Doppelleben

Kirill Petrenko befreit Strauss‘«Elektra» in Baden-Baden vom Klischee des Symphonischen, Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn liefern nicht mehr als eine dekorative Skizze

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Natürlich, der Text! Anders als beim «Rosenkavalier» und den darauf folgenden Opern hat Hugo von Hofmannsthal seine «Elektra» nicht für Strauss geschrieben, sondern für die Schauspielerin Gertrud Eysoldt. Der Text wartet nicht auf Musik. Er kämpft sich autonom vorwärts, was Klang, Rhythmus und Kraft betrifft. Er fordert neue Extreme der Empfindung. Es ist Hofmannsthals erster größerer Versuch nach der Krise des Chandos-Briefes, in dem er die Sprache grundsätzlich infrage stellte.

Wie Hofmannsthal in der «Elektra» Klang und Körper zusammendenkt, das hat niemand genauer beschrieben als Gertrud Eysoldt, nachdem sie den Text zum ersten Mal gelesen hatte. Sie sei «furchtbar erschrocken», schrieb sie dem Dichter: «Ich werde furchtbar leiden. Mir selbst möchte ich entfliehen. Ich entsetze mich. Ich wehre mich – ich fürchte mich.»

Selbst in glänzenden Aufführungen von «Elektra» als Oper ist dieser Text nur teilweise zu verstehen. Das liegt nicht nur an der Klangbalance und dem riesigen, mehr als hundertköpfigen Orchester, dessen Instrumente sich zudem seit der Uraufführung verändert haben. Es liegt auch daran, dass Strauss den Text oft in musikalische Gestik überhöht, übersteigert und auflöst. Die drei Sängerinnen von Elektra, Chrysothemis und – mit einigem Abstand – auch Klytämnestra brauchen all ihre Stimmenergie, um den klanglichen Verlauf so prägen zu können, wie Strauss es fordert. Deshalb klingt es zunächst einmal wie eine gute Idee, dass Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn bei der neuen «Elektra» in Baden-Baden den Text als entscheidenden Teil ihrer Inszenierung nutzen. In einem nüchtern-eindrucksvollen Treppenraum, der sich zum Bunker zusammenschieben, aber auch wie eine Ziehharmonika auseinanderfalten lässt, wird nonstop der gesungene Text projiziert: einzeilig, mehrzeilig, absatzweise, immer typografisch flexibel. Über 100 Video-Cues sorgen dafür. Eine Zeitlang liest man mit, folgt dann aber doch den zusätzlich angebotenen Übertiteln. Denn schnell zeigt sich, dass die Bewegung des Textes im Missverhältnis steht zur Hilflosigkeit und Statik des sonstigen Arrangements. Vom berstenden Innenleben der Figuren, von psychologischer Tiefenschärfe ist rein gar nichts zu sehen. Wirkungsvoll hindrapiert sieht diese «Elektra» aus, klischeehaft von den leuchtend roten Haaren der Titelfigur über die Krücke des Orest bis zu den Schürzen der Mägde. Nicht einmal eine szenische Skizze mag man sie nennen. Wenn Peter Sellars oder Peter Konwitschny den Text als Bestandteil ihrer Inszenierungen gezeigt haben, war das mit ästhetischen Brüchen verknüpft, mit Brecht, mit verweigerten Bildern. Bei dieser «Elektra» breitet sich der Text nur als Teil der Dekoration aus.

Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker tun alles dafür, um ihn akustisch so weit wie möglich verständlich zu halten. Bei aller klanglichen Härte bleibt die Balance doch stets gewahrt und ist die Phrasierung aufs Äußerste geschärft. Dass Strauss punktuell komponiert, oft pointillistisch zuspitzt und den Sprachbildern des Textes folgt, kommt überwältigend detailreich heraus. Wie letztes Jahr «Die Frau ohne Schatten» wird nun auch «Elektra» vom Klischee des Symphonischen befreit. Teils experimentell, teils selbstsicher blitzen die Farben. Strauss als Zeitgenosse des mittleren Schönberg ist mit Ohren zu greifen. Bisweilen nimmt sich Petrenko erstaunlich viel Zeit. Das ist keine «Elektra» des theatralen Rausches, sondern eine der kühlen, gleichwohl bewusst ausgekosteten musikalischen Gesten. Es geht weniger um psychotisch aufgeheizte Zustände als vielmehr um das, was schon die frühe Strauss-Forschung »visuelle Klanglichkeit« nannte.

Zu Nina Stemmes stimmlich voluminös ausladender Elektra stellt das einen reizvollen Kontrast dar. Es entsteht ein Wechselspiel, auf das sich Sängerin und Dirigent lustvoll einlassen. Wenn sich diese Riesenstimme zurücknimmt, eifert das Orchester darum, ein noch weicheres piano hinzubekommen. Wenn sie klangsatte Legato-Bögen ausbreitet, schießen Orchesterakzente wie Pfeile dazwischen. Auch hier zählen klingende Plastizität und Präzision, keineswegs ein identifikatorischer Rausch. Johan Reuter lädt die kurze, aber zentrale Partie des Orest mit verhaltener Inten -sität auf, arbeitet mit Sprachklang und vokaler Klangverdichtung. So entsteht emotionale Vielschichtigkeit selbst dort, wo die Regie sich auf den Effekt des stufensteigenden Kriegskrüppels verlässt. Michaela Schuster, eine erfahrene Klytämnestra, tut was sie kann, um Abgründe mit stimmlichen Mitteln zu beglaubigen. Und doch spürt man: In einem anderen Umfeld könnte viel mehr sein. Chrysothemis fällt nicht nur szenisch ab. Hofmannsthal hat sie keineswegs nur als helle Schwester der Elektra angelegt, und obwohl in der Oper viel von ihrem Text fehlt, fängt Strauss die Komplexität genau ein. Nur erwartet er die Mitarbeit der Sängerin. Eine Passage wie «Mit Messern gräbt Tag um Tag in dein und mein Gesicht sein Mal» gehört zu den avanciertesten der Partitur. Elza van den Heever singt glatt darüber hinweg, trifft weder die Traumata noch das humane Sehnsuchtsleuchten der Figur, bleibt damit weit hinter großen Rollenvertreterinnen zurück.

Die kleineren Partien sind, wie oft in Baden-Baden, wechselhaft besetzt. So bleibt trotz des optischen Overkills des Textes kaum etwas vom Entsetzen oder Erschrecken, das Gertrud Eysoldt empfand. Niemand möchte sich selbst entfliehen. Gefeiert wurde eine opulente Festspielpremiere. Wenn sie etwas von Querständigkeit hat, dann ist das allein dem Orchester und seinem Chefdirigenten zu verdanken. ___

Strauss: Elektra BADEN-BADEN | FESTSPIELHAUS Premiere: 23. März 2024
Musikalische Leitung: Kirill Petrenko
Inszenierung: Philipp Stölzl, Philipp M. Krenn
Bühne und Licht: Philipp Stölzl
Kostüme: Kathi Maurer
Video: Judith Selenko, Peter Venus
Chor: Lukás Vasilek
Solisten: Michaela Schuster (Klytämnestra), Nina Stemme (Elektra), Elza van den Heever (Chrysothemis), Johan Reuter (Orest), Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Aegisth) u. a. 
www.festspielhaus.de


Opernwelt Mai 2024
Rubrik: Im Focus, Seite 4
von Stephan Mösch

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