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Theaterfotografie #1

Mit Licht malen

Über das visuelle Bühnen-Gedächtnis

Von Florian Zinnecker

Die Zukunft seiner Zunft hatte der Fotograf Hans Böhm klar vor Augen: Szenenfotografien aus dem Theater, schwarz-weiß, gut belichtet, gestochen scharf, während der Probe aus dem dunklen Zuschauerraum heraus geschossen. Noch vor Kurzem war das undenkbar, aber jetzt, im Herbst 1924, machte die Dresdner Firma Ernemann Reklame für eine neuartige Kamera: die Ermanox, mit dem lichtstärksten Objektiv der Welt. Die Zukunft schien begonnen zu haben. «Früher», schrieb er, «wurden entweder die Darsteller ins Atelier des Photographen eingeladen und mußten dort mit Sack und Pack, mit ihren in Taschen und Koffern verpackten Kostümen und Perücken, mit Friseur und Garderobier erscheinen, oder aber der Photograph bemächtigte sich ihrer während der Generalprobe, gerade wenn sie am meisten nervös und abgespannt waren, und baute sie auf der Bühne zu einer möglichst malerischen Gruppe auf.» An ein authentisches Szenenfoto, das scharf war, ausreichend belichtet und nicht verwackelt, war nicht zu denken gewesen; zu schlecht waren sowohl die Fototechnik als auch die Lichtverhältnisse im Theater.

Aber nun: Von nun an würde sich der Fotograf mit seinem Apparat in die Loge setzen und seine Aufnahmen machen können, so Böhm, «ohne daß der Schauspieler auf der Szene auch nur eine Ahnung davon hat, daß er photographiert wird». Szenen, Momente, Augenblicke, so, wie das Publikum sie sieht, abgelichtet und von der Bühne auf Fotopapier übertragen.

Was in den 1920er-Jahren noch klang wie ein fernes Versprechen, gehört heute an kleinen wie an großen Bühnen zum Standard – und nicht erst, seit auch die Opernhäuser auch im deutschsprachigen Raum auf Internetseiten und in den sozialen Netzwerken, zuvorderst in Facebook und Instagram, präsent sind. Die Theaterfotografie ist wahrscheinlich die augenfälligste, gleichzeitig aber eine der am wenigsten beachteten Kunstformen im Opernbetrieb.

Der Großteil der Operngeschichte ist nicht fotografisch dokumentiert. Heute allerdings kann man ihre Bedeutung kaum überschätzen: Es ist die Arbeit der Theaterfotografen, die den Produktionen eines Opernhauses auch außerhalb des Hauses zu Aufmerksamkeit verhilft. Es ist die Arbeit der Theaterfotografen, die nach der Vorstellung und nach der Derniere einer Produktion bestehen bleibt, die Oper wenigstens optisch der Vergänglichkeit entreißt. Und es die Arbeit der Theaterfotografen, die Inszenierungen dokumentiert, wissenschaftliche Diskurse über die Ästhetik des Musiktheaters erleichtert, nicht zuletzt zeitgemäßes Marketing auf allen Kanälen ermöglicht. Musiktheater und Fotografie – sie haben ihrem Wesen und ihrer Entwicklung nach mehr gemein, als man zunächst denkt: als Medien der Überhöhung, Idealisierung, Überformung der Wirklichkeit zum Beispiel, als Illusionsmaschinen, die unseren Blick auf die Welt maßgeblich beeinflussen.

Genau einhundert Jahre vor der Erfindung des revolutionären Dresdner Fabrikats der Ermanox, im Spätsommer 1826, öffnete Joseph Nicéphore Niépce das Fenster seines Arbeitszimmers in Chalon-sur-Saône, einer Kleinstadt im Burgund, und machte ein Foto von der Aussicht. Dazu beschichtete er eine Zinnplatte mit lichtempfindlichem Asphalt und platzierte sie in einer Camera obscura – einer Box mit einem winzigen Loch in der Vorderseite. Die einfallenden Lichtstrahlen projizierten auf die Zinnplatte ein auf dem Kopf stehendes Bild der Welt draußen. Die Belichtungszeit: acht Stunden. Das Licht härtete den Asphalt aus, im Anschluss wurden die kaum belichteten, nicht ausgehärteten Partien mit Lavendelöl und Petroleum herausgelöst. Seit 1811 hatte Niépce experimentiert. Das Bild «La cour du domaine du Gras» ist nach heutigem Stand der Forschung die älteste erhaltene Fotografie der Welt.

Als einer der Ersten wurde darauf der Pariser Theatermaler Louis Daguerre aufmerksam. Sein Handwerk hatte er an der Pariser Oper gelernt, danach entwarf er Bühnenbilder für verschiedene Pariser Theater und gründete bald das erste öffentliche Diorama: eine abgedunkelte Schaubühne mit halbdurchsichtigem, beidseitig unterschiedlich bemaltem Prospekt, mit dem durch wechselnde Beleuchtung Bewegungen und Tageszeiten simuliert werden – eine Technik, die bis heute auch im Bühnenbild angewendet wird. Für die erstaunlich plastischen Bilder verwendete Daguerre als technisches Hilfsmittel ebenfalls eine Camera obscura. Aber er fand es problematisch, die projizierten Bilder im kleinen Format detailgenau abzumalen, um sie anschließend wiedergeben zu können. Er wollte die Bilder der Camera lieber gleich festhalten und stand mit seinem Kollegen Niépce in engem Austausch.

Wenig später erfand der Engländer William Talbot Fox mit Kochsalz und Silbernitrat ein Verfahren, um Fotografien vervielfältigen und von einem Negativ unendlich viele Positiv-Abzüge herstellen zu können. Anfang der 1850er-Jahre, gut zwei Jahrzehnte nach Niépces erster Fotografie, folgte die nächste Innovation: das «nasse Kollodiumverfahren», bei der eine Glasplatte mit extrem lichtempfindlicher Beschichtung belichtet wurde – nicht mehr stundenlang, sondern für Porträts nur noch zwei bis zwanzig Sekunden. Die Fotografie wurde praktikabel und populär, in ganz Europa eröffneten Fotoateliers, wer auf sich hielt, ließ sich porträtieren, in Räumen mit großen Fenstern oder Glasdecken, denn die Porträtaufnahmen mussten bei Tageslicht entstehen. In Theatern hatten zu dieser Zeit bereits Gasleuchten die bis dahin verbreiteten Kerzen und Öllampen abgelöst. Das Gaslicht flackerte zwar nicht, war aber diffus und konnte nicht die ganze Bühne gleichmäßig ausleuchten. Das Rampenlicht legte außerdem unschöne Schatten auf die Gesichter der Darsteller. Hier zu fotografieren – eine absurde Idee.

Gleichzeitig nahmen die Foto-Ateliers immer mehr Ähnlichkeit mit mittelklassigen Theatern an: Je populärer die Porträts, desto weniger Zeit blieb den Fotografen, sich auf die Menschen vor der Linse einzulassen, zur Abbildung des Charakters wurde versucht, die Porträtierten zu inszenieren. «Das Atelier des Photographen wird zur Requisitenkammer eines Theaters», schreibt die Fotohistorikerin Gisèle Freund, «in dem für alle beruflichen Rollen die passenden Charaktermasken bereitgestellt sind.» Die Hintergrundprospekte waren gemalt, Vasen, Säulen und andere Staffage bestand oft nur aus Pappmaché.

Die dankbarsten Kunden der Fotografen: Schauspieler und Sänger. Sie, die sich Abend für Abend der öffentlichen Meinung aussetzen mussten, hatten wenig Vorbehalte, sich fotografieren und damit auf Experimente einzulassen. «Der Künstler ist leicht geneigt, auch diese Neuigkeit kennenzulernen», schreibt Gisèle Freund, «denn Tradition und Vorurteil binden ihn weniger als die kleinbürgerlichen Massen, die zuerst mit Mißtrauen jede neue Errungenschaft der Technik betrachten und deren Widerstand erst weicht, wenn sie allgemein anerkannt sind.»

Für beide Parteien barg dieses Verhältnis großen Nutzen: für die Fotografen, weil die Schauspieler geduldig genug waren, um an ihnen neue Technik und neue Ideen auszuprobieren – und weil sich die Aufnahmen bestens für die Eigenwerbung im Schaukasten nutzen ließ. Und für die Schauspieler, weil sie die Chance auf eine fast objektive Spiegelung des eigenen Ausdrucks hatten, der über den Moment hinaus Bestand behielt.

Bald setzten sich zwei normierte Formate durch: Cabinet, 14 x 10 Zentimeter, aufgeklebt auf Fotokarton, und Carte-de-Visite, ein Kleinformat, 5,7 x 9 Zentimeter, bei dem eine Platte in vier Teile geteilt und diese nach und nach belichtet wurden – ein Bogen, vier Aufnahmen, jede zu einem Bruchteil des Preises. Alsbald zogen in die Ateliers Kameras mit vier Linsen ein, um das Verfahren weiter zu vereinfachen. Nun galt es, vier verschiedene Posen zu finden: für Normalbürger oft eine Herausforderung, für Bühnenkünstler eine Einladung. «Für die Theaterhistoriker sind die Serienaufnahmen von Bühnenkünstlern in Rolle eine wertvolle Bildquelle, da sie mehr als nur einen einzigen Moment, einen einzigen Ausdruck eines Rollenspiels erfassen. Es ist etwas über die Spielweise eines Darstellers, einer Darstellerin zu erfahren», schreibt die Theaterhistorikerin Claudia Balk. Für die Darsteller selbst erfüllten die Bilder in erster Linie einen profanen Zweck: Sie waren Arbeitsprobe für die Bewerbung an neuen Theatern und wurden mit handschriftlicher Widmung an Bewunderer verteilt. Die Autogrammkarte war erfunden.

Zur Uraufführung des «Rings des Nibelungen» bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876 fotografierte der bayerische Hoffotograf Joseph Albert alle Sänger in Kostüm und Maske. Auf Anordnung König Ludwigs II., wiederum nicht vom Zuschauerraum des Festspielhauses aus, sondern im Atelier, allerdings mit großem Aufwand und Teilen der Originaldekoration, um die Gegebenheiten auf der Bühne nachzuahmen.

Der technische Fortschritt lief währenddessen ungebremst weiter: 1887 ließ sich Hannibal Goodwin den transparenten, biegsamen Rollfilm aus Nitratzellulose patentieren, die Kamera-Verschlusstechnik wurde verbessert, mit dem Patent der «Goerz-Anschütz-Spreizenkamera» waren Belichtungszeiten von einer Tausendstel Sekunde möglich. Auch im Theater hielt der technische Fortschritt Einzug: 1882 präsentierte die Deutsche Edison-Gesellschaft auf der Elektrizitätsausstellung eine Theaterbeleuchtungsanlage mit der gerade neu erfundenen Kohlefadenglühlampe, 1885 verfügte das Münchner Residenztheater über die erste elektrische Bühnenbeleuchtung Deutschlands.

Um die Jahrhundertwende entstanden schließlich die ersten Bühnenfotografien: gestellte Aufnahmen, nicht bei authentischer Szenenbeleuchtung aufgenommen, sondern wie Gruppenfotos mit dem gesamten Ensemble und mit allen verfügbaren Lichtquellen. Parallel dazu florierte weiter das Geschäft mit Schauspieler- und Sängerporträts im Atelier – der einzig verlässliche, aber höchst beliebte Weg, Fotografien auch für die Presseberichterstattung zur Verfügung zu haben.

Eine Situation, die sich bald als ungenügend herausstellt, hatte doch der Bühnenbildner Adolphe Appia einen Paradigmenwechsel in der Bühnenästhetik eingeleitet. Appia war der fadenscheinigen Illusionskunst auf den Theater- und Opernbühnen überdrüssig, er hatte keine Lust mehr auf perspektivische, zweidimensionale Bühnenprospekte, die einen Raum nur so lange vorzutäuschen vermochten, bis ein Sänger die Bühne betrat und mit seiner naturgegeben dreidimensionalen Körperlichkeit die Illusion zerstörte. Statt der, mehr oder weniger wirklichkeitsgetreuen, Nachbildung der realen Welt war Appia an der Kreation eines künstlerisch angemessenen Raums gelegen. Nicht die Schauspieler sollten mehr im Fokus stehen, sondern das Werk – und die Absichten von dessen Schöpfer. «Wir wollen auf der Bühne die Dinge nicht mehr so sehen, wie wir wissen, daß sie sind», schrieb Appia, «sondern so, wie wir sie empfinden.»

Dies zu dokumentieren erschien gleich eine mehrfache Herausforderung. Die Theaterfotografie hinkte Appias Anspruch noch weiter hinterher als die Bühnenästhetik von Appias Zeitgenossen. Der nächste Quantensprung folgte in der Weimarer Republik – mit einer Werbeanzeige. «Nacht- und Innenaufnahmen ohne Blitzlicht! Sie können Photos im Theater während der Vorstellung machen – kurze Belichtungsdauer oder Momentaufnahmen, mit der Kamera Ermanox, klein, leicht zu bedienen und unauffällig.» Die Kamera mit dem lichtstärksten Objektiv der Welt, Fabrikat der Dresdner Firma Ernemann, begründete den Berufstand des Theaterfotografen im heutigen Sinne - und ermöglichte die Bühnenfotografie, wie sie bis heute praktiziert wird.

«Wenn man die Bühne liebt, so konnte man an photographischen Aufnahmen des Schauspielers auf der Szene bisher nicht viel Vergnügen finden», schrieb der Dramatiker Hugo von Hofmannsthal. «Dergleichen Aufnahmen in ihrer wachsfigurenhaften Starrheit verscheuchen sogar aus der Erinnerung das, was den eigentlichen Zauber der Bühne ausmacht: das zarte, ununterbrochene Fließen des mimischen Lebens. Man erkennt als die Wurzel dieses Gelingens das gleiche Element, das jedem künstlerischen Vollbringen beigemischt ist: die angespannteste Aufmerksamkeit, der es endlich gelingt, das Leben dort zu erfassen, wo es sich immer enthüllt, wenn der Sinn scharf genug ist, es dort aufzusuchen: im kaum mehr meßbaren Augenblick.»

Heute begnügen sich Opernhäuser längst nicht mehr allein mit Fotografien. Die Nutzung von Video und bewegten Bildern ist in den Presse-, Marketing- und Dokumentationsabteilungen längst über das Stadium erster Versuche hinaus. Und die Theaterfotografie wird sich zunehmend ihrer eigenen Geschichte bewusst: Zu Beginn der laufenden Saison etwa verbreitete die Komische Oper ein Foto der Künstlerin Karen Stuke über die Fotoplattform Instagram: Es zeigt eine Vorstellung der «Meistersinger von Nürnberg» in der Inszenierung von Andreas Homoki. Stuke fotografierte mit einer Camera obscura, die Belichtungszeit entsprach der Dauer des Stücks. Ein Verfahren aus dem vorvergangenen Jahrhundert, ausgeführt mit technischen Mitteln von heute.