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Wohnungen des Teufels?

Theater, Religion und Seuche

Die Expertise für das epidemische Geschehen lag nie allein in den Händen der Medizin und Heilkunst, sondern auch bei jenen, die mit den Göttern kommunizierten und deren unergründlichen Willen auslegten. Bereits Sophokles’ Oedipus befragt das Orakel, um in existenzieller Bedrohung den Götterwillen für das pestverseuchte Theben zu ergründen. Für die europäische Theatergeschichte am folgenreichsten sind die antitheatralen Einlassungen der Kirchenväter von Tertullian über Chrysostomos bis hin zu Augustinus. Die Spektakel sehen sie als «Tummelplatz der Unzüchtigkeiten», als «Babylonische Öfen», als «Wohnungen des Teufels» und natürlich auch als «Sitz von Seuchen» (cathedram pestilentiarum). Ihre theologischen Invektiven gegen die öffentlichen Vergnügungen allgemein und die Schauspielkunst im Besonderen zielen nicht nur auf den Schutz von Leib und Seele der christlichen Gemeinschaft gegen die Versuchungen des Teufels und die Abgötterei, sondern immer auch auf die Bewahrung der Reinheit und Exklusivität der Verbindung zu Gott im Ritus.

Mit der Etablierung dauerhaft eingerichteter («stehender») Theater für urbane Öffentlichkeiten in der Frühen Neuzeit wird der anti-theatrale Impuls erneut entfacht. Gerade die protestantische Geistlichkeit weiß sich hier zu profilieren. Lutheraner, Calvinisten, Puritaner, Pietisten und jene, die sich mit ihnen assoziieren (wie der Salon-Calvinist Rousseau), lassen überall in Europa ganze Bibliotheken theaterfeindlicher Literatur entstehen, die einen reichen Fundus präventionstheoretischer Überlegungen in sich bergen. In London, der ersten Theatermetropole der europäischen Neuzeit, führte dieses Präventionswissen dazu, dass die Theater während aufflammender Pestepidemien (1563, 1577, 1584, 1603/04) regelmäßig auf staatliche Anweisung hin geschlossen bleiben mussten – wohingegen Gottesdienste und andere Versammlungen erlaubt bleiben.

Der Grund für die Ungleichbehandlung lag darin, dass das Theater als mitursächlich für die Heimsuchung durch die Pest gesehen wurde. Der double-bind dieser Maßnahme wird in einer Eingabe der Kaufmannschaft an den Kronrat (Privy Council) aus dem Jahr 1584 deutlich: «To play in plague-time is to increase the plague by infection: to play out of plague time is to draw the plague by offendings of God upon occasion of such plays.» (Frank O. Wilson, The Plague in Shakespeare’s London) Die Argumentation steht in einem umfassenderen antitheatralen Zusammenhang protestantischer Theaterfeindlichkeit. So heißt es etwa in einer Predigt von Thomas Wilcox in St. Paul’s aus dem Pest-Jahr 1577 über den moralischen Kausalzusammenhang von Theater und Pest: «the cause of plagues is sin, if you look to it well: and the cause of sin are plays: therefore the cause of plagues are plays.» (ebd.) Auch der berühmtberüchtigte puritanische Gelehrte William Prynne betonte ein halbes Jahrhundert später in seiner dickleibigen theaterfeindlichen Schrift «Histrio-Mastix» (1633) den kontagiösen Zusammenhang von Theater und Pest, wenn er die Zuschauer charakterisiert als «many in number, contagious in quality, more apt to poison, to infect all those who dare approach them, than one who is full of running Plague-sores.» Der Ausschluss vom Abendmahl und die Verweigerung eines christlichen Begräbnisses für Schauspieler und Schauspielerinnen gehörten zum Maßnahmenpaket der Kirche gegen die Ansteckung.

Den gesamten Beitrag von Jan Lazardzig lesen Sie in Theater heute 12/20