughafen saß. Als ich einmal nach draußen ging, um frische Luft zu schnappen, legte ich meinen Klavierauszug auf einen Stuhl – und was sah ich, als ich zurückkam? Der Klavierauszug war weg! Und mir fehlten noch drei Seiten, die ich auswendig lernen musste (lacht). Also rannte ich los und fand heraus, dass die Kellnerin den Klavierauszug in den Mülleimer geworfen hatte. Ich erhielt ihn zurück, allerdings mit Salat und Fett garniert, und lernte die restlichen drei Seiten. Als ich schließlich nach Batumi kam, erfuhr ich, dass der «Otello» konzertant gegeben werden würde. Aber ich hatte kein Kleid dabei. Und, schlimmer noch, ich hatte diesen Ausflug vor meinem Vater verheimlicht. Allein, mir blieb keine andere Wahl: Ich rief meinen Vater an, der auch vor Ort war, und sagte: «Papa, ich bin in Batumi und singe morgen Abend Desdemona.»

Und was war sein Kommentar?
Er sagte nur: «Spinnst du?» (lacht) Aber es nützte nichts, ich brauchte trotzdem ein Kleid.

Und er brachte es Ihnen natürlich.
Ja, klar!

Kam die Desdemona nicht ein bisschen früh?
Ach, das ging schon, es ist ja eine überwiegend lyrische Partie. Weit gefährlicher war die Rolle, mit der ich 2004 am Opernhaus von Vilnius debütierte: die Donna Anna in Mozarts «Don Giovanni». Und gleich danach sang ich die Violetta Valéry.

Ganz schön mutig! 
Ja. Aber die Donna Anna war weit gewagter als die Violetta. Generell verstehe ich nicht, dass, auch in Litauen, die Gesangspädagogen der Meinung sind, man solle zu Beginn seiner Karriere Mozart singen. Ich denke, dass es falsch ist, insbesondere für größere Stimmen. Mozart sollte man erst singen, wenn man ihn sehr gut kennt. Vorher ist es geradezu fahrlässig, denn man kann seine Stimme ruinieren. Mozarts Musik provoziert all die falschen Dinge, die man als Student macht, egal, ob als Donna Anna, Contessa oder Donna Elvira.

Was ist Ihrer Meinung nach günstig für den Beginn?
Das kann man so pauschal nicht sagen. Es liegt am Typus der Stimme. Für meinen Typ würde ich immer sagen: Belcanto ist gut. Sogar eine Arie wie «Casta Diva» ist besser als Mozart.

Wissen Sie, welche Rollen gut für Sie sind?
Ja. Aber ich frage immer meinen Lehrer, den schwedischen Tenor Karl Magnus Fredriksson. Ich habe zum Glück eine Stimme, die für viele unterschiedliche Frauentypen geeignet ist. Sogar bei größeren Partien habe ich es stets vermieden, meine Stimme künstlich größer zu machen.

Im Mai geben Sie Ihr Debüt an der Mailänder Scala, als Marietta in Korngolds «Toter Stadt». Die Partie verlangt einiges Stehvermögen ...
Ja, aber es ist eine überwiegend lyrische Partie mit Spinto-Anteilen. Außerdem verbinde ich mit Mailand eine der schönsten Erinnerungen. Es ist der Ort, an dem sich, vor vielen Jahren, meine Eltern kennengelernt haben, an der Scala-Akademie. Und eines weiß ich schon jetzt: Das Debüt wird das Sentimentalste sein, was ich je gemacht habe. Mein Vater ist vor zwei Jahren gestorben, da war ich schwanger. Und da wurde mir sofort klar: Ich will auf die Bühnen, auf denen er gestanden hat. Ich will an ihn erinnern.

Kann er Sie hören, dort oben auf der Himmelswiese?
Ich bin sicher, er singt in Gedanken mit, wenn ich die Bühne betrete (lacht). Dadurch habe ich die doppelte Energie.

Was ist der Unterschied zwischen einer Vater-Tochter-Beziehung und einer Mutter-Tochter-Beziehung?
Mütter sind das Leben. Väter die Liebe.

Das Gespräch führte Jürgen Otten